›Man darf dem Management einfach nichts glauben‹
Gespräch mit Jutta Schneider und Hermann Nehls
Standort, Standort über alles – in Zeiten der Krise kommen solidarische Konzepte schnell unter die Räder. Das gilt auch für die Situation heute und die Haltung vieler Gewerkschafsfunktionäre und Betriebsräte: Die Rettung eigener Arbeitsplätze auf Kosten von anderen erscheint als einzige (Not-)Lösung.
Aber es gibt auch Gegenbeispiele. Der »Fall Gillette« ist jetzt in einem Buch mit dem Titel Solidarität statt Konkurrenz im Verlag Die Buchmacherei veröffentlicht worden. Mit zwei der Autor:innen, Jutta Schneider (JS), langjährige Betriebsrätin von Gillette in Berlin, und Hermann Nehls (HN), Unterstützer und damals Sozialsekretär des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt, sprach Gerhard Klas über eine beispielhafte Auseinandersetzung, die nichts an Aktualität verloren hat.
Warum habt ihr eure Erfahrungen über eine betriebliche Auseinandersetzung beim Rasierklingenhersteller Gillette jetzt, dreißig Jahre später, veröffentlicht?
HN: Das Thema Solidarität statt Konkurrenz ist weiter aktuell. Im Fall von Gillette ging es um die Zusammenarbeit zwischen Betrieben über Ländergrenzen hinweg. Die Situation von Gillette damals ist auch heute noch typisch: Wenn es um den Abbau von Arbeitsplätzen geht, arbeiten die Geschäftsführungen gerne mit Halbwahrheiten und Lügen. Betriebsräte werden gegeneinander ausgespielt. Unsere Geschichte bei Gillette gibt ein Beispiel über Möglichkeiten der Gegenwehr.
Gillette hatte in den 80er Jahren vier Werke in Europa, in Isleworth, Berlin, Annecy und Sevilla. Wie hat Gillette damals agiert?
JS: Die Unternehmensleitung hat gesagt, wir investieren da, wo für uns die Bedingungen passen. Am Anfang, 1986, war vor allem die wöchentliche Betriebsnutzungszeit das wichtigste Kriterium, sie sollte von 120 auf 144 Stunden ausgedehnt werden. Gefordert wurde regelmäßige Wochenendarbeit an Samstagen in Früh- und Spätschicht. Die neue Woche sollte dann mit der Nachtschicht von Sonntag auf Montag beginnen. Viele unserer 1200 Kolleg:innen in Berlin waren entsetzt, als sie davon erfuhren. Uns wurde erzählt, die anderen Fabriken hätten der Wochenendarbeit schon längst zugestimmt. Aber wir hatten da unsere Zweifel und wollten das überprüfen.
Wie habt ihr das gemacht?
HN: Ich war damals gerade dabei, für den Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt ein Austauschprogramm mit Auszubildenden in Coventry zu organisieren. Ich habe die Gelegenheit genutzt und bin nach Isleworth gefahren. Ich traf mich dort mit Kollegen in einem Pub am Rande des Werkes. Im Gespräch kam heraus, dass die Informationen des Managements in Berlin einfach nicht stimmten. In Isleworth waren gar keine Investitionen geplant, und auch die Infos zu Arbeitszeit waren falsch.
Wie ging es nach dem Erstkontakt mit den Kolleg:innen in Isleworth weiter?
JS: Als nächstes trat Hermann in Kontakt mit den spanischen Kolleg:innen. 1988 hat er zwei von ihnen über die Evangelische Industriejugend zu einem Treffen in Berlin eingeladen. Dann hieß es gerüchteweise, dass eventuell sogar ein Werk in Europa ganz geschlossen werden soll. Wir telefonierten mit den französischen Kolleg:innen in Annecy, und die kündigten kurzerhand einen Besuch im Herbst an. Bei diesen Treffen kamen weitere Lügen unserer Geschäftsführung auf den Tisch: Die Wochenendarbeit in Sevilla fand nur mit zusätzlichem Personal bei Produktionsüberhängen statt, etwa mit studentischen Kräften. Die Stammbelegschaft hatte nie am Wochenende gearbeitet. Unsere Geschäftsführung hat überhaupt nicht damit gerechnet, dass wir das überprüfen konnten. Dieser Punkt der authentischen Information ist ganz wesentlich bei der Zusammenarbeit. Man darf dem Management einfach nichts glauben.
Hat das Management versucht, eure Vernetzung zu verhindern?
JS: Als die französischen Kollegen ihren Besuch in Berlin ankündigten, verhingen sie ein Hausverbot. Die durften uns nicht im Betrieb besuchen. Und so kam es, dass wir uns im IG-Metall-Haus treffen mussten. Auch später hat die Geschäftsführung unsere Gäste nie ins Werk gelassen. Und bestritten, dass solche Kontakte Bestandteil der Betriebsratsarbeit sind. Für die Zeit der Treffen wurden wir nicht bezahlt, sondern mussten Urlaub nehmen. Wir mussten uns immer um andere Geldquellen kümmern, um die Reisen und die Treffen zu finanzieren. Erst später, in den 90er Jahren, wurde die Richtlinie zur Bildung der europäischen Betriebsräte erlassen. Danach hatten viele Konzerne in Europa schon freiwillige Vereinbarungen geschlossen. Gillette hat sich bis 1999 – also bis auf den letzten Drücker – geweigert, so ein Gremium einzurichten. Dabei stand der Fall Gillette gewissermaßen Pate für die Notwendigkeit einer solchen europaweiten Richtlinie.
Die IG Metall hat sich damals mit der Unterstützung durch euch sehr schwer getan. Warum?
HN: Die IG Metall agierte nach dem Motto: Wir sind die Größten, wir sind die Wichtigsten; wir haben es nicht nötig, uns mit anderen auszutauschen. Dazu kam eine Portion Misstrauen: In Frankreich, das sind Kommunisten, in Spanien, das sind Anarchisten und dann in England, das sind so Shop Stewards, die sind ja gar nicht kompatibel mit unserem System. Das war der IG Metall alles suspekt, sie konnte ihre ideologischen Scheuklappen nicht überwinden. In Berlin aber gab es einen Tarifsekretär, Manfred Foede. Der hatte verstanden, wie wichtig die Vernetzung war. Unsere Informationen über die Lügen der Geschäftsführung hat er auch für seine tariflichen Auseinandersetzungen gebraucht.
Der Hauptvorstand hat ihn gewähren lassen?
HN: Das war immer hart an der Grenze. In einem Interview, das auch im Buch abgedruckt ist, bestätigt er, dass die internationale Abteilung der IG Metall den Austausch zwischen den Gillette-Werken in Europa nicht wollte. Sie hatte wohl Angst vor Linken. Manfred hat dann dafür gesorgt, dass wir von der IG Metall Berlin 20000 D-Mark bekommen haben für Unterkunft, Verpflegung, Reise und Übersetzung. Er hat seinen Spielraum innerhalb der IG Metall sehr weit genutzt.
Wie ging die Auseinandersetzung bei Gillette weiter, wurden Werke geschlossen?
JS: Die Auseinandersetzung ist leider ganz anders verlaufen, als man sich das vielleicht in der Zeit vor dem Mauerfall vorgestellt hat. Alle westeuropäischen Werke wurden geschlossen, außer das Werk in Berlin. Zum Teil gab es hohe Abfindungen für die Kolleg:innen. Gillette hat ein neues Werk im polnischen Lodz aus dem Boden gestampft und 2005 wurde das ganze Unternehmen an einen anderen US-Konzern, Procter & Gamble, verkauft. Zwischen den Werken in Berlin und Lodz gibt es bis heute noch eine Zusammenarbeit. Also wenn ich früher mal gesagt habe, wir lassen uns nicht länger erpressen, kann ich heute nur sagen, da war meine Klappe viel zu groß. Wir, die Belegschaften und die Betriebsräte, sind einfach erpressbar, weil es immer um Arbeitsplätze und Existenzen geht.
Gingen die Werkschließungen sang- und klanglos über die Bühne?
HN: Es gab Proteste, auch in Form einer gemeinsamen Erklärung für den Erhalt aller Arbeitsplätze…
JS: …aber im Ergebnis hat es nichts genützt. Der Zusammenschluss von Einzelbetrieben ist nicht ausreichend, um eine Konzernpolitik gänzlich zu ändern.
Wie habt ihr euch erklärt, dass das Berliner Werk als einziges der alten Werke überlebt hat?
JS: Die längere Betriebsnutzungszeit wurde in Berlin eingeführt und war erfolgreich, denn sie war mit einer verkürzten persönlichen Arbeitszeit verknüpft. Es gab Nachschub an qualifizierten Kollegen nach der Wende, aus Berlin-Ost und Brandenburg. Auch in technologischer Hinsicht stand das Werk gut da.
Was können Belegschaften heute von eurem Kampf lernen?
JS: Die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit haben sich eher verschlechtert. Konzerne erpressen die Belegschaften, die sollen einen Beitrag leisten, damit der Standort erhalten bleibt.
Die Vereinbarungen zur Beschäftigungssicherung, die gerade überall abgeschlossen werden, sind im Grunde genommen Verzichtsvereinbarungen, in denen die Belegschaften auf Löhne, Tarifleistungen oder Arbeitszeitregelungen verzichten. Es ist schlimm, wie die Konzerne sich auf breiter Front durchsetzen können. Unser ganzes Tun und Handeln und Kämpfen war wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Es war sicher ein guter Anfang, aber es bedarf noch ganz anderer Mittel. Da sind auch die Gewerkschaften und die Politik gefragt, nicht nur die Belegschaften. Im Moment kann man da allerdings wenig erwarten. Auch die Eurobetriebsräte spielen nicht die Rolle, die sie spielen könnten. Sie vertreten nicht die Gesamtheit der Beschäftigten in den Unternehmen. Tausende von ausgegliederten Kolleg:innen in den Subunternehmen sind außen vor.
Interessenvertretung durch die Eurobetriebsräte also nur für die Stammbelegschaften?
JS: Neben den Produktionseinheiten bei Procter & Gamble gibt es eine riesige Verpackungseinheit in Polen. Die gehört gar nicht zum Konzern, das ist ein Subunternehmen. Da arbeiten aber über tausend Leute, die für ganz Europa die Produkte verpacken. Und dann die vielen Lastwagenfahrer, die für beschissene Löhne quer durch Europa fahren müssen.
HN: Mit unserer Vernetzungsarbeit bei Gillette ist es gelungen, eine Vertrauensebene zwischen den Belegschaften herzustellen. Zu den Treffen kamen Betriebsräte und Vertrauensleute, aber auch andere interessierte Kolleg:innen, vor allem bei den späteren Treffen mit den polnischen Kolleg:innen.
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