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Kunst 1. Mai 2025

Der Abschlussbericht zum Antisemitismus bei der documenta 15
von Aram Ziai

Selten war eine Kunstausstellung so in der öffentlichen Kritik wie die documenta 15, die von Juni bis September 2022 in Kassel stattfand und aufgrund der starken Beteiligung von Kunstkollektiven aus dem globalen Süden als »postkolonial« galt. Die Auseinandersetzungen sind nicht isoliert zu betrachten, sondern bewegen sich zwischen dem »Nahostkonflikt« einerseits und der Anerkennung de- und postkolonialer Perspektiven andererseits.

Bereits im Vorfeld wurden Künstler:innen des Antisemitismus bezichtigt, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warnte davor in seiner Eröffnungsrede, und die Medienberichterstattung richtete sich in den folgenden Monaten weit mehr auf Antisemitismusvorwürfe als auf die eigentlichen Inhalte der Ausstellung.

Im August 2022 wurde ein »Gremium zur fachwissenschaftlichen Begleitung der documenta 15« ins Leben gerufen, das den Vorwürfen auf den Grund gehen sollte.
»Die documenta fifteen fungierte als Echokammer für israelbezogenen Antisemitismus, und manchmal auch für Antisemitismus pur,« hieß es im 2023 im Abschlussbericht. Er wirft der documenta vor, »jüdische Perspektiven« nicht beachtet zu haben.
Die Verfasser:innen geben an, sich hinsichtlich der Kontroverse zwischen IHRA- und JDA-Definition auf eine »Minimaldefinition des israelbezogenen Antisemitismus« zu beziehen, die »weitgehend von beiden Definitionen gedeckt« sei. Die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA 2016) bezieht explizit »Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten« ein. Die in Abgrenzung dazu formulierte Definition der Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA 2021) umfasst »Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden«, versteht aber Antizionismus, Boykott und Israelkritik, die sich auch gegen rassistische Diskriminierung dort richten kann, explizit nicht als antisemitisch.
Tatsächlich orientiert sich der Bericht sehr deutlich an der IHRA-Definition und ihrem Fokus auf israelbezogenem Antisemitismus. Dies wird unterstrichen durch die regelmäßig auftretende Aussage, die Ausstellung richte überproportionaleAufmerksamkeit auf Israel und sei »einseitig antiisraelisch«. Einziger Beleg dafür sind die vier im Bericht untersuchten Kunstwerke. Dies spricht (bei mehreren tausend ausgestellten Kunstwerken) nicht unbedingt für eine überproportionale Aufmerksamkeit.

Analyse der Kunstwerke
In der Analyse der vier Kunstwerke – »People’s Justice« von Taring Padi, die Filmkompilation »Tokyo Reels« von Subversive Film, der Bildzyklus »Guernica Gaza« von Mohammed Al Hawajri und die Broschüre »Présence de femmes« präsentiert vom Kollektiv Archives des luttes des femmes en Algérie – geht der Bericht überwiegend wissenschaftlich und differenziert vor.
Am klarsten ist die Sachlage beim überdimensionalen Wimmelbild »People’s Justice« des indonesischen Künstler:innenkollektivs Taring Padi, das eine Abrechnung mit der Suharto-Diktatur darstellt. Eine Figur stellt einen jüdischen Mann mit Schläfenlocken, Zigarre, Vampirzähnen und SS-Emblem dar, eine andere einen Mossad-Agenten mit Davidstern und Schweineschnauze. Zurecht identifiziert der Bericht hier eindeutig antisemitische visuelle Codes (der Jude als blutsaugender Kapitalist, als Nazi und als Schwein). Dass die Überbetonung Israels in der Unterstützung der indonesischen Diktatur ebenfalls ein antisemitisches Muster bediene, erscheint weniger plausibel.
»Tokyo Reels« ist eine Zusammenstellung aus 20 Filmen zur Geschichte Palästinas, die dem Kollektiv Subversive Films von einem ehemaligen Mitglied der Japanischen Roten Armee (die u.a. 1972 einen Terroranschlag in Tel Aviv mit 26 Todesopfern verübte) übergeben wurde.
Als antisemitisch identifiziert der Bericht eine Abbildung der USA-Flagge in einem Film, bei der die Sterne durch einen Davidstern ersetzt wurden. Antisemitisch sei weiterhin die einseitige Darstellung des Nahostkonflikts, v.a. des Massakers von Sabra und Shatila 1982, in der behauptet wird, Kinder seien die Hauptopfer des Kriegs gewesen, Israel sei »faschistisch« und an den Morden im Flüchtlingslager beteiligt gewesen, hätte Zivilpersonen in Krankenhäusern ermordet.
Außerdem sei der jüdische US-Außenminister Kissinger »führender Kopf des Libanonkriegs« gewesen. Das gesamte Korpus von »Tokyo Reels«, so der Bericht, stelle »die Existenz Israels infrage«. Indem »die Filmbeiträge das Land als Quelle allen Übels im Nahen Osten darstellen, delegitimieren sie einerseits Israels Existenz und treten andererseits für Gewalt gegen Israel ein«.
Dass die Vorstellung der Juden als Strippenzieher der US-Politik (so die plausible Deutung der verfremdeten Flagge) ein antisemitisches verschwörungstheoretisches Motiv ist, steht außer Frage. Die Titulierung Kissingers als antisemitisch zu beurteilen, ist dagegen fragwürdig – der Einfluss des US-Außenministers auf den Konflikt erscheint nicht ohne weiteres als antisemitische Verschwörungstheorie, auch wenn seine Kennzeichnung als »jüdisch« hier bereits in die Richtung weist.
Die Einordnung der gesamten antiisraelischen Propaganda der Filme als Antisemitismus ist nur mit einer tendenziellen Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus und im Rahmen der vagen IHRA-Definition plausibel, im Rahmen der JDA gilt auch übertriebene Kritik nicht per se als antisemitisch, solange sie fakten- und nicht verschwörungsbasiert ist.
Auch von Antisemitismus auszugehen, weil Israel als faschistisch bezeichnet wird und somit ein Nazivergleich und eine Täter-Opfer-Umkehr vorliege, ist nicht zwingend. Es gab und gibt durchaus Faschismen jenseits des NS, polemische und aggressive politische Rhetorik findet sich in ähnlicher Weise in anderen Konflikten, und dass jüdische Menschen im Holocaust Opfer waren, ist keine Garantie, dass jüdische Menschen in anderen Perioden und Machtkonstellationen nicht auch Täter sein können.
Das Verschweigen jüdischer Terroropfer und Aufrufe zur Gewalt, wie sie in der Propaganda der »Tokyo Reels« vorkommen, sind hochgradig problematisch. Nach der JDA sind solche Aufrufe allerdings nur dann antisemitisch, wenn sie sich gegen jüdische Menschen als jüdische Menschen richten, und nicht als Besatzer:innen.

Guernica Gaza
Das dritte Beispiel sind die fünf Werke aus der Bilderserie »Guernica Gaza« des aus Gaza stammenden Künstlers Mohammed Al Hawajri.
Dies sind Collagen aus bekannten Gemälden europäischer Künstler, die modifiziert und in den Kontext des Israel/Palästina-Konflikts transportiert werden (durch Abbildung israelischer Soldaten oder der Sperrmauer im Westjordanland). Die Frage des Antisemitismus macht der Bericht abhängig davon, worauf sich der Titel bezieht: Verweist er auf das historische Ereignis (die Bombardierung der baskischen Stadt Guernica im spanischen Bürgerkrieg durch die deutsche Luftwaffe 1937), »dann setzt das Werk die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte mit den Nazi-Truppen gleich« und sei antisemitisch. Verweist es auf das Gemälde von Picasso, das als bekanntes Symbol gegen die Barbarei des Krieges gilt, könne nicht unbedingt von Antisemitismus gesprochen werden. Daher verortet der Bericht die Bilder in einer »Grauzone«, beide Lesarten seien möglich.
Diese differenzierende Abwägung ist zunächst begrüßenswert, doch Gemälde und historisches Ereignis sind natürlich miteinander verwoben. Und erneut ist der Antisemitismusvorwurf nur auf der Grundlage der IHRA-Definition plausibel (Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nazis), während die Schwelle für Antisemitismus bei der JDA weit höher liegt (Verharmlosung oder Leugnung des Holocaust). Auch die weiteren im Bericht genannten Indizien für Antisemitismus sind problematisch: Es wird argumentiert, die Bilder würden »die manichäische Vorstellung verbreiten, Juden und Jüdinnen seien zutiefst böse und ihre Opfer durch und durch unschuldig«.
Zutreffend ist, dass bewaffnete Soldaten mit einer wehrlosen Landbevölkerung kontrastiert werden; eine entsprechende Interpretation »böse vs. unschuldig« ist sicher naheliegend. Aber im Unterschied zu tradierten antisemitischen Feindbildern aus dem Nationalsozialismus oder dem religiösen Antijudaismus haben die Übergriffe der israelischen Armee eine reale Grundlage und sind nicht verschwörungstheoretische Fiktion wie etwa die Protokolle der Weisen von Zion.
Trotz der selektiven Besetzung und der Nichteinbeziehung postkolonialer Positionen im Fachgremium und eines stark IHRA-orientierten Antisemitismusbegriffs konnte offenbar jenseits der stereotypen, abwertenden und z.T. dämonisierenden Darstellung jüdischer Menschen in zwei Kunstwerken (zur Erinnerung: von mutmaßlich mehreren tausend) ein Konsens lediglich hinsichtlich des israelbezogenen Antisemitismus von »Tokyo Reels« erreicht werden, die Fälle »Guernica Gaza« und die Zeichnungen Karkutlis blieben bis zuletzt umstritten. Dennoch wird auf dieser Grundlage behauptet »Die documenta fifteen fungierte als Echokammer für israelbezogenen Antisemitismus, und manchmal auch für Antisemitismus pur.«
Haltbar sind die im Bericht gemachten Vorwürfe allenfalls unter ganz spezifischen Bedingungen, der Vorwurf des israelbezogenen Antisemitismus nur in einzelnen Fällen und nur auf der Grundlage der IHRA-Definition.
Der Vorwurf einer Missachtung jüdischer Perspektiven ist nur dann plausibel, wenn rechtszionistische Perspektiven der israelischen Regierung oder des Zentralrats der Juden als einzig legitime jüdische Perspektiven angesehen und andere ausgeblendet werden.
Der Bericht kann als Teil einer »autoritären Formierung« der Antisemitismuskritik interpretiert werden, die den Vorwurf des Antisemitismus zur Abwehr der Kritik an der israelischen Politik instrumentalisiert, wie es auf der Konferenz »Hijacking Memory« 2022 des Einstein-Forums ausführlich von überwiegend jüdischen bzw. israelischen Wissenschaftler:innen diskutiert worden ist.

Gekürzt aus: Peripherie, Nr.174/175, 2024. Der Autor ist Professor für Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien an der Universität Kassel.

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