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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2025

Finanzielle Not, soziale Ungleichheit und psychische Belastung
von Nele Johannsen

Studieren wird in Deutschland oft als vergleichsweise günstig betrachtet: keine hohen Studiengebühren wie in den USA oder Großbritannien, zahlreiche staatliche Universitäten und finanzielle Fördermöglichkeiten. Der Schein trügt jedoch: Immer mehr Studierende geraten in finanzielle Notlagen und müssen neben dem Vollzeitstudium arbeiten oder sich verschulden, um über die Runden zu kommen.

Die Vorstellung vom unbeschwerten Studierendenleben trifft auf einen großen Teil nicht zu. Stattdessen wird das Studium, das eigentlich eine Phase des Lernens und der intellektuellen Entwicklung sein sollte, für viele junge Menschen zunehmend zum Drahtseilakt zwischen Hörsaal und Existenzkampf – mit Folgen für den Studienerfolg und die psychische Gesundheit.
Eigentlich soll das Bundesausbildungsförderungsgesetz, kurz: BAföG, junge Menschen aus einkommensschwachen Haushalten unterstützen. Viele Studierende, die die Förderung eigentlich nötig hätten, gehen dabei jedoch leer aus. Wurden in den 70er Jahren noch 40 Prozent der Studierenden mit BAföG unterstützt, waren es 2023 nur noch 12,5 Prozent.
Den vollen Satz erhält nur etwas mehr als die Hälfte. Im Schnitt bekommen BAföG-Beziehende gerade mal 640 Euro monatlich. Das Problem: Die Berechnung basiert auf dem Einkommen der Eltern. Viele liegen offiziell zwar über der BAföG-Grenze, können ihre Kinder aber aufgrund von Schulden oder anderen finanziellen Verpflichtungen dennoch nicht unterstützen.

Studienfinanzierung auf Pump
Seit 1990 muss die Hälfte der BAföG-Leistungen bis zu einem Maximum von 10.000 Euro zurückgezahlt werden. Geförderte Studierende starten teilweise also schon mit Schulden ins Berufsleben.
Noch härter trifft es jene, die beim BAföG leer ausgehen und auf den Studienkredit der Kreditanstalt für Wiederaufbau zurückgreifen müssen – eine Entscheidung mit bitteren Folgen. Der variable Zinssatz lag 2023 bei 9 Prozent. Inzwischen ist er gesunken, beträgt aber immer noch 7Prozent.
Vor der Schuldenfalle warnt inzwischen auch das Deutsche Studierendenwerk (DSW). Matthias Anbuhl, Vorsitzender des DSW, bezeichnet den Kredit zurecht als »sozialpolitischen Skandal«. Allerdings bleibt vielen keine andere Wahl – denn ohne verlässliches Einkommen werden Studierenden andere Kredite meist verwehrt. Da die Rückzahlung teilweise noch während des Studiums ansteht, müssen einige das Studium abbrechen oder Privatinsolvenz anmelden.
Tim Schubert erzählt in einer Reportage der Hessenschau, er habe sein Medizinstudium über den Studienkredit finanziert und stehe jetzt vor einem Schuldenberg von mehr als 40.000 Euro – davon 15.000 Euro allein an Zinsen.

Die Miete belastet massiv
Der größte Kostenfaktor für Studierende ist die Miete: Eine Studie des Statistischen Bundesamts (Destatis) aus 2023 ergab, dass Studierende mit eigener Haushaltsführung mehr als die Hälfte ihres Einkommens für sie aufwenden, wodurch knapp zwei Drittel finanziell überlastet sind. Ein Grund dafür ist auch der mangelnde Platz in bezahlbaren Studierendenwohnheimen – günstiger Wohnraum ist rar.
Laut einer Studie des Moses-Mendelssohn-Instituts fallen für die Miete im Durchschnitt 479 Euro monatlich an, in Großstädten weit mehr. In Hamburg liegt die monatliche Durchschnittsmiete für ein WG-Zimmer bei 610 Euro, in Berlin bei 650 Euro und in München sogar bei 760 Euro. Beim BAföG werden fürs Wohnen jedoch nur 380 Euro angesetzt. Dieser Umstand wirkt sich direkt auf die Wahl des Hochschulstandorts aus und verschafft finanziell besser gestellten Studierenden einen klaren Vorteil.

Eine neue Form der sozialen Auslese
Die Studie zeigt zudem eine noch alarmierendere Entwicklung: Während 25 Prozent finanziell gut abgesichert sind, gilt mehr als ein Drittel aller Studierenden als armutsgefährdet, bei allein oder in Wohngemeinschaften Lebenden steigt dieser Anteil sogar auf 77 Prozent. Die Hälfte der Studierenden mit eigener Haushaltsführung hat im Monat weniger als 867 Euro zur Verfügung – und liegt damit weit unter der Armutsgrenze von 1314 Euro.
Auch der aktuelle BAföG-Höchstsatz von 992 Euro ist unzureichend und hält nicht mit der Inflation schritt. Die Förderung reiche häufig nicht zum Leben, es drohten immer mehr Studienabbrüche aus Geldmangel, sagt Anbuhl. Ein deutlicher Beleg für die zunehmende soziale Spaltung unter Studierenden.
2024 entschied das Verwaltungsgericht Berlin nach der Klage einer Studentin, dass die BAföG-Sätze das Existenzminimum nicht sichern, und verwies den Fall an das Bundesverfassungsgericht. Hier folgte ein ernüchterndes Urteil: Studierende hätten keinen verfassungsrechtlichen Anspruch auf eine staatliche Existenzsicherung, und die Höhe des BAföG liege allein im Ermessen des Gesetzgebers – auch wenn es unter dem Existenzminimum bleibt.
Damit wurde juristisch fixiert, dass Studierende nicht mit Sozialleistungsbeziehenden gleichgestellt werden und sich ihren Lebensunterhalt prinzipiell selbst finanzieren müssen – sei es durch elterliche Unterstützung oder durch Erwerbsarbeit.
Das Urteil verstärkt dadurch die soziale Ungleichheit: Studieren wird zunehmend zum Privileg für jene, die es sich leisten können. »Wir erleben mittlerweile eine neue Form der sozialen Auslese«, warnt das DSW.

Wer studieren will, muss schuften
Da die staatliche Unterstützung nicht reicht, arbeiten laut einer Studie von jobvalley aus dem Jahr 2023 fast 70 Prozent der Studierenden neben dem Studium. Erlaubt sind 20 Wochenstunden in der Vorlesungszeit, 40 in den Semesterferien. Damit soll sichergestellt werden, dass das Studium die »Hauptbeschäftigung« bleibt.
Zwanzig Stunden die Woche arbeiten, dazu Vorlesungen besuchen und lernen – für Selina und ihren Partner ist das die Realität. In einer 37-Grad-Reportage berichtet sie, dass finanzielle Sorgen »80, 90 Prozent« ihrer Gedanken ausmachen, während andere durch die Familie finanziell abgesichert sind und Freizeit genießen. »An der Uni gibt es eine Zweiklassengesellschaft«, sagt sie.
Dies bestätigen auch die Ergebnisse der 22.Sozialerhebung: Im Durchschnitt arbeiten Studierende 15 Stunden pro Woche und wenden 35 Stunden für ihr Studium auf. Das entspricht einer Arbeitsbelastung, die über eine klassische Vollzeitstelle hin­ausgeht – ohne die entsprechende finanzielle und soziale Absicherung.
Matthias Anbuhl bewertet diesen Trend als kritisch, denn es schade dem Studienerfolg, mehr als zehn Stunden pro Woche zu arbeiten. Dies sei auch in bezug auf den Studienverlauf problematisch, denn nur ein Drittel der Studierenden schaffe das Studium in der Regelstudienzeit.
Die Förderhöchstdauer des BAföG ist jedoch an die Regelstudienzeit gebunden – da hilft auch das kürzlich von der Bundesregierung eingeführte »BAföG-Extrasemester« nicht viel.

Wenn Studieren krank macht
Die Doppelbelastung von Arbeit und Studium ist ein Teufelskreis aus Zeitmangel, Überforderung und Existenzängsten. Das hinterlässt Spuren. Laut dem TK-Gesundheitsreport 2023 zeigt ein Drittel der Studierenden Burnout-Symptome. Die Zahl der Studierenden, die Antidepressiva nehmen, ist seit 2019 um 30 Prozent gestiegen. »Wir haben im deutschen Hochschulsystem eine Mental-
Health-Krise«, warnt Anbuhl. Die psychologischen Beratungsstellen der Studierendenwerke sind überlastet.
Dass Studierende immer stärker finanziell unter Druck geraten, während der Staat sie nur unzureichend unterstützt, verstärkt die soziale Ungleichheit. Denn über den Bildungserfolg, das ist nichts Neues, entscheidet vor allem die soziale Herkunft.
Kinder von Akademiker:innen nehmen nicht nur häufiger ein Studium auf, sie profitieren dabei auch von besseren Bedingungen, sei es durch die finanzielle Unterstützung der Eltern, den Zugang zu Netzwerken oder eine größere Planungssicherheit. Folglich schließen sie ihr Studium auch häufiger erfolgreich ab, während Studierende aus nichtakademischen Familien öfter abbrechen oder länger studieren müssen.
Das BAföG muss daher dringend reformiert werden. Eine elternunabhängige Förderung wäre notwendig, um sich der Chancengleichheit wenigstens anzunähern. Das DSW fordert zumindest eine regelmäßige Anpassung an Inflation und Mieten, um die finanzielle Belastung für Studierende zu senken. Ebenso müsste unbedingt bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden, etwa durch den Bau neuer Studierendenwohnheime.
Bildung ist eine Investition in die Zukunft, doch der Staat überlässt diese Investition den Studierenden selbst.

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