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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2025

Der Aufstieg der Partei von Geert Wilders in den Niederlanden
von Alex de Jong

Als Begründung, warum er sich im Bundestag bei seinem Migrationsantrag auf die Stimmen der AfD stützte, verwies Friedrich Merz auf die Niederlande als Beispiel für ein Land, das versucht, die Einwanderung zu stoppen. Die Niederlande haben ihr »liberales« und »tolerantes« Selbstverständnis aufgegeben, die Rechtsextremen sind an der Macht und bekommen immer mehr Zulauf. Wie sind sie dahin gekommen?

Bei den Parlamentswahlen im November 2023 erhielt die rechtsextreme Partei für die Freiheit (PVV) von Geert Wilders fast ein Viertel der Stimmen und wurde die stärkste Partei. Im Juli 2024 trat sie in die Regierungskoalition ein und übernahm zum ersten Mal seit ihrer Gründung im Jahr 2006 eine Regierungsrolle.
Um den Aufstieg der Rechtsextremen in der niederländischen Politik zu erklären, verweisen Kommentatoren gewöhnlich auf den stürmischen Aufstieg der Partei des islamophoben Pim Fortuyn. Nach dessen Ermordung durch einen Umweltaktivisten im Mai 2002 zog sie mit 17 Prozent der Stimmen ins Parlament ein. Die Partei zerfiel schnell, und die Geschichte der Rechtsextremen dreht sich seither weitgehend darum, wer das »Erbe von Pim« für sich beanspruchen kann.
Fortuyns Aufstieg kam überraschend, viele haben versucht ihn zu erklären. Zwei Ansätze sind besonders einflussreich geworden: Der erste erklärt den Erfolg seines politischen Projekts weitgehend mit seiner »Genialität«. Die Geschichte geht so: »Das niederländische Volk war unzufrieden, wurde aber von arroganten, abgehobenen Politikern vernachlässigt. Da trat Pim Fortuyn auf und machte sich zum Anwalt der vernachlässigten Massen.« Der Grund für die Misere: die Anwesenheit von Migranten, insbesondere von Muslimen. Politiker der Mitte sprechen von »Integrationsproblemen«, PVV-Politiker fordern unverblümt die »Entislamisierung des Landes, Block für Block, Straße für Straße«.
Der zweite Ansatz leitet die »Wut der Niederländer« aus dem Niedergang der niederländischen Mitte-Links-Parteien, insbesondere der sozialdemokratischen PvdA ab. Diese hat angeblich einmal die wirtschaftlichen Interessen von Arbeiter:innen in prekären Verhältnissen vertreten. Doch in den 90er Jahren, als sie in einer Koalition mit der rechtsliberalen VVD regierte, entfremdete sich die PvdA von dieser Wählerschaft. Aus Protest wandten sich diese Arbeiter:innen deshalb der extremen Rechten zu.

Halbe Wahrheiten
Beide Narrative enthalten ein Körnchen Wahres, erzählen aber nur die halbe Wahrheit. Fortuyns Aufstieg etwa ist darauf zurückzuführen, dass er ein lange bestehendes linkes Tabu brach. Ein wichtiger Ausgangspunkt für Fortuyns politische Karriere war die konservativ-liberale Zeitschrift Elsevier, für die er regelmäßig eine Kolumne verfasste.
Im Jahr 1999 schrieb einer der Redakteure: »Die 90er Jahre waren für viele in den Niederlanden eine Zeit des Wohlstands und der angenehmen Veränderungen.« Der Chefredakteur von Elsevier verkündete den Sieg des Liberalismus und begrüßte die »radikale Entpolitisierung« der niederländischen Gesellschaft, die es von nun an jedem erlaube, sein einzigartiges individuelles Selbst zu sein, unbehelligt von der Politik.
Eine Selbsttäuschung der liberalen Ideologen? Um 1980 hatten kaum 50 Prozent der Niederländer Vertrauen in das demokratische Funktionieren des Landes – zwanzig Jahre später waren es bereits über 80 Prozent. Die Wirtschaftsindikatoren schienen den Optimismus zu rechtfertigen; die Arbeitslosigkeit ging drastisch zurück, 2002 war die Wirtschaft im Vergleich zu 1994 um 25 Prozent gewachsen. Die offensichtliche Diskrepanz zwischen dem sonnigen Optimismus der 90er und der dramatischen Wut von Fortuyns Anhängern veranlasste einige Mitte-Links-Kommentatoren zu einer noch stärkeren Betonung seiner angeblichen Genialität: Er hatte es geschafft, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie wütend sein sollten, obwohl sie keinen wirklichen Grund dafür hatten!
Die zweite Geschichte impliziert einen direkten Zusammenhang zwischen dem Niedergang der Linken und dem Aufstieg der extremen Rechten. 1999 ging die Hälfte der Parlamentssitze noch an die linken Parteien, seither verlieren sie ungleichmäßig, aber stetig. Aber nicht nur die Linke ist geschrumpft; die christdemokratische CDA, einst eine der wichtigsten Parteien des Landes, ist auf fünf Sitze abgestürzt. Warum wird da der Aufstieg der Rechtsextremen auf wütende, ehemals linke Arbeiter zurückgeführt und nicht auf die Radikalisierung aufrechter Konservativer?
Letzteres macht mehr Sinn: Umfragen zeigen, dass die Wähler:innen in der Regel zwischen Parteien auf derselben Seite des politischen Lagers wechseln, anstatt von links nach rechts.
Es bleibt richtig, dass ein Teil der niederländischen Wählerschaft von den traditionellen Parteien im Stich gelassen wurde. In den 90er Jahren war die Sozialdemokratie fast nicht mehr von ihren liberalen Koalitionspartnern zu unterscheiden. GroenLinks, die Fusionspartei der Linken, zu der auch die KP gehörte, orientierte sich bewusst an Studierenden und gut ausgebildeten Fachkräften als Basis für ihren selbsternannten »progressiven Liberalismus«. Die parlamentarische Linke wandte sich vor allem von Arbeiter:innen mit geringer Schulbildung und schlecht bezahlten Tätigkeiten ab. Es ist kein Zufall, dass diese Merkmale nun die Unterstützer:innen der Rechtsextremen auszeichnen.

Nationalsozial
Wilders hat dies inzwischen verstanden. Als er die PVV gründete, basierte ihr Wirtschaftsprogramm noch auf einer extremen Variante der freien Marktwirtschaft (Abschaffung des Mindestlohns, drastische Kürzungen im Bereich der sozialen Sicherheit usw.). Einige Jahre später begann die PVV, soziale Sicherheit und stabile Arbeitsplätze als Quelle des nationalen Stolzes zu feiern. Die Partei wählte mit Bedacht eine kleine Anzahl gut sichtbarer »sozialer« Punkte aus, wie z.B. spezifische Fragen des Gesundheitswesens, mit denen sie viel Aufsehen erregte. Bei solchen Themen schien die PVV im Parlament regelmäßig »links« zu stehen.
Nachdem die PVV eine Regierung mit der Rechten gebildet hat, ist von diesen Themen wenig bis nichts übrig geblieben. Diese Kehrtwende hat jedoch nicht zu einem Rückgang ihrer Unterstützung geführt. Das liegt daran, dass diese Themen für die Partei zweitrangig sind. Wilders setzt üblicherweise nicht darauf, die Notwendigkeit von Sparmaßnahmen zu bestreiten. Vielmehr stellt er Migranten und Muslime als Ursache für diese »Notwendigkeit« dar. Würden die Grenzen geschlossen und die niederländische Gesellschaft »entislamisiert«, bräuchte es keine Sparmaßnahmen.
Der Kern der Ideologie der PVV ist Rassismus, insbesondere antimuslimischer Rassismus. Wilders hat es verstanden, die genannten politischen Entwicklungen so zu nutzen, dass Rassismus zu einer starken politischen Kraft geworden ist. Seit 2006 hat Wilders ihn immer weiter radikalisiert. Abgesehen von einer kurzen Phase im Jahr 2010, in der sie eine rechtsgerichtete Koalition von außen unterstützte, blieb die PVV immer eine Oppositionspartei. Fachleute bezeichneten dies als »Verweigerung von Verantwortung«, aber die PVV-Wähler schätzten diese Konsequenz: Sie gehören zu den treuesten Wählergruppen in der niederländischen Politik.
Rassismus ist in der niederländischen Gesellschaft nichts Neues. In einem kürzlich erschienenen Buch werden die niederländischen Überlegenheitsvorstellungen bis ins 17.Jahrhundert, bis zu den calvinistischen Vorstellungen von den Niederlanden als dem auserwählten Land zurückverfolgt. Die Hinterlassenschaften von Kolonialismus und Sklaverei sind Teil des Humus, auf dem Rassismus kultiviert werden konnte.
Vor Wilders und Fortuyn war es Frits Bolkestein, ehemals Vorsitzender der rechtsliberalen VVD und später EU-Kommissar, der versuchte, antimigrantische und rassistische Gefühle politisch aufzuladen. Mit dieser Strategie traf er einen Schwachpunkt der Sozialdemokraten. Die PvdA hatte sich nämlich stolz von einer egalitären sozialökonomischen Agenda losgesagt, und es wäre für sie schwierig gewesen, ihre wirtschaftlichen Unterschiede zur Rechten zu betonen. Sie reagierte meist mit einer weicheren Version derselben Kulturalisierung der politischen Unterschiede.

Der Niedergang der SP
Eine Partei, die soziale Fragen zum politischen Unterschied machen konnte, war die SP. Ab den 90er Jahren erhielt die SP die Unterstützung, die früher die Sozialdemokratie und GroenLinks genoss; in den frühen 2000er Jahren erlebte sie einen massiven Aufschwung. In den letzten zehn Jahren hat sie jedoch stark abgenommen. Sie kombiniert nun ebenfalls ihren traditionellen Fokus auf Arbeitsplätze und Sicherheit der Gesundheitsversorgung mit einer starken Forderung nach Begrenzung der (Arbeits-)Migration. SP-Parlamentarier haben darüber hinaus erklärt, dass sie beim Thema Klimawandel »nicht links« stehen.
Mit einer eher paternalistischen Sicht auf die arbeitenden Menschen versucht die SP, dem Diskurs der Rechtsextremen einen »kulturell konservativen, wirtschaftlich progressiven« Ansatz entgegenzusetzen. Es ist kein Zufall, dass ihr neuer Vorsitzender, Jimmy Dijk, das Bündnis Sarah Wagenknecht als Partei bezeichnet, mit der er engere Beziehungen pflegen will. Die SP hat über diesen Kurs zwei Fünftel ihrer Mitglieder verloren und ist auf etwas mehr als 3 Prozent der Stimmen zurückgefallen, doch das hat die Partei darin nur bestärkt.
Pim Fortuyn und Geert Wilders sind keine Bauchrednerpuppen, durch die »das Volk« spricht. Sie sind auch keine Rattenfänger, die das Volk führen können, wohin sie wollen. Sie beuten Quellen der Unzufriedenheit für ihre eigenen ideologischen Zwecke aus, politisieren und verstärken sie. Ein wesentlicher Teil der Geschichte des niederländischen Niedergangs besteht darin, dass ein Großteil der Linken es nicht geschafft hat, darauf zu antworten, indem sie die sozialökonomischen Kämpfe mit dem Widerstand gegen den Rassismus verbindet.

Der Autor ist Redakteur von Grenzeloos, der Webseite der niederländischen Sektion der IV. Internationale (www.grenzeloos.org).

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