Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Geschichte 1. April 2025

Zur Aktualität einer Ausstellung über die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg
von Albrecht Kieser

»Die beiden [ersten] Weltkriege haben im Großformat gezeigt, wie Menschen durch den Krieg in die Barbarei zurückfallen, moralische Grenzen durchbrochen werden und jede Humanität verloren geht.« Das schreibt Kum’a Ndumbe III., Professor an der Universität Yaoundé in Kamerun. Er schreibt es im Vorwort für ein Buch, das in diesen Zeiten jede:r zur Hand nehmen sollte. Denn die Lektüre macht immun gegen die Lüge, ein Krieg – zumal ein Weltkrieg – sei nicht die Katastrophe schlechthin, bestialisches Morden in ungeheurem Ausmaß, Unterwerfung, Grausamkeit, Verstümmelung, Vergewaltigung, Vernichtung.

Unsere Opfer zählen nicht. Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg ist der Titel des Buchs. Es erschien 2005, also vor 20 Jahren. Sicherlich haben die Großmächte, die diesen Krieg geführt haben, auch die Opfer in ihren eigenen Ländern nicht »gezählt«, schon gar nicht Nazideutschland, das diesen Krieg begonnen hat. Was waren Millionen Gefallener, Millionen ziviler Opfer angesichts des phantastischen Gedankens, die Welt beherrschen zu können? Sie waren »in Kauf zu nehmen«.
Heute hat sich eine bedrohliche Leichtfertigkeit breit gemacht wie in den 30er Jahren, wenn die etablierten politischen Eliten Deutschlands, Europas und der USA über einen künftigen Krieg oder sogar einen Weltkrieg reden. 200 Milliarden, 500 Milliarden, 800 Milliarden, 1 Billion – unvorstellbare Geldmassen werden angekündigt und bewegt, Kredite aufgenommen, die getilgt werden wollen. Rüstungsfabriken schießen aus dem Boden, ihre Aktienkurse in den Himmel. Die allseitige Aufrüstung wird als alternativlos verkauft, andernfalls würde der Westen zum »Opfer« künftiger Schlachten um die Herrschaft über den Planeten Erde.

Ein Weltkrieg bis 2035
Diese Schlachten werden durchgespielt, geplant, in Manövern geübt und mittlerweile von einer zunehmenden Zahl von Entscheidungsträgern als unausweichlich betrachtet.
Der Atlantic Council, eine US-Denkfabrik, hat in ihrer jährlichen Umfrage 350 Experten gefragt, ob sie bis 2035 einen weiteren Weltkrieg erwarten: »Wir definierten einen solchen Krieg als einen Mehrfrontenkonflikt zwischen Großmächten. Die Ergebnisse waren alarmierend: 40 Prozent bejahten diese Frage.« Zu den Mitglieder des Atlantic Council gehören auch die Waffenschmiede Krauss-Maffei Wegmann, die Bertelsmann-Stiftung und die Europäische Kommission.
Steuert das kapitalistische Weltsystem tatsächlich wie in den 1930er Jahren auf einen Dritten Weltkrieg zu und reißt die Menschheit in den Abgrund?
Damals, zum Kriegsausbruch 1939, war die Welt noch eine koloniale Welt. Die Kontinente Afrika, Asien, Ozeanien und Lateinamerika waren aufgeteilt in feste Einflusssphären oder galten gar als Eigentum europäischer Mächte bzw. der USA. Und so wurde mit den Bewohner:innen auch verfahren, mit den Bodenschätzen ihrer Länder ohnehin. Die Geschichte der Ausbeutung des globalen Südens, die im Zweiten Weltkrieg einen weiteren blutigen Gipfel erklomm, wird von interessierter Täterseite bis heute beschwiegen und verdrängt. Die Erinnerungen der Opfer werden blockiert, unterdrückt und dem Vergessen anheim gegeben.

Ihre Opfer zählen nicht
Eine barbarische Leugnung der Wirklichkeit: Am Ende des Weltgemetzels ließen vermutlich mehr Menschen aus dem Globalen Süden ihr Leben als aus Europa.
Es gibt bis heute nur Schätzungen, denn tote Soldaten und Zivilisten aus den Kolonien wurden entweder nicht gezählt oder den Verlusten ihrer jeweiligen Kolonialmächte zugerechnet. Bekannt ist allerdings, dass der Zweite Weltkrieg allein in China bis zu 21 Millionen Opfer forderte und damit mehr als in Deutschland, Italien und Japan zusammen. In Indonesien werden Millionen Tote unter den Zwangsarbeitern der japanischen Armee vermutet. In den Philippinen kamen während der dreijährigen japanischen Besatzungszeit mehr als eine Million Menschen um. An den europäischen Kriegsfronten fielen Hunderttausende Kolonialsoldaten aus Afrika, Asien und Ozeanien.
Die Kolonien lieferten im Zweiten Weltkrieg nämlich nicht nur Rohstoffe für die Rüstungsindustrien und Nahrungsmittel für die Truppen der kriegführenden Staaten, sie stellten auch Millionen Soldaten. Zu den Befreiern vom deutschen und italienischen Faschismus sowie vom japanischen Großmachtwahn gehörten etwa eine Million Kolonialsoldaten unter französischem sowie eine weitere Million unter britischem Kommando aus Afrika, weiterhin 14 Millionen Chinesen, 2,5 Millionen Inder, eine Million Widerstandskämpfer in den Philippinen, hunderttausende Partisanen aus Vietnam, Malaya, Burma und Indonesien, zehntausende australische Aborigines und neuseeländische Maoris, Truppen aus Brasilien und Mexiko, Freiwillige und Zwangsrekrutierte von verschiedenen pazifischen Inseln und tausende jüdische und arabische Soldaten aus Palästina. Kolonialsoldaten verstärkten die alliierten Landetruppen in Italien und Frankreich und marschierten 1944/45 mit über die deutschen Grenzen, um dem NS-Regime endlich den Garaus zu machen. Gelohnt hat es ihnen niemand.
In Frankreich z.B. dauerte es in schlechter rassistischer Tradition sechs Jahrzehnte, bis die Regierung erstmals offiziell der afrikanischen Kolonialsoldaten gedachte und französische Kriegs- und Kolonialverbrechen in Afrika nicht mehr schlichtweg leugnete. Dazu gehörten ein Massaker im Jahre 1944 an Kriegsheimkehrern aus dem Senegal, die ihren Sold forderten, und die Ermordung tausender Algerier, die am Tag des Kriegsendes in Europa, dem 8. Mai 1945, in algerischen Städten wie Sétif und Constantine für die Unabhängigkeit ihres Landes demonstrierten.
Im globalen Süden ist die Geschichte des Zweiten Weltkriegs deutlich präsenter, denn seine Folgen wirken vielerorts bis in die Gegenwart nach. Besonders die Zurichtung der Wirtschaft auf die Bedürfnisse der kriegführenden Mächte führte zu ökonomischen Abhängigkeiten, die bis heute nicht überwunden sind, weil auch nach dem Ende des Kolonialismus (neo)koloniale Strukturen mit brutaler Gewalt erhalten wurden.

Leugnung bis heute
Auf über 400 Seiten trägt das genannte Buch eine enorme Fülle an Material über die Geschichte des Globalen Südens zwischen 1934 (der »Welt«-Krieg begann bereits in Afrika und zwar mit dem Überfall Italiens auf Äthiopien) und 1945 (auch nach dem 8. Mai liefen die Kämpfe in China und Südostasien noch weiter) zusammen: Augenzeugenberichte, Zahlen, Dokumente, Karten, Fotos. Ein kurzer Überblick (auf den sich die obigen Abschnitte stützen) ist nachzulesen auf der Homepage des Projekts »Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg«: 3www2.de; dort unter »Unterrichtsmaterialien«).
Ein besonderes Augenmerk des Buches liegt auf den gewiss nicht beabsichtigten revolutionären Folgen der Rekrutierung und Zwangsrekrutierung von Kolonialsoldaten: An vielen Beispielen wird das gewonnene Selbstbewusstsein der Soldaten gezeigt, das ihre Entschiedenheit förderte, nach der Rückkehr für die Befreiung des eigenen Landes zu kämpfen.
Mit welcher Kontinuität die Verbrechen an den Menschen der Dritten Welt im Zweiten Weltkrieg geleugnet werden, zeigt ein Konflikt, der die Eröffnung der Ausstellung Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg in Köln im März 2025 begleitet hat. Vor dem NS-Dokumentationszentrum, dem Ort der Ausstellung, sollte eine Statue aufgestellt werden, die an die Verschleppung von 200.000 Frauen aus Korea und Indonesien erinnert, die in Bordellen der japanischen Armee zwangsprostituiert wurden. Gegen die Aufstellung der Statue intervenierte die japanische Botschaft, denn dieses Verbrechen wird in Japan immer noch tabuisiert. Die Kölner Oberbürgermeisterin beugte sich zunächst der japanischen Leugnung und verbot dem NS-Dokumentationszentrum die Aufstellung. Erst nach heftigen öffentlichen Protesten lenkte sie ein und die Statue wurde am 8. März 2025 am geplanten Ort in einer denkwürdigen Feier enthüllt.
Die staatliche Gewaltgeschichte zu vergessen, sie zu vernebeln oder die Erinnerung daran zu unterbinden: dieses Programm ist reaktionäre, imperialistische (Bildungs-)Politik. Nicht umsonst will die AfD die NS-Erinnerungsstätten ganz schleifen. Und aus demselben Grund fährt die rüstungsversessene Politik derzeit die öffentliche Förderung dieser Projekte zurück.
Ob bewusstes Kalkül oder Geschichtsvergessenheit: Nur wenn die Erinnerungslücken über das Kriegsgrauen größer werden, kann ein nächster Krieg überhaupt gedacht und als Möglichkeit in die Köpfe gepflanzt werden – bevor die Bajonette aufgepflanzt werden, besser gesagt, bevor die Drohne gestartet und der Anlasser beim Leopard betätigt wird.

Der Autor ist Mitverfasser von »Unsere Opfer zählen nicht«. Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg. Hrsg. Recherche International e.V. Berlin, Hamburg: Assoziation A, 2005. Die Ausstellung läuft bis zum 1. Juni 2025. Das Begleitprogramm (Geschichte, Kunst, Filme, Theater, Musik) in Köln findet sich unter 3www2.de.

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