Tagebuch des Widerstands gegen Kahlschlagpolitik
von Alix Arnold
Seit Dezember 2023 regiert in Argentinien der rechtsextreme Präsident Milei, der auch hier von Politiker:innen hofiert wird. Seine Demontage von öffentlichen Dienstleistungen und Sozialprogrammen hat das Land in ein soziales Desaster gestürzt. Die Armutsquote in Argentinien ist auf über 52 Prozent gestiegen. Am 10. April organisierte der Gewerkschaftsdachverband CGT den dritten Generalstreik gegen Milei. Dass die trägen Gewerkschaftsapparate nun endlich in die Gänge kommen, ist vor allem den Rentner:innen und ihrem hartnäckigen Widerstand zu verdanken.
Jeden Mittwoch demonstrieren Rentner:innen in Buenos Aires am Parlamentssitz, dem Nationalkongress. Sie sind besonders stark von den Sparprogrammen betroffen.
Für viele von ihnen ist die Situation dramatisch: Sie haben nicht mehr genug zu essen und müssen auf lebenswichtige Medikamente verzichten. Rentner:innen haben im ersten Jahr der Regierung Milei laut IWF ein Drittel ihrer Kaufkraft verloren. Die Mindestrente liegt derzeit bei 355.000 Pesos. Das entspricht 290 Euro – bei einem mit hier vergleichbaren Preisniveau. Kostenfreie Medikamente wurden im Dezember für alle gestrichen, deren Einkommen über der Mindestrente liegt.
Nach ihrer Kundgebung auf dem Bürgersteig machen die Rentner:innen eine Runde um das Kongressgebäude. So lange es geht, bleiben sie dabei auf der Straße. Sicherheitsministerin Patricia Bullrich – sie hatte das Amt schon von 2015 bis 2019 unter Präsident Macri inne und war bereits damals als Hardlinerin aufgetreten – hatte gleich nach der Regierungsübernahme verfügt, dass Demonstrationen den Verkehr nicht behindern dürfen. Kleinere Demonstrationen werden seitdem mit Gewalt von der Straße getrieben.
Auch die Rentner:innen werden immer wieder auf den Bürgersteig abgedrängt. Nach der Runde besetzen sie mit ihren Transparenten die Kreuzung und bewegen sich zwischen den roten Ampeln hin und her. Das ist zwar noch keine wirkliche Blockade, aber mit solchen semaforazos (Ampelaktionen) erobern sie Schritt für Schritt die Straße zurück.
Das Basisgesetz
Nach seiner Amtsübernahme hatte Milei ein riesiges Gesetzespaket vorgelegt, das sog. Basisgesetz. Damit wollte er sich als Präsident weitere Vollmachten sichern, den Abbau des Staates vorantreiben sowie soziale und Arbeitsrechte beschneiden. Dagegen wurde immer wieder demonstriert.
Als der Senat am 12. Juni 2024 über das Gesetzespaket debattierte, waren die Demonstrierenden vor dem Kongress mit der bis dahin brutalsten Repression konfrontiert: 200 Verletzte und 33 Festgenommene, die mit den absurden Vorwürfen »Terrorismus« und »Putschversuch« in Hochsicherheitsgefängnisse gebracht wurden. Einige blieben dort wochenlang; der letzte von ihnen kam erst nach 85 Tagen wieder frei. Ende Juni kam das Basisgesetz in reduzierter Form durch und die Einschüchterung zeigte Wirkung. Die Zahl der Demonstrationen ging danach schlagartig zurück.
Nur die Rentner:innen gingen weiter auf die Straße, jeden Mittwoch. Im August legte Milei sein Veto gegen einen vom Parlament beschlossenen Inflationsausgleich für Rentner:innen ein. Deren Mobilisierungen dagegen wurden von martialisch ausgerüsteten Robocop-Polizisten angegriffen.
Die mutigen Alten, die sich gegen Knüppel, Tränengas und Pfefferspray wehren, bekommen in Argentinien viel Lob und Sympathie. Aber die praktische Unterstützung blieb lange Zeit dürftig. Zu den Mittwochsdemos kamen meist nur ein paar hundert, fast ausschließlich Rentner:innen. Dies sollte sich erst im März 2025 ändern.
Fussball-Ultras mit dabei
Am 5.März, machten nach einem Angriff mit Knüppeln und Tränengas Bilder eines weinenden Rentners die Runde.
Er trägt das Trikot des Fußballvereins Chacarita. Als andere Chacarita-Fans dies sehen, beschließen sie, am nächsten Mittwoch die Rentner:innen zu unterstützen. Ihr Aufruf löst eine Welle aus. Ein Fanclub nach dem anderen schließt sich an. Die Liste der aufrufenden Clubs wird täglich länger und motiviert weitere kämpferische Gruppierungen aus sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Betrieben, ebenfalls zum Kongress zu mobilisieren.
Wenn Fanclubs, die ansonsten vor allem ihre gegenseitigen Rivalitäten pflegen, sich zusammentun, um gemeinsam gegen die Staatsgewalt vorzugehen, ist das nicht nur für die Bewegungen in einem fussballbegeisterten Land wie Argentinien ein gewaltiger Schritt nach vorne. Solche Momente gab es im arabischen Frühling 2011 auf dem Tahrir-Platz in Kairo oder beim Kampf um den Gezi-Park 2013 in Istanbul, wo sich die verfeindeten Fans der drei großen Fußballvereine zu »Istanbul United« zusammenschlossen. Im Januar 2020, drei Monate nach dem Beginn des Aufstands in Chile, kamen in Santiago auf dem »Platz der Würde«, dem Treffpunkt der ständigen Demonstrationen, die verschiedenen Fanclubs zusammen, um gemeinsam zu protestieren, weil ein Fan von einem Polizeifahrzeug überfahren und getötet worden war.
Vor einer solchen Solidarisierung haben Milei und seine Sicherheitsministerin Bullrich offensichtlich Angst. Mit einer Diffamierungskampagne wurde schon im Vorfeld gegen die Demonstration gehetzt: »Barrabravas« hätten sich angekündigt, gewaltbereite kriminelle Hooligans. Tatsächlich ist es dann am 12. März mal wieder die Staatsgewalt, die die Krawalle provoziert.
Aufgerufen war für 17 Uhr. Schon um 16.25 Uhr, als die Rentner:innen vom Kongress auf den Platz kommen, um sich mit den Fans zu treffen, beginnen die verschiedenen Polizeieinheiten – städtische, nationale und Gendarmerie mit ihrem gesamten Arsenal von gepanzerten Fahrzeugen und Motorrädern – den Platz mit Knüppeln und Tränengas zu räumen. Während die vielen Demonstrierenden aus den Fanclubs, Nachbarschaftsversammlungen oder Betrieben gerade erst ankommen, sind die Auseinandersetzungen bereits im Gange. Barrikaden werden errichtet und Müllcontainer angezündet.
Busfahrer:innen stellen ihre Busse quer, um das Vorrücken der Polizei zu verhindern. Aus den Geschäften und Kneipen werden den Demonstrierenden Wasser und Zitronen gebracht. Auf der etwa einen Kilometer langen Strecke zwischen dem Kongress und dem Regierungspalast kommt es zu Szenen, die an den Aufstand von 2001 oder den Kampf gegen die Rentenreform 2017 erinnern.
Die Demo-Sanis »La Posta de Salud« leisten bei mehr als 300 Verletzten Erste Hilfe. Gleich zu Beginn der Repression wird die 81jährige Beatriz Blanco von einem Polizisten geschlagen. Sie fällt hintenüber und verletzt sich am Kopf. Der 35jährige Fotograf Pablo Grillo wird, während er einen Polizeieinsatz dokumentiert, von einer Tränengasgranate am Kopf getroffen. Er erleidet einen Schädelbruch mit Verlust von Hirnmasse und kämpft tagelang um sein Leben.
Menschenrechtsorganisationen sammeln Fotos und Videos und können die offizielle Version, Pablo sei gewalttätig gewesen und von einem Querschläger getroffen worden, widerlegen: Der Gendarm Guerrero hat ihm gezielt in den Kopf geschossen. Pablo ist aus dem Koma erwacht, liegt aber weiterhin auf der Intensivstation.
Wieder sollen Festnahmen Angst verbreiten, aber eine Richterin ordnet noch in derselben Nacht die Entlassung der 114 Festgenommenen an. In vielen Stadtteilen finden abends cacerolazos statt, lautstarke Proteste und Demos mit Kochtöpfen.
In der folgenden Woche, am 19.März, ist die Demonstration der Rentner:innen wieder riesig. Und diesmal wird sie nicht angegriffen. Die Rentner:innen betonen, dass sie nicht nur für ihre eigenen Belange kämpfen, sondern auch für zukünftige Generationen: »Wir sind alle Rentner:innen. Es ist nur eine Frage der Zeit«, lautet eine ihrer Parolen.
Sie sehen sich als Teil der Arbeiterklasse und haben bei ihren Demos immer wieder die Untätigkeit des Gewerkschaftsverbands CGT kritisiert: »Wo ist sie denn hin, sie ist nicht zu sehen, die berühmte CGT?« Auch auf Demos von Arbeiter:innen ist der Ruf nach einem weiteren Generalstreik allgegenwärtig.
Generalstreik
Am 20. März ruft die CGT endlich für den 10. April – nach elf Monaten Stillhalten – zum dritten Generalstreik auf und zur Beteiligung an der Demonstration der Rentner:innen am Vortag.
Am 9.April können die Rentner:innen ungehindert demonstrieren, denn es sind wieder viele Unterstützer:innen gekommen. Am 10. April schließlich steht das Land still – obwohl die CGT den Generalstreik nur halbherzig vorbereitet hat und die wichtige Transportgewerkschaft UTA nicht mitmacht. Es gibt kaum einen Bericht über diesen Tag, der nicht die zentrale Rolle der Rentner:innen für diesen Mobilisierungserfolg betont.
Schon nach der queerfeindlichen Hassrede von Milei in Davos hatte die LGBTQI-Bewegung auf einer großen Basisversammlung im Lezama-Park in Buenos Aires zu Demos »gegen Faschismus und Rassismus« aufgerufen und am 1. Februar mehr als zwei Millionen im ganzen Land auf die Straße gebracht. Auch am 24. März, dem Jahrestag des Militärputsches von 1976, gab es riesige Demos.
Milei gilt Rechten weltweit als Vorbild für Autoritarismus und Faschisierung. Jetzt sieht es so aus, als könne Argentinien erneut zum Vorbild für den Widerstand werden.
Die Autorin ist Redakteurin von ila, der Zeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika (www.ila-web.de/).
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