Die Tarifrunde vertieft den Riss zwischen Basis und Gewerkschaftsführung
von Andreas Buderus
»Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d.h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.«
Karl Marx: Lohn, Preis und Profit, 1865
Das am 6. April von Ver.di-Chef Werneke präsentierte Tarifergebnis für die 2,5 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst hat in weiten Teilen der Mitgliedschaft für Enttäuschung und Empörung gesorgt.
Was der Ver.di-Bundesvorstand empfiehlt, ist nahezu die 1:1-Übernahme des vom Rechtsaußen-CDU-Mann Roland Koch erdachten »Schlichtungsergebnisses«. Es steht im eklatanten Widerspruch zu den von Ver.di ursprünglich erhobenen Forderungen.
Ver.di hatte für eine Laufzeit von zwölf Monaten eine Lohnerhöhung von 8 Prozent, mindestens jedoch 350 Euro gefordert – für Ausbildungsvergütung und Entgelte für Praktikant:innen sollte es monatlich 200 Euro mehr geben. Im Gegensatz dazu bietet das jetzt empfohlene Ergebnis bei einer Laufzeit von 27 Monaten für drei Monate erstmal gar keine Lohnerhöhung, anschließend 3 Prozent bis April 2026 und dann weitere 2,8 Prozent.
Das liegt nicht nur deutlich unter der aktuellen durchschnittlichen Inflationsrate von 2,4 Prozent, es liegt insbesondere unter den Kostensteigerungen für Mieten (+6 Prozent), Energie (+3 Prozent), Lebensmittel (+ 4 bis +5 Prozent), Mobilität (+ 5 bis +10 Prozent), für kommunale KiTa-Gebühren (teilweise +20 Prozent, Abschaffung beitragsfreier Kita-Jahre usw.) – also jenen Kostenblöcken, die für abhängig beschäftigte Durchschnitts- und Wenigverdiener:innen besonders stark zu Buche schlagen.
Außerdem gibt es statt Entlastung und Arbeitszeitverkürzung jetzt Arbeitsverdichtung und freie Tage nur gegen Lohnverzicht.
Abschied vom Achtstundentag
Zu den ursprünglichen Forderungen gehörten zudem: drei zusätzliche Urlaubstage, die Rückkehr zur 38,5-Stunden-Woche, eine Wiederermöglichung und Neuregelung von Altersteilzeit, eine bezahlte Pause für Beschäftigte in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen in der Wechselschicht.
Geblieben ist davon fast nichts: ein einzelner freier Tag ab 2027. Weitere, maximal drei freie Tage gibt es nur bei einer »Umwandlung«, d.h. wenn auf Teile oder auf die gesamte Jahressonderzahlung verzichtet wird (es gibt ohnehin kein echtes 13. Monatsgehalt) – d.h. Beschäftigte müssen sich die freien Tagen mit ihrem Lohn »erkaufen«. Und für die Kolleg:innen in den Krankenhäusern gilt selbst das nicht einmal. Die Arbeitgeber hätten »darauf bestanden, dass die Kolleg:innen in den Krankenhäusern und der Pflege von diesem Wahlmodell ausgenommen werden«, so die offizielle Ver.di-Erklärung. Dies sei seitens der Arbeitgeber »mit der dünnen Personaldecke begründet« worden.
Statt Solidarität und sozialer Gerechtigkeit vertieft das vorgeschlagene Ergebnis weiter die soziale Kluft und spaltet die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. Denn die Erhöhung der Jahressonderzahlung bevorzugt deutlich die höheren Entgeltgruppen: Während die unteren Lohngruppen bis EG 8 nur 0,5 Prozent erhalten (in Krankenhäusern um 5,5 Prozent), sind es in der nächsthöheren Stufe 15 Prozent, in der höchsten Lohngruppen ab EG 13 sogar 33 Prozent. Beschäftigte in unteren Lohngruppen – oft Frauen und Migrant:innen – haben also wieder einmal das Nachsehen.
Es gibt einen weiteren gefährlichen Kurswechsel: Mit der Option zur »freiwilligen« 42-Stunden-Woche wird der tarifvertraglich geregelte Achtstundentag faktisch abgeschafft.
Denn was als »freiwillig« daherkommt, ist angesichts von Personalmangel und ökonomischem Druck ein faktischer Zwang. Vor allem prekär Beschäftigte werden keine Wahl haben. Die Aushöhlung des Achtstundentags ist der Einstieg zum Abbau weiterer hart erkämpfter sozialer Standards, wie sie die Arbeitgeberverbände fordern: Einschränkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall; Verlängerung der gesetzlichen Arbeitszeit; Abschaffung von Feiertagen; massive Einschränkungen des Streikrechts.
Selbst Ver.di-Chef und Verhandlungsführer Frank Werneke ist das offensichtlich nicht verborgen geblieben, weshalb er sich auch in der Pressekonferenz zu der Bemerkung hinreißen ließ, dass niemand gedrängt werden könne, mehr zu arbeiten. »Und: Wer freiwillig mehr arbeitet, erhält für die zusätzlichen Stunden einen Aufschlag.«
Was seitens der Gewerkschaftsführung als »schwieriger Abschluss in schwierigen Zeiten« verkauft wird, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein weiterer schmerzlicher Rückschritt: ökonomisch, sozialpolitisch und gewerkschaftspolitisch.
Ein tiefer Riss
Die Diskrepanz zwischen den ursprünglichen Forderungen der Gewerkschaft und der mit der Mehrheit der gewerkschaftlichen Tarifkommission empfohlenen »Einigung« könnte größer kaum sein. Sie offenbart einen tiefen Riss zwischen der gewerkschaftlichen Führung und der in den vergangenen Monaten mobilisierten, engagierten Mitgliedschaft. Wiederholte und teilweise mehrtägige Warnstreiks mit großer Beteiligung bis in die Stadtverwaltungen, Flughafenstreiks, Bestreiken von Schleusen der Wasserschifffahrt und der OPs in den Krankenhäusern zeigen deutlich, dass die Ver.di-Basis bereit ist, für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen aktiv zu werden.
Selbst die offizielle Ver.di-Verlautbarung erwähnte, dass der Beschluss der Tarifkommission nur »mit Mehrheit«, und das auch noch nach »langer und kontroverser Debatte« erfolgte.
Das lässt erahnen, dass der innerorganisatorische Riss bereits bis tief in die Gremien reicht. Gut unterrichteten Kreisen zufolge sollen immerhin 37 der 99 Mitglieder gegen die Empfehlung gestimmt haben, darunter alle Mitglieder aus dem Landesbezirk NRW, nur 51 sollen zugestimmt haben.
Das ist umso bemerkenswerter, als es gut gepflegte gewerkschaftliche Tradition ist, dass Tarifkommissionen Geschlossenheit demonstrieren und, wenn schon nicht »einstimmig«, dann mindestens »mit großer Mehrheit« beschließen – dies umso mehr, je größer der Tarifbereich ist und je mehr öffentliche Aufmerksamkeit die jeweilige Tarifrunde hat.
Vor diesem Hintergrund dürfte es für viele Aktive mehr als zynisch klingen, wenn Ver.di jetzt unter der Überschrift »Wir haben eine Einigung!« offiziell konstatiert: »Ein Tarifergebnis ist immer ein Ausdruck von Kräfteverhältnissen. Deshalb war auch die Frage entscheidend: Sehen wir Spielraum, mit diesen Arbeitgebern zu dieser Zeit vor dem Hintergrund neuer politischer Verhältnisse noch mehr rauszuholen? Die Antwort war nein.«
Das Mitgliedervotum steht aus
Offensichtlich soll diese Erklärung der Mitgliedschaft signalisieren: Es ging nicht anders.
Aber noch handelt es sich nicht um eine »Einigung«: Die Tarifrunde ist nach der Satzung und den internen Richtlinien erst nach dem Votum der Mitglieder beendet.
Mit dem nahezu vollständigen Durchmarsch der Schlichterempfehlung senden Bundesvorstand und Bundestarifkommission ein gefährliches und fatales Signal: Die Sparlogik der Kriegswirtschaft wird akzeptiert, Aufrüstung geht vor öffentliche Daseinsvorsorge, weitere soziale Kürzungen und Spaltungen werden hingenommen.
Während vom bereits abgewählten Bundestag per Kreditaufnahme mehr als eine Billion Euro für Rüstung, Kriegsvorbereitung und Kriegsbeteiligung bereitgestellt werden, sollen die 2,5 Millionen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes Reallohnverlust und Arbeitszeitverlängerung hinnehmen, weil angeblich »kein Geld« da sei.
Ein finaler Abschluss auf der Basis der jetzt vorliegenden Empfehlung käme einer Kapitulation vor den Profiteuren der Kriegswirtschaft gleich. Die Mitgliederbefragung läuft bis zum 9.Mai, just bis zum Tag des Sieges über den deutschen Faschismus. Verschiedene gewerkschaftliche Initiativen haben sich zusammengeschlossen, um für einen echten Kurswechsel zu kämpfen – weg von verwalteter Stagnation, hin zu mutigem Widerstand. Dazu gehören das »Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di«; Sagt nein! Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarisierung und Burgfrieden; und die VKG – Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften. Sie wollen die vorläufige Tarifeinigung ablehnen – zusammen mit möglichst vielen anderen Ver.di-Mitgliedern, die sich nicht vor den Kriegskarren spannen lassen wollen.
Der Autor ist seit über 30 Jahren aktiver Gewerkschafter und Mitinitiator der Initiative »Sagt nein! Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden«. Eine Langfassung des Textes erschien in der jungen Welt vom 14.4.
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