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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2014

Gegen die Ethnisierung des Sozialen

von Ulf Petersen

Im Windschatten der syrischen Revolution haben Kurden im Nordosten Syriens ein Gemeinwesen geschaffen, das einen demokratischen und egalitären Entwicklungsweg zu gehen sucht.Anfang 2011 begann der Aufstand gegen die Assad-Regierung. Es folgten die harte Repression durch das Regime und die Militarisierung der Rebellion. Zunehmend wurden ethnische und religiöse Minderheiten wie Christen und Kurden von den islamistischen Teilen der syrischen Opposition bedroht und als potenzielle Verräter gesehen.

Die mit der PKK verbündete Partei der demokratischen Einheit (PYD), die stärkste Kraft unter den syrischen Kurden, hatte schon damals gewarnt, dass es a) nicht reicht das Regime zu stürzen und zu hoffen, dass es dann eine demokratische und friedliche Neuordnung gibt, und b) dass dieser Sturz militärisch nicht schnell und leicht erreicht werden kann. Sie vertritt deshalb eine dritte Position: Gegen Assad und für eine demokratische Revolution, aber gegen die Fortführung des Krieges, der auch ein Stellvertreterkrieg zwischen dem Iran, Russland, China auf der einen und den USA, der EU und den Golfmonarchien auf der anderen Seite ist.

Auf der Grundlage dieser Haltung wurde in Rojava (kurdisch für «Sonnenaufgang») – den vorwiegend kurdischen Gebieten Afrîn, Kobanî (Ain al-Arab) und Cizîre (Jazira) im Norden/Nordosten von Syrien – seit Sommer 2012 eine demokratische Selbstverwaltung bzw. eine Rätedemokratie aufgebaut. Der syrische Staat wurde verdrängt, es gibt eine Art Doppelherrschaft: Einige Einrichtungen des syrischen Staates existieren am Rande der Selbstverwaltung weiter, so wird der Militärflughafen in Qamishlo, der größten Stadt in Rojava, weiterhin vom syrischen Militär benutzt.

Teile der Freien Syrischen Armee (FSA) und andere Oppositionskräfte haben deshalb bisher die Selbstverwaltung in Rojava gemeinsam mit islamistischen Kräften bekämpft. Angesichts der Bedrohung durch den Islamischen Staat (IS, vormals ISIS) wurde aber Anfang September ein gemeinsames Operationskommando der Volksverteidungskräfte aus Rojava (YPG) und der FSA gegründet.

Die 45000 Milizionärinnen und Milizionäre der YPG haben schon lange vor dem Fall der nordirakischen Stadt Mossul im Juli dieses Jahres den Terror von IS/ISIS erfolgreich bekämpft. Anfang August hatten sie gemeinsam mit der Guerilla der PKK der jesidischen Bevölkerung in Sinjar, West-Irak, die Flucht ermöglicht und den Angriff des Islamischen Staates gestoppt.

Der Gesellschaftsvertrag

Am 6.Januar 2014 wurde in der Stadt Amudê ein «Gesellschaftsvertrag» für Rojava verabschiedet, er enthält Grundsätze, die eine Alternative für ganz Syrien bzw. die ganze Region darstellen könnten:

«Die demokratisch-autonome Verwaltung ist Teil eines nicht zentralistisch organisierten zukünftigen Syriens und dessen Vorbild. Ein föderales System ist das passendste Modell für Syrien, und das Verhältnis zwischen den autonomen Verwaltungen und der Zentralregierung Syriens wird auf dieser Grundlage strukturiert.»

Der Gedanke, dass der Staat in die Gesellschaft zurückgenommen werden soll, wurde von einem Ausbilder der Sicherheitskräfte so formuliert: «Wir verstehen uns als Sicherheitskräfte zur Selbstverteidigung der Gesellschaft, nicht des Staates.»

Die Ausstrahlungskraft der primär kurdischen Bewegung auch auf andere Minderheiten gründet auf der Bemühung, die Menschenrechte auch in Kriegszeiten zu schützen:

«Jeder hat das Recht auf politisches Asyl. Keiner, der Asyl beantragt, darf gegen seinen Willen abgeschoben werden ... Die Würde des Menschen ist unantastbar und muss geschützt werden. Niemand darf körperlicher oder psychischer Folter ausgesetzt werden. Wer Folter ausübt, wird bestraft. Für Festgenommene und Inhaftierte werden Bedingungen für ein menschliches Leben geschaffen. Gefängnisse dürfen kein Ort der Bestrafung, sondern müssen als Bildungs- und Rehabilitationszentrum beschaffen sein ... Der Gesellschaftsvertrag garantiert das Recht auf politisches Leben und verbietet die Todesstrafe.»

Der Verzicht auf die Todesstrafe ist für eine Befreiungsbewegung, die sich im Kriegszustand befindet, ein besonderer Schritt. Martin Glasenapp von Medico international stellt dazu fest: «Die kurdische Selbstverwaltung kann auch Fehler zugeben, und das ist im syrischen Krieg eher unüblich. Neulich war ein Team von Human Rights Watch in den kurdischen Regionen, um den Meldungen über Menschenrechtsverletzungen durch die kurdische Polizei nachzugehen ... HRW dokumentierte Fälle von Schlägen in der Haft und auch von der Verfolgung von politischen Aktivisten, die sich in Opposition zur PYD verstehen, sagte aber auch ganz klar, dass es seitens der kurdischen Sicherheitskräfte keinerlei Massaker oder systematische Menschenrechtsverletzungen geben würde ... Die kurdische Regionalverwaltung dankte HRW für den Besuch und entschuldigte sich ausdrücklich für die stattgefundenen Vergehen, die sie mit der Kriegssituation, aber auch mit der jahrzehntelangen Kultur der Gewalt und Folter im alten syrischen Regime erklärte.»

Das großzügige Asylrecht ist ein wichtiges politisches Signal. Flüchtlinge aus Syrien und seit neuem auch die Jesiden aus der Sinjar-Region im Irak wurden zu Zehntausenden aufgenommen und trotz eigener wirtschaftlicher Not versorgt.

Die Sozialstruktur

Rojava ist eine landwirtschaftlich sehr reiche Region. 60% des syrischen Weizens und Öls kommen von dort, außerdem wurde Baumwolle für den syrischen Markt produziert. Die Region hatte bislang für Syrien den Status einer Kolonie. So wurde Getreide zwar produziert, aber nicht gemahlen. Öl wurde nicht in Rojava raffiniert, sondern unter großem Aufwand ins syrische Kerngebiet geleitet. Flucht und Krieg haben nun einen Ausnahmezustand geschaffen, der eine egalitärere Gesellschaftsstruktur und das Fehlen einer reichen Oberschicht hervorbringt.

Ein Vertreter der Bewegung der Demokratischen Gesellschaft TEV-DEM erklärt dazu: «Wir wollen eine soziale und kommunale Ökonomie entwickeln, sie soll vor allem mit dem Aufbau von Kooperativen realisiert werden.»

 Gegen das Patriarchat

In der Eröffnungsrede der 3.Konferenz der Jungen Frauen des Kantons Cizîre findet sich ein weiterer Leitsatz der Bewegung: «Das System der Unterdrückung der Frau, das sich mit der kapitalistischen Moderne verbunden hat, ist die Basis aller Unterdrückung.»

Für alle Institutionen der Selbstverwaltung gilt eine Geschlechterquote von 40%. Real stellen Frauen oft aber die Hälfte oder mehr der Leitungskräfte. Es entsteht der Eindruck einer «Revolution der Frauen». Die Entschlossenheit der Bewegung und die relativ geringe Anzahl der betroffenen Menschen (3,4 Millionen plus die Flüchtlinge) haben zumindest auf politischer Ebene eine weitgehende Veränderung der Geschlechterverhältnisse in kurzer Zeit ermöglicht.

Strategische Bedeutung von Rojava

Im Mai 2014 hat eine Delegation der Kampagne Tatort Kurdistan Rojava besucht. Die Genossen stellten fest: «Rojava ist der Versuch einer Basisorganisierung jenseits der kapitalistischen Moderne und westlichem Interventionismus. Funktioniert das Projekt Rojava, wird dies politische und soziale Auswirkungen weit über den Mittleren Osten hinaus haben. Dies würde die Strategie der NATO-Staaten durchkreuzen.»

Den Nachbarstaaten ist der antikapitalistische Ansatz in Rojava ein Dorn im Auge. Die Türkei hat im Norden einen Zaun und Mauern um Rojava errichtet, Südkurdistan (Nordirak) hat im Osten einen befestigten Graben gezogen, den es nun mit Militärstützpunkten ausbaut, nach Süden ist Rojava durch die Kampfverbände des IS und der Al-Nusra-Front vom Rest Syriens getrennt. Dieses Embargo hat gravierende Folgen für die Bevölkerung. Ohne die kurdische Zivilgesellschaft in der Türkei gäbe es vielleicht schon heute kein Rojava mehr. Die kurdische Bewegung in der Türkei, aber auch in Europa leistet eine große Solidarität.

Es gibt einen Krisen- und Kriegsgürtel von Pakistan bis Gaza und weiter nach Afrika, in dem mit dem Islamischen Staat, al-Qaeda und den anderen jihadistischen Gruppen eine neuartige reaktionäre Bedrohung für alle emanzipatorischen Bestrebungen erwachsen ist. Diese Kräfte treiben die «Ethnisierung des Sozialen» mit aller Macht voran. Eine «Libysierung» und damit tiefe Spaltung der Gesellschaften würde alle Hoffnungen auf eine Fortsetzung der 2011 begonnenen revolutionären Bewegungen in Nordafrika und dem Mittleren Osten zerstören.

Angesichts dieser Situation ist die Unterstützung für Rojava und die Entwicklung politischer Beziehungen zur kurdischen Freiheitsbewegung sehr wichtig für die internationale Linke – so wie in den 1930er Jahre die Solidarität mit der spanischen Linken im Kampf gegen den Faschismus wichtig war.

 

Weitere Informationen auf www.tatortkurdistan.blogsport.de.

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