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Verkehr 1. März 2025

Von den Franzosen lernen
von Paul Michel

Immer mehr Kommunen klagen über knappe Kassen. Weil das Geld fehlt, werden Bus- und Bahnangebote reduziert: Takte werden ausgedünnt, manche Linien am Wochenende gestrichen, andere ganz eingestellt. Geplante Anschaffungen von Bussen und Straßenbahnen werden storniert, bestehende Planungen auf Eis gelegt. Gleichzeitig erhöhen viele Verkehrsbetriebe die Fahrpreise.

Betroffen sind vor allem Städte im Osten der Republik wie Potsdam, Dresden oder Chemnitz, aber auch Berlin und Köln. Sogar in wohlhabenden Bundesländern wie Baden-Württemberg und Bayern kommt es zu drastischen Einsparungen im ÖPNV: Heidelberg und Karlsruhe wollen kürzen. Auch Nürnberg plante Kürzungen von 1,4 Millionen, reduzierte die Summe nach Protesten aber auf 800.000 Euro.
Regelmäßig formulieren Bürgermeister Appelle an Bund und Länder, die Kommunen finanziell besser auszustatten. Diese Appelle werden jedoch nicht mit allzu großem Nachdruck vorgetragen. Wenn die Kolleginnen und Kollegen in Bund und Ländern auf ihre eigenen »Sachzwänge« verweisen, fällt den Bürgermeistern meist nicht mehr viel ein. Ihr politischer Horizont ist in der Regel von den Scheuklappen des neoliberalen »Sachzwangs« und der bürgerlichen »Staatsraison« eingeengt.
Dabei sind die für die Sparpolitik bemühten Gründe nicht »naturgegeben«. Die finanziellen Mittel zur Lösung der allseits beklagten finanziellen Engpässe sind in einer reichen Gesellschaft wie der bundesdeutschen grundsätzlich vorhanden. Was fehlt ist der politische Wille, die Mittel dort zu holen, wo sie sind.

Von den Nachbarn lernen
Im Nachbarland Frankreich sieht es zwar in vielerlei Hinsicht politisch eher düster aus, doch in Sachen Nahverkehr gibt es erstaunlich viele positive Nachrichten.
Seit Dezember 2023 müssen etwa die 300.000 Einwohner von Montpellier nichts mehr für den Nahverkehr bezahlen. Dort wurde der Nulltarif eingeführt. Damit ist Montpellier die größte französische Stadt mit Nulltarif im ÖPNV. Es löst Dünkirchen ab, wo bereits im September 2018 das Fahren ohne Ticket eingeführt wurde. »Die Leute wieder in die Busse bringen«, lautete hier das offizielle Ziel.
Schon wenige Monate nach Einführung des kostenlosen Nahverkehrs sank die Zahl der Autofahrten. Die Hälfte der Befragten sagte, sie würden nun viel öfter den Bus nutzen als zuvor. Etwa 5 Prozent äußerten sogar, sie hätten aufgrund der kostenlosen Busse entweder ihr Auto verkauft oder sich gegen den Kauf eines zweiten Autos entschieden.
Andere französische Kommunen berichten von ähnlichen Entwicklungen. 2024 boten über dreißig französische Städte den öffentlichen Nahverkehr komplett kostenlos an.

Finanzierung des Nulltarifs
Diese Erfolgsgeschichte steht in engem Zusammenhang mit dem »Versement Transport«, der französischen Nahverkehrsabgabe.
Diese Steuer entstand 1971 aus einem Pilotprojekt in Paris und wurde 1973 auf die Provinzen ausgeweitet. Die Einnahmen aus der Transportsteuer müssen von den Gemeinden zweckgebunden zur Finanzierung des ÖPNV verwendet werden. Es steht ihnen jedoch frei, ob sie damit den laufenden Betrieb finanzieren oder die Mittel für Investitionen aufwenden.
Alle französischen Gemeinden mit mehr als 20.000 Einwohnern haben die Möglichkeit, diese Abgabe einzuführen. Alle öffentlichen und privaten Arbeitgeber mit elf oder mehr Beschäftigten sind von der Abgabe betroffen. Die Höhe der Abgabe kann innerhalb bestimmter Grenzen von der Kommune selbst festgelegt werden.
Für Gemeinden mit weniger als 100.000 Einwohnern liegt der Höchstsatz bei 0,55 Prozent, für Gemeinden, deren Einwohnerzahl darüber liegt, bei 1,05 Prozent der Lohnsumme je beschäftigte Person. Wird ein Eisenbahnsystem auf einer eigenen Trasse angeboten oder sind Baumaßnahmen für ein solches System geplant, kann die Verkehrsabgabe auf bis zu 1,75 Prozent der Lohnsumme angehoben werden. Als eigene Trasse gelten schienengebundene Systeme wie U-Bahnen, Straßenbahnen, aber auch Busse. Einzige Ausnahme ist die Region Paris, wo der Steuersatz derzeit 2,6 Prozent beträgt.
Nahezu alle berechtigten französischen Kommunen ab einer Einwohnerzahl von 20.000 machen inzwischen von dieser Möglichkeit Gebrauch. Sie hat sich mittlerweile zu einer zentralen Finanzierungssäule des ÖPNV in den Städten entwickelt. Im Jahr 2021 machte die Nahverkehrsabgabe mit rund 9 Milliarden Euro fast die Hälfte des Budgets der kommunalen Verkehrsverbünde aus und war damit deren wichtigste Einnahmequelle.

Renaissance der Straßenbahn
»Die finanziellen Möglichkeiten, die den ÖPNV-Aufgabenträgern mit dem ›Versement Transport‹ zur Verfügung stehen, sind sicherlich ein ganz entscheidender Impuls für die Renaissance des schienengebundenen Nahverkehrs in Frankreich«, schreibt der Verkehrsexperte Christoph Groneck.
1970 gab es in ganz Frankreich nur noch drei Städte mit einem Straßenbahnnetz. Mit den Einnahmen konnten in allen französischen Großstädten, die die ÖPNV-Abgabe einführten, neue oberirdische Straßenbahnsysteme gebaut werden.
Die Geburtsstunde der modernen französischen Straßenbahn schlug Anfang der 1980er Jahre. 1983 wurde in Saint Etienne die erste französische Straßenbahn nach dem Zweiten Weltkrieg in Betrieb genommen. Es folgten bald drei Straßenbahnnetze in Nantes, Grenoble sowie in den Pariser Vororten Saint-Denis und Bobigny.
1984 wurde mit der Einführung der Straßenbahn in Straßburg ein richtungsweisendes System geschaffen, das national und international große Anerkennung fand. Es sei gelungen, schreibt Christoph Groneck, die Straßenbahn perfekt in das städtische Umfeld zu integrieren.
Straßburg wurde zum Vorbild für zahlreiche andere französische Städte, die seitdem neue Straßenbahnsysteme eingeführt haben. Seit Jahren gelten sie als Vorbild in vielen Ländern der Welt. Nur im Autoland Deutschland scheint sich das noch nicht herumgesprochen zu haben.
Es gibt allerdings keinen Grund, Frankreich zu idealisieren. Die positive Entwicklung des ÖPNV gilt vorwiegend für die Städte. In den ländlichen Regionen ist der ÖPNV nach wie vor dramatisch unterentwickelt.

Bestandteil der Mobilitätswende
Eine Nahverkehrsabgabe wie das »Versement Transport« ist sicherlich kein Allheilmittel für die Verkehrswende. Sie packt jedoch ein zentrales Problem an: die Unterfinanzierung des ÖPNV.
Mit einer derartigen Abgabe wäre die Anschaffung neuer Straßenbahnen und Busse, die Einstellung zusätzlicher Fahrer:innen und eine deutliche Verbesserung der Fahrpläne finanzierbar.
Eine solcheAbgabe würde zudem nicht die breite Mehrheit der Bevölkerung belasten, sondern Betriebe und Unternehmer. Eine Nahverkehrsabgabe wie in Frankreich hätte wohl auch in der BRD das Zeug zu einer populären Forderung im Kampf um eine Mobilitätswende.
Im Autoland Deutschland fehlt es bisher jedoch an Akteuren, die das Thema offensiv aufgreifen. Für die Partei Die Linke wäre dies eine Möglichkeit, in der Verkehrspolitik mit leicht verständlichen und nachvollziehbaren Vorschlägen zu punkten. Sie würden einen Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels leisten und – anders als das 58-Euro-Ticket – den sozialen Anliegen breiter Bevölkerungsschichten Rechnung tragen.

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