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Palästina Blog 5. Mai 2025

von Josep Borell

Josep Borrell, ehemaliger EU-Außenbeauftragter, warnt in seinem ursprünglich in der spanischen Tageszeitung El País erschienenen Artikel vor der passiven Haltung Europas angesichts der humanitären Katastrophe im Gazastreifen und der Annektierungspolitik im Westjordanland. Mit scharfer Kritik am doppelten Standard der EU und einem Appell zum Handeln fordert er ein Ende der politischen Lähmung. (d. Red.)

Die EU darf dem Grauen im Gazastreifen und der „Gazaisierung“ des Westjordanlands nicht länger tatenlos zusehen

Am 18. März brach Benjamin Netanyahu die wenige Tage vor Trumps Amtseinführung vereinbarte Waffenruhe, woraufhin eine Bombenoffensive innerhalb weniger Stunden über 400 Tote forderte. Damit sicherte er sein politisches Überleben – denn sein rechtsextremer Koalitionspartner Smotrich machte die Fortsetzung des Krieges zur Bedingung für den Erhalt der Regierungsmehrheit.

Seither sind Tausende weiterer palästinensische Zivilist:innen ums Leben gekommen – darunter vor allem Frauen und Kinder – und das Leben der verbleibenden Geiseln wurde aufs Spiel gesetzt. Eine totale Blockade, eine sich ausbreitende Hungersnot in einem apokalyptischen Umfeld und die weitgehende Zerstörung von Gebäuden und Infrastruktur haben eine ohnehin schon dramatische Lage ins Katastrophale gesteigert.

Über diese furchtbare Diagnose herrscht Einigkeit. Die Vereinten Nationen warnen, dass die humanitäre Situation in Gaza ihren schlimmsten Stand seit Kriegsbeginn erreicht habe. Zwei Tage später hebt der israelische Verteidigungsminister Israel Katz erneut hervor: „Es wird keine humanitäre Hilfe nach Gaza gelangen.“ Die letzte funktionierende Meerwasserentsalzungsanlage ist mittlerweile außer Betrieb. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen bezeichnete Gaza als Massengrab – für Tausende Gazaner:innen und „auch für jene, die versuchen, ihnen zu helfen“. Zwölf der größten internationalen Hilfsorganisationen haben gemeinsamen Alarm geschlagen. Doch niemand scheint hinzuhören.

Smotrich erklärte, man werde alle Mittel nutzen, um „die Bevölkerung in den Süden zu evakuieren und Trumps Plan zur freiwilligen Umsiedlung der Bewohner Gazas umzusetzen“ – ein Projekt, das Katz, damals Außenminister, bereits Anfang 2024 der EU vorgestellt hatte. Die israelische Armee kontrolliert inzwischen die Hälfte des Gebiets und hat zwei Drittel Gazas unter Vertreibungsbefehl gestellt und zu „Sperrzonen“ erklärt – darunter auch die Grenzstadt Rafah.

Damit werden die Voraussetzungen für die größte ethnische Säuberung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschaffen. „Kein einziges Weizenkorn wird nach Gaza gelangen“ – das ist ein offener Bruch des humanitären Völkerrechts. Man kann darin schwerlich kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit erkennen – so wie sie der Internationale Strafgerichtshof bei den Haftbefehlen gegen Netanyahu und seinen ehemaligen Verteidigungsminister bereits benannt hat. Und es ist kaum weniger schwerwiegend als die Verbrechen von Srebrenica oder Uganda.

Gleichzeitig führt die israelische Armee im Westjordanland ihre größte Offensive seit Jahrzehnten. Mehr als 40.000 Palästinenser:innen wurden gewaltsam aus dem Norden des Gebiets vertrieben – ein Schritt, der offensichtlich als Vorbereitung für das Vorhaben der rechtsextremen Abgeordneten dient, die illegale Ausweitung der Siedlungen voranzutreiben. Am 23. März legalisierte die Regierung 13 solcher Siedlungen, die zuvor ohne offizielle Genehmigung errichtet worden waren. Die religiös-fundamentalistische Rechte setzt darauf, dass Trump ihre Absicht unterstützt, das Westjordanland teilweise oder ganz zu annektieren – womit jede Hoffnung auf einen palästinensischen Staat endgültig zunichtegemacht würde.

Währenddessen befinden wir uns in Spanien und weiten Teilen Europas in den Osterferien. Unsere Aufmerksamkeit gilt vor allem den Strafzöllen, mit denen Trump uns droht. Von Gaza redete kaum noch jemand. Doch dann geht ein Foto um die Welt, das mit einem internationalen Preis ausgezeichnet wurde: Ein palästinensisches Kind mit amputierten Armen – und plötzlich sind wir wieder bewegt. Ja, genau deshalb sollen wir diese Bilder nicht sehen. Aus den Augen, aus dem Sinn. So wie der Tod der Fotografin Fatima Hassouna, Protagonistin eines Films, der für das nächste Filmfestival in Cannes ausgewählt wurde. Doch es sind nicht ein, nicht hundert, nicht tausend – es sind Tausende Kinder, die in Gaza getötet oder verstümmelt werden. Und unter welch erbarmungswürdigen Umständen. Gaza ist der Krieg der Kinder. Über ein einziges Foto werden Krokodilstränen vergossen – doch die unfassbare Dimension dieser Tragödie bleibt folgenlos. Währenddessen wird Netanyahu in Washington und Budapest – einem Land, das bis vor Kurzem noch Vertragsstaat des Internationalen Strafgerichtshofs war – mit allen Ehren empfangen.

Trotz zahlreicher Resolutionen der Vereinten Nationen und der Entscheidungen des Internationalen Strafgerichtshofs ist es mir als Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik nicht gelungen, den Rat oder die Kommission zu einem entschlossenen Handeln gegen die massiven und systematischen Verstöße gegen das Völkerrecht durch Netanyahus Regierung zu bewegen – obwohl wir im Fall von Putins Aggression gegen die Ukraine sehr wohl reagiert haben.

Bis zum Ende meines Mandats habe ich erlebt, wie sehr diese Doppelmoral die Position der EU in der Welt geschwächt hat. Nicht nur in der islamischen Welt, sondern auch in Afrika, Lateinamerika oder Asien. Spanien und einige wenige europäische Länder haben ihre Stimme erhoben und die Kommission aufgefordert, zu prüfen, ob Israels Verhalten mit den Verpflichtungen des Assoziierungsabkommens mit der EU vereinbar ist. Die Antwort: Schweigen. Das schlechte Gewissen einiger europäischer Staaten wegen des Holocausts ist zur Staatsräson geworden – und wird als Rechtfertigung für bedingungslose Unterstützung missbraucht. Doch ein Grauen rechtfertigt kein anderes. Und wenn wir wollen, dass die Werte, für die wir stehen, ihre Glaubwürdigkeit behalten, darf die EU dem Grauen in Gaza und der „Gazaisierung“ des Westjordanlands nicht länger tatenlos zusehen.

Entgegen dem, was in der öffentlichen Debatte suggeriert wird – und ungeachtet der Empathielosigkeit mancher politischer Führungspersonen – verfügt die EU über zahlreiche Hebel gegenüber der israelischen Regierung: Wir sind ihr wichtigster Handelspartner für Investitionen und Austausch. Wir liefern mindestens ein Drittel der Waffen, die Israel verwendet, und wir haben mit Israel das umfassendste Assoziierungsabkommen – ein Abkommen, das, wie alle anderen, eigentlich an die Einhaltung des internationalen, insbesondere humanitären Rechts gebunden ist.

Wenn wir wollen, können wir handeln. Und wir haben schon viel zu lange gezögert. Viele Israelis, die begreifen, dass Netanyahus Eskalationskurs auf lange Sicht die Sicherheit und das Überleben des israelischen Staates gefährdet, würden es uns danken.

Bei diesem Text handelt es sich um eine Übersetzung aus dem Spanischen. Der Originalartikel von Josep Borrell, ehemaliger Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und ehemaliger Vizepräsident der Europäischen Kommission, erschien am Ostersonntag, dem 20. April 2025, in der spanischen Tageszeitung El País unter dem Titel „Semana de pasión en Gaza“.

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