OKO:press, Polityka, onet.pl
Die Polnische Presseschau wird zusammengestellt und teilweise kommentiert von Norbert Kollenda.
Liebe Leserinnen und Leser,
meine Augen lassen es mir derzeit nicht zu, viele Texte zu lesen und ausführlich zusammenzufassen. Eine Beobachtung möchte ich dennoch mit Ihnen teilen: Die ukrainische Regierung erlaubt es polnischen Behörden bislang nicht, die Opfer bestimmter Massaker eigenständig zu exhumieren. Infolgedessen bleiben selbst bei Massengräbern von Kindern die Todesursachen offiziell „unbekannt“. Zudem besteht Kiew weiterhin darauf, Opfer und Täter gleich zu behandeln.
Im Vorfeld der Stichwahl stellt sich eine zentrale politische Frage: Wird ein Präsident Nawrocki den Reformkurs der Regierung Tusk blockieren? Oder wird eine Wahl von Trzaskowski als Präsident neue Handlungsspielräume eröffnen?
Trzaskowski gewinnt erste Runde – rechte Mehrheit in Sicht
OKO:press, 19. Mai 2025 - 10 Uhr
Die staatliche Wahlkommission hat das offizielle Ergebnis der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen bekannt gegeben: Rafal Trzaskowski von der Bürgerkoalition (KO) liegt mit 31,4 Prozent vorn. Doch ein einfacher Sieg in der Stichwahl ist nicht in Sicht – im Gegenteil: Kandidaten, die in Opposition zur Regierung von Donald Tusk stehen, kommen zusammengerechnet auf 51,4 Prozent der Stimmen.
Das Wahlergebnis im Überblick:
- Rafal Trzaskowski (Bürgerkoalition/KO) – 31,4 %
- Karol Nawrocki (unabhängig, unterstützt von Recht und Gerechtigkeit/PiS) – 29,5 %
- Slawomir Mentzen (Konfederacja) – 14,8 %
- Grzegorz Braun (Konfederacja) – 6,3 %
- Szymon Holownia (Polska 2050 / Dritter Weg) – 5,0 %
- Adrian Zandberg (Razem) – 4,9 %
- Magdalena Biejat (Nowa Lewica) – 4,2 %
- Krzysztof Stanowski (unabhängig) – 1,2 %
- Joanna Senyszyn (früher SLD/Nowa Lewica) – 1,1 %
- Marek Jakubiak (ehemals Kukiz’15) – 0,8 %
- Artur Bartoszewicz (unabhängig) – 0,5 %
- Maciej Maciak (unabhängig / rechtskonservativ) – 0,2 %
- Marek Woch (unabhängig) – 0,1 %
Eine politische Einordnung ergibt folgendes Bild:
- Kandidaten, die die Regierung Tusk (mehr oder weniger) unterstützen: 40,6 %
- Rechtsgerichtete Kandidaten in klarer Opposition zur Regierung: 51,4 %
- Linke Oppositionskandidaten: 4,8 %
- Sonstige: 3,1 %
Trzaskowskis Vorsprung ist also trügerisch – die zweite Runde dürfte zum Kraftakt für das Regierungslager werden.
Polens Präsidentenwahl: Zwei ernste Warnsignale für die Demokratie
Polityka, 19. Mai 2025
Die erste Runde der Präsidentschaftswahlen hat zwei deutliche Warnsignale gesendet: Zwar liegt Rafal Trzaskowski (KO) mit 31,4 Prozent vor Karol Nawrocki (unterstützt von der PiS) mit 29,5 Prozent, doch insgesamt entfielen über 51 Prozent der Stimmen auf rechtskonservative bis rechtsextreme Kandidaten. Die demokratischen Kräfte stehen unter Druck – die „braune Flut“ steigt.
Szymon Holownia (Polska 2050) sprach nach der Bekanntgabe der Ergebnisse von einer „gelben Karte“, die die Wählerschaft der demokratische Koalition gezeigt habe. Eine treffende Metapher: Die Gegner der verfassungsmäßigen Ordnung haben ihre Stärke demonstriert.
Nawrocki wiederum appellierte bereits an Slawomir Mentzen (Konfederacja), gemeinsam „Polen zu retten“, da sie „das Gleiche wollen“. Holownia bat seine Wähler:innen, Trzaskowski im zweiten Wahlgang „eine Chance zu geben“. Magdalena Biejat (Nowa Lewica) äußerte sich zurückhaltend, zeigte sich aber gesprächsbereit. Auch Ex-Präsident Aleksander Kwasniewski kündigte an, für Trzaskowski stimmen zu wollen.
Besorgniserregend ist auch der Blick auf die jüngste Wählergruppe: Dort lag Mentzen mit 36,1 Prozent vorn, gefolgt von Adrian Zandberg (Razem) mit 19,7 Prozent. Auch das ist ein deutliches Warnsignal.
Der zweite Wahlgang wird von klaren Kontrasten geprägt sein: Nawrocki als nationalkonservativer Anti-EU-Kandidat – gegen den Euro, gegen den EU-Migrationspakt, gegen „Tusk-Nachfolger“ Trzaskowski. Dieser wiederum stellt die Reform der Justiz, die Abschaffung des restriktiven Abtreibungsgesetzes, die Auflösung des Kirchenfonds und eine echte Trennung von Kirche und Staat in Aussicht. „Unter der rot-weißen Flagge ist Platz für alle“, erklärte Trzaskowski.
Eine mögliche TV-Debatte zwischen Trzaskowski und Nawrocki könnte sich – gerade in dieser angespannten Situation – als entscheidender Moment für den Ausgang der Wahl erweisen.
Zwei Lager, zwei Märsche: Warschau gespalten vor der Stichwahl
OKO.press, 25. Mai 2025
Am Sonntagmittag marschierten in Warschau Tausende durch die Straßen – doch in zwei völlig verschiedenen Richtungen: Der „Große Marsch der Patrioten“ unter der Führung von Rafal Trzaskowski und der „Marsch für Polen“ mit Karol Nawrocki an der Spitze machten deutlich, wie gespalten das Land vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl ist.
Im Trzaskowski-Lager wehten nicht nur polnische, sondern auch zahlreiche EU-Flaggen. Im Nawrocki-Lager hingegen suchte man europäische Symbole vergeblich – dafür dominierten rot-weiße polnische Fahnen und auch die Flagge der USA.
Die einen: „Wir glauben an Kultur, Frieden, Freundschaft“
Ania und Radek aus der Trzaskowski-Demo geben sich kämpferisch:
Wir waren vom Ergebnis der ersten Runde enttäuscht, aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Wir glauben an Kultur, Frieden, Freundschaft – und auf der anderen Seite herrscht Feindseligkeit. Nawrocki, Mentzen, Braun ... vor allem Braun. Ein unheimlicher Mensch, ein Heuchler und Zyniker. Trotzdem glaube wir daran, dass am 1. Juni alles gut gehen wird. Ein eloquenter, kompetenter Mann wird gewinnen.
Antek, 26 Jahre alt, sagt:
Ich habe für Zandberg gestimmt – vor dem Ergebnis von Braun hatte ich Angst. Rafal ist nicht mein Kandidat, aber ich zweifle nicht an dem, was ich tun sollte. Ich habe in der ersten Runde für meinen Kandidaten gestimmt. Razem unterstützt niemanden, wir denken selbst, darüber bin ich froh. Niemand in meinem linken Freundeskreis behauptet, dass beide Kandidaten scheiße sind. Nawrocki ist ein Radikaler im Anzug. Wenn ich Kommentare lese, dass es unter uns linken Wählern Verräter und auch Radikale gibt, dann muss ich lachen. Manche Leute suchen sich ihre Feinde nicht dort, wo sie sein müssten.
Die anderen: „Sie wollen uns die Wahl stehlen“
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums herrscht Misstrauen und Wut. Ein älterer Teilnehmer des Nawrocki-Marsches aus den Reihen der „Clubs der Gazeta Polska“ (ein Netzwerk politisch engagierter, meist konservativer bis rechtsnationaler Bürgerinitiativen, die sich rund um die rechtskonservative Wochenzeitung Gazeta Polska gebildet haben) trägt eine Baseballmütze mit der Aufschrift „I've got fun to do“ und spricht gegenüber einem Reporter von einem bevorstehenden Wahlbetrug:
Sie wollen uns die Wahl stehlen. Und wenn es knapp wird, bringt Tusk mit Scholz [bzw. Deutschland, Anm. d. Red.] die Dienste [gemeint sind nebulös Geheimdienste, Polizei oder Sicherheitskräfte, Anm. d. Red.] auf die Straße.
Ihr wollt, dass Polen ein fremdes Land ist? Ihr versteht hier in Warschau gar nichts.
Kurz darauf stimmt die Menge „Karol Nawrocki, Präsident von Polen“ an. Der Marsch zieht unter Polonaise-Klängen den Königsweg entlang.
Trzaskowski trifft Mentzen
onet.pl, 25.05.2025
Samstagabend trafen sich Rafal Trzaskowski, Kandidat der Bürgerkoalition (KO), und Slawomir Mentzen, Vorsitzender der rechtslibertären Konfederacja, zu einem fast zweistündigen Gespräch. Ziel des Treffens war es laut Mentzen, seiner Wählerschaft eine Orientierung für die Stichwahl zu geben.
Politikwissenschaftlerin Dr. Anna Materska-Sosnowska hebt den Kontrast zu einem früheren Treffen Mentzens mit dem nationalkonservativen Kandidaten Karol Nawrocki hervor. Während dort eher Machtpolitik und strategisches Kalkül dominierten, sei das Gespräch mit Trzaskowski ein Beispiel für eine demokratische Streitkultur gewesen – Politisieren im besten Sinne: kein Drängen, sondern argumentatives Werben um Vertrauen.
Trzaskowski verweigerte zwar die Unterschrift unter Mentzens Acht-Punkte-Forderungskatalog, signalisierte jedoch Zustimmung in einzelnen Punkten. Politikwissenschaftlerin Dr. Anna Materska-Sosnowska sieht darin ein starkes Zeichen:
Ein Politiker – insbesondere ein Präsidentschaftskandidat – sollte sich nicht bedingungslos auf die Bedingungen eines politischen Rivalen einlassen. Dass Trzaskowski das nicht getan hat, spricht für ihn. Gleichzeitig hat er der Wählerschaft der Konfederacja gezeigt, dass er gesprächsbereit ist und einen Plan hat.
Sie lobt die Wirkung des Treffens auf das Wählerpotenzial:
Trzaskowski hat damit möglicherweise einige Stimmen aus dem Lager der Konfederacja gewonnen. Er hat deutlich gemacht, dass ihn Inhalte bewegen und dass es trotz politischer Differenzen auch Überschneidungen gibt. Schließlich ist die Bürgerplattform [PO, Trzaskowskis eigentliche Partei, ist Teil der KO, Anm. d. Red.] eine christlich-demokratische Partei, die in Europa dem Mitte-rechts-Spektrum zugeordnet wird.
Nach dem Gespräch gingen Trzaskowski und Mentzen noch auf ein Bier mit Außenminister Radoslaw Sikorski, der das Treffen in einem kurzen Video unter dem Titel „Für ein Polen, das eint, nicht spaltet“ in den sozialen Netzwerken verbreitet. Die zahlreichen Reaktionen fielen gemischt aus: Während viele Politiker der KO den Austausch begrüßten, kam aus den Reihen der Konfederacja scharfe Kritik.
Trzaskowski vs. Nawrocki – Wer überzeugte bei der TV-Debatte?
Fast zwei Stunden lang stellten sich die beiden Präsidentschaftskandidaten Rafal Trzaskowski und Karol Nawrocki live im Fernsehen dem direkten Schlagabtausch. Die OKO.press-Redaktion verfolgte und kommentierte die Debatte in Echtzeit.
Piotr Pacewicz:
Trzaskowski war insgesamt zurückhaltend, hat schwierige Themen eher umgangen und Nawrocki nicht immer gedrängt, klar zu antworten. Aber er wirkte wie der bessere Mensch – ruhig, aber substanziell. Nawrocki hingegen suchte nach Angriffspunkten, vermied den Blick ins Publikum und konnte wohl kein Vertrauen aufbauen, weil ihm auch das rhetorische Gewicht fehlte. Er versuchte, sich als Stimme des Volkes gegen die Eliten und gegen Warschau zu inszenieren – eine Rolle, die Trzaskowski schwer hätte einnehmen können. Doch Nawrocki blieb dabei nicht konsequent genug. Für verschwörungsgläubige Wähler mag Trzaskowski wie eine alte Jungfer gewirkt haben – aber insgesamt hatte er das bessere Ende.
Magdalena Chrzczonowicz, Chefredakteurin von OKO.press:
Die Debatte hat Trzaskowski gewonnen. Nawrocki war zu Beginn klar besser – brillant, präzise, treffsicher. Trzaskowski wirkte zunächst zu vage und hat versäumt, aus seinem Amt als Warschauer Stadtpräsident Kapital zu schlagen. Immerhin hätte er ein ganzes Arsenal an Zahlen und Erfahrungen zur Verfügung gehabt, um seine Erfolge und Misserfolge (denn auch daraus kann man Nutzen ziehen) darzustellen. Doch ab dem zweiten Drittel kam er immer besser in Fahrt, gewann an Kraft und übernahm die Führung.
Anna Mierzynska, OKO.press-Redakteurin und Desinformationsexpertin:
Für mich hat Trzaskowski gewonnen. Er startete schwächer, aber fand seine Resonanz wieder. Er war authentisch, sprach die Menschen direkt an, und man merkte, dass er wusste, wovon er redet. Nawrocki hingegen trug eine aufgesetzte Maske, konnte seine Gereiztheit kaum verbergen, sprach oft wirr und wirkte fahrig. Er wollte angreifen, aber es gelang ihm nicht – stattdessen wiederholte er mehrfach rechte Desinformationsnarrative.
Prof. Stanislaw Obirek: Vor der Stichwahl – Podkarpacie ist nicht verloren
Wie viele andere Menschen in Polen verfolge ich die Ergebnisse der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am 18. Mai aufmerksam und sehe dem zweiten Wahlgang am 1. Juni mit einer Mischung aus Sorge und Hoffnung entgegen. Hoffnung macht mir unter anderem das Ergebnis der Kommunalwahlen in Rumänien, wo der pro-europäische Bürgermeister von Bukarest, Nicusor Dan, siegte – gegen den rechtsradikalen George Simion, der in Verbindung zu Putins Russland steht und kürzlich noch bei einer Veranstaltung von Karol Nawrocki zu Gast war.
Ich selbst stamme aus der Woiwodschaft Karpatenvorland (Podkarpacie) – umso interessierter bin ich an den Wahlergebnissen aus dieser Region. Im ersten Wahlgang lag Nawrocki hier mit 42,77 Prozent klar vorne. Trzaskowski folgte mit 17,90 Prozent, knapp vor Mentzen mit 17,59 Prozent. Das entsprach weitgehend den Umfragen – nur dass Mentzen dort noch auf Platz zwei gesehen wurde. Grzegorz Braun, der viertplazierte kam auf 9,22 Prozent. In Podkarpacie ist Nawrocki damit der Favorit – nicht zuletzt, weil Mentzen und Braun ihm ideologisch nahestehen, auch wenn sie sich von der PiS distanzieren. Und trotzdem: Ich glaube nicht, dass alles entschieden ist. Wenn Trzaskowskis Team hier sein Potenzial nutzt, ist viel möglich. Das gilt übrigens für den ganzen Osten des Landes, wo im ersten Wahlgang mehrheitlich rechtsradikal gewählt wurde – aber auch dort gibt es Risse.
So berichtete Radio Rzeszów, dass Trzaskowski in der Stadt Rzeszów (29,34 Prozent), in Tarnobrzeg (33,91 Prozent) und in der Gemeinde Cisna (37,55 Prozent) vorn lag. In Städten liegt er ohnehin landesweit vorne. Aber Cisna ist ein Sonderfall – hier war lange Zeit Elzbieta Lukacijewska, heutige PO-Abgeordnete, Bürgermeisterin. Auch in der benachbarten Gemeinde Komancza lag Trzaskowski mit 30,35 Prozent vor Nawrocki (28,69). Es ist also möglich – wenn man es wirklich will.
Mein Kollege Zbigniew Welyczko, Abgeordneter aus Ruda Rózaniecka (der Heimat meiner Familie), sieht die Lage dagegen eher düster. Ich schätze seine Einschätzungen sehr – er ist nicht nur Lokalpolitiker, sondern auch ein linker Aktivist in einer schwierigen Region, die fest in der Hand des Klerus und der rechten Politik ist. Die Rechte weiß dort: Auf die Kirche kann man zählen.
Im Juli 2023 organisierte Zbyszek ein Treffen mit mir in Lubaczów, bei dem ich mit lokalen Vertreter:innen der Linken und der Selbstverwaltung sprach (die Rechten waren dem Gespräch erwartungsgemäß ferngeblieben). Ich weiß daher aus erster Hand, dass Podkarpacie nicht nur aus PiS-Wähler:innen und Faschist:innen besteht. Die Wahlergebnisse vom 18. Mai spiegeln auch das Versagen der Regierung wider, ihre Versprechen aus dem Oktober 2023 einzuhalten.
Insofern stimme ich zu: Die Wahl war eine gelbe Karte für die Regierung – aber vor allem für Donald Tusk. Meiner Meinung nach sollte er Rafal Trzaskowski mehr Spielraum geben. Während des Wahlkampfs war zu spüren, wie eng das Kontrollnetz der Parteiführung gestrickt ist. Das kommt bei jungen Leuten nicht gut an. Sie haben keine Lust mehr auf den Dauerkonflikt zwischen Tusk und Kaczynski, zwischen PO und PiS. Sie wollen Politik für sich machen. Vielleicht erklärt das auch den Zuspruch für Mentzen, der den Eindruck erweckt, er wolle das Land jungen, entschlossenen Männern überlassen.
Zbyszek schrieb mir unmittelbar nach dem ersten Wahlgang:
Das schwarze Szenario tritt ein: Der Weltfaschismus erhebt sein Haupt – auch bei uns. Junge Menschen fallen auf die populistischen Parolen von Mentzen und Braun herein. Die Linke ist gespalten, kompromittiert durch ihre Führung. Die Regierung hält ihre Versprechen nicht. Der Episkopat regiert das Land aus der zweiten Reihe, unterstützt die, die ihn bezahlen – und wird das weiter tun. Mental leben wir immer noch in Minsk. Eine Sehnsucht nach autoritärer Führung? Die 1920er sind vorbei. Ich sehe da schwarz. Wir lernen nichts aus der Geschichte.“
Ich teile Zbysieks Pessimismus nicht, aber ich verstehe ihn. Wir kommen aus ähnlichen Verhältnissen, haben vergleichbare politische Haltungen und eine kritische Sicht auf die Rolle der Kirche im öffentlichen Leben. Ich glaube, dass sich unsere Sichtweise in dieser Region durchsetzen kann – aber dafür braucht es mehr Unterstützung aus Warschau.
Mein Appell an die Freund:innen in der Hauptstadt: Geht raus aufs Land – besonders ins Karpatenvorland – und gebt den dortigen Aktivist:innen den nötigen Rückenwind. Dann kann Trzaskowski nicht nur in Rzeszów, Tarnobrzeg, Cisna und Komancza gewinnen, sondern auch in Lubaczów, Narol und Ruda Rózaniecka.
Dariusz Zalega über Klassensolidarität und rechten Kulturkampf
Ein Drittel der polnischen Arbeitnehmer:innen hat für Mentzen und Braun gestimmt – also für Leute, die das Arbeitsrecht schleifen und alles privatisieren würden, was ihnen in die Hände fällt. Leider ist das kein rein polnisches Phänomen. Der Verlust sozialer Solidarität – etwa unter Bergarbeitern – ist schon seit Langem belegt, wie soziologische Studien zeigen. Auch die Gewerkschaften haben ihren Teil dazu beigetragen: Viele von ihnen haben sich längst in bequeme Büroapparate verwandelt.
Das bedeutet natürlich nicht, dass soziale Klassen verschwunden wären – aber das Klassenbewusstsein ist es. Es ist in einer Massenkultur verschwommen, die sich um Selbstoptimierung und Individualismus dreht. Die Rechte hat es geschafft, den Blick weg von den Reichen und Konzernen zu lenken – hin zu den Ausgegrenzten. Denn es ist einfacher, einen Ukrainer zu beschimpfen als den Chef eines Unternehmens. Aber das hat es alles schon einmal gegeben – zum Beispiel im Schlesien des 19. Jahrhunderts. Damals war es die viel mächtigere Kirche, heute ist es die Massenkultur, die das Denken prägt. Und doch: Auch damals gab es eine Gegenbewegung. Die Aufgabe ist also heute die gleiche – für eine menschlichere Welt zu kämpfen, in der uns nicht die Reichen verklagen und wir uns nicht gegenseitig umbringen.
Und fällt es Ihnen auch auf? Diejenigen, die am wenigsten solidarisch sind, gelten als die „echten Polen“ – obwohl gerade die extreme Rechte, also Braun und Mentzen, gegen öffentliche Gesundheitsversorgung und Bildung wettert. Mentzen verkauft den Unsinn, dass der Wettbewerb unter privaten Krankenversicherern die Versorgung verbessere – und nennt dabei ausgerechnet das US-amerikanische Gesundheitssystem als Vorbild. Vom Arbeitsrecht will man da gar nicht erst anfangen.
Aber das ist nicht nur ein polnisches Problem: Ein aus der Luft gegriffenes Anti-Ukraine- oder Anti-LGBT-Narrativ genügt oft, um Menschen dazu zu bringen, gegen ihre eigenen Interessen zu stimmen. Trump hat es vorgemacht – ein Präsident für die Reichen, der sich dennoch als Stimme der „einfachen Leute“ inszeniert. Die Jünger von Korwin verfolgen dieselbe Strategie: Sie wollen nicht zugeben, dass sie aufseiten der Eliten stehen, weil sie sich selbst als Teil davon fühlen – also verlagern sie die Schuld auf andere arme Menschen, weil diese eine andere Herkunft oder Hautfarbe haben. Auch das hat die Geschichte schon erlebt.
Der Storch hat dich in Polen abgesetzt, nicht in Mali oder Deutschland – und deshalb sollst du dumm sein. Aber genau so funktioniert politische Manipulation: Es geht nicht um echte Probleme, sondern um emotional aufgeladene Scheinprobleme. Weil das einfacher ist.
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