Die große Standortlüge
von Thorsten Donnermeier
Zölle in den USA. Niedrige Industriestrompreise in Deutschland. Sogenannte Systemkonkurrenz mit China Die Krankenstände müssen sinken. Der Achtstundentag wird in Frage gestellt. Ein Feiertag muss weg.
Ein regelrechtes Trommelfeuer prasselt auf uns nieder. Wofür? Alles für den Standort. Mal sollen wir Opfer bringen für den Standort Europa, um im Konkurrenzkampf der Wirtschaftsblöcke zu bestehen, mal für Deutschland, um in Europa konkurrenzfähig zu sein.
Besonders brutal wird es, wenn es um die Konkurrenz innerhalb der Branchen geht und die Belegschaften gegeneinander ausgespielt werden: VW gegen BYD und Renault, Stellantis und Tesla gegen alle anderen Automobilhersteller. Jeder gegen jeden. Es zählt nur noch die Frage: Wer produziert an billigsten?
Das vermeintlich bedrohlichste Szenario am Horizont: Wer diesen Konkurrenzkampf verliert, bringt seine Welt in Gefahr: die Familie, das schuldenbelastete Eigenheim, die langersehnte Fernreise, das Studium der Kinder usw. Bei Arbeitslosigkeit drohen Not und Elend. Welche Lösungen werden in dieser Auseinandersetzung propagiert?
Produktivitätssteigerung!
Das bedeutet Arbeitsplatzsicherheit für die einen, Arbeitsplatzabbau für die anderen. Konkret: den gleichen Output mit einer verringerten Belegschaft.
Einige Kolleg:innen denken: Wenn bei anderen die Hütte brennt, dann sind wir immerhin nicht betroffen. Aber auch bei VW brennt die Hütte. Um die 30 Prozent soll in den nächsten fünf Jahren bei VW die Produktivität gesteigert werden. Mit kleinen Schritten fängt es an: Die Pausen sollen bei nicht taktgebundener Arbeit gekürzt, Teamgespräche ganz gestrichen werden. Begründung auch hier: Alles für den Standort.
Diese Begründung akzeptieren viel zu viele Kolleg:innen. Dabei ist schon jetzt klar: Im Ergebnis werden wir verlieren. Wir, das sind wir Kolleg:innen – nicht nur bei VW, sondern die Klasse der Lohnabhängigen in der Automobil- und Zulieferindustrie insgesamt. Vorgesetzte können eine Produktivitätssteigerung nicht einfach von oben herab befehlen, das geht auf Dauer nicht gut. Sie brauchen die Unterstützung, das aktiv eingebrachte Fachwissen von engagierten Beschäftigten.
Standortgemeinschaft
Dafür wird an eine Standortgemeinschaft appelliert, die keine Klassen mehr kennt.
Das Motto: »Nur wenn wir günstig produzieren, können wir neue Produkte an den Standort holen.« Sollte das Rezept nicht aufgehen, sei alles verloren: 35.000 Stellen sollen, so ist es geplant, ohnehin im Konzern wegfallen. Und wir haben nur eine Chance, wenn wir besser sind als die anderen VW-Produktionsstandorte. In der Vergangenheit wurde bei VW deshalb auf Workshops gesetzt: kleine Gruppen, bestehend aus Vorgesetzten, Fachleuten, einigen wenigen, ausgewählten Kolleg:innen und einem Betriebsratsmitglied oder einem Beauftragten des Betriebsrats. In tagelangen Diskussionen sollten sie selbst Vorschläge entwickeln, wie die Produktivität angekurbelt werden kann. Das Ganze trägt den Namen: »kontinuierlicher Verbesserungsprozess«, kurz KVP.
Das wird auch diesmal wieder der Fall sein, in durchaus angenehmer Atmosphäre: Während der Workshops dürfen die Vorgesetzten schon mal geduzt werden, es gibt Kaffee und Kekse. Wir alle, so heißt es, hätten schließlich das gleiche Ziel, nämlich den Standort VW Kassel oder Wolfsburg zu sichern. Maschinen und Menschen sollen optimiert werden.
Zum Beispiel in der Verpackung: Da müssen jetzt fünf Teile mehr in der Stunde verpackt werden. Der Gabelstaplerfahrer muss mehr Waren an den Zielort transportieren. Dort soll dann der schnelle Kaffee vom Automaten nicht mehr drin sein, jedes kurze Durchatmen entfällt. Das berichten viele Kolleg:innen, in deren Abteilungen in der Vergangenheit solche Workshops stattgefunden haben. Diese Arbeitshetze führt zwangsläufig zu höheren Krankenständen. Darüber muss sich niemand wundern.
Sie reden von Alternativlosigkeit, so sei nun mal der Markt und wir lebten halt in schwierigen Zeiten. So als sei diese Produktionssteigerung das einzige Rezept gegen Massenentlassungen und Standortschließungen, quasi ein Naturgesetz wie der Regen, der von oben nach unten fällt.
Alternative: Solidarität
Alle Hersteller folgen diesem »Naturgesetz«. Alle versuchen, ihre Produktivität mit ähnlichen Mitteln zu steigern.
Diese Spirale von »immer billiger arbeiten« für immer höhere Profite der Eigentümer kennt kaum ein Limit und geht auf unsere Knochen. Das sollten wir nicht länger hinnehmen. Wir, die Beschäftigen aller Standorte, Länder und Kontinente haben das gleiche Interesse: Wir wollen keine unlimitierte Produktionssteigerung, sondern eine gute Zukunft und ein gutes Leben für uns alle. Statt Standortlogik brauchen wir Solidarität, die nicht an Firmenlogos und anderen Grenzen Halt macht.
Wir müssen wieder auf bewährte gewerkschaftliche Prinzipien setzen: Lohnverzicht schafft keine Arbeitsplätze. Aber Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich schafft Arbeitsplätze. Sie scheint in weite Ferne gerückt, auch in der organisierten Arbeiter:innenschaft. Da waren wir schon mal weiter.
Die Geschichte des 1.Mai ist der Beleg für erfolgreiche globale Kämpfe. Vor mehr als hundert Jahren gab es bereits globale Bewegungen – etwa für den Achtstundentag. Diese Kämpfe haben Blut und Tränen gekostet, konnten aber wichtige Verbesserungen erzielen: Weder die Abschaffung der Kinderarbeit, noch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder die Einführung des Achtstundentages wurden uns geschenkt. Sie wurden erkämpft, gegen den Widerstand der Fabrikbesitzer, die bei jeder Errungenschaft den Untergang der Wirtschaft beschworen.
Diese alte Leier ist heute lauter zu hören als je zuvor. Leider folgen zu viele Gewerkschaftsfunktionäre der vermeintlichen Logik des Standorts und singen das Lied von der Produktionssteigerung mit. Appelle an Gewerkschaftsführung und Betriebsratsspitzen helfen da wenig weiter.
Internationale Solidarität fängt unten an. Beschäftigte müssen direkt in Austausch kommen über Löhne, Pausenzeiten, Jagd auf Kranke und das gute Leben. Die Hinterzimmertreffen von Weltbetriebsräten oder dem Internationalen Metallarbeiterbund helfen wenig.
Wir brauchen vielmehr eine breites, internationales Klassenbewusstsein, das bis in die entferntesten Ecke der Betriebe getragen wird und Widerstand gegen diesen Raubzug organisieren kann. Ganz wesentlich ist dabei der Aufbau von Basisgruppen, in denen wieder Debatten über gewerkschaftliche Prinzipien und Handlungsmöglichkeiten geführt werden.
Das Organisieren von internationalen Kontakten unter Beschäftigten macht auch Spaß. Ein paar Kolleg:innen bei VW und viele andere arbeiten daran: Gemeinsamkeit ist unsere Stärke. Auch wenn es manche noch nicht wahrhaben wollen.
Der Autor arbeitet bei VW in Kassel.
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