von Ghayath Naïssé
Wie oft in Revolutionen gibt es eine Kluft zwischen den aufständischen Massen und den Organisationen, die vorgeben, in ihrem Namen zu sprechen. So auch in Syrien, wo gleich zwei große Bündnisse behaupten, die Revolution zu repräsentieren: Dabei lehnt sich das eine an die westlichen imperialistischen Länder und ihre Verbündeten in der Golfregion an, das andere zeichnet sich durch versöhnlerische Positionen gegenüber dem Regime aus. Die syrische Bevölkerung aber will ihre demokratischen Ziele ebenso durchsetzen wie die nationale Unabhängigkeit verteidigen. Nachstehend werden die wichtigsten Strömungen beschrieben.
Der Syrische Nationalrat (SNC)
Im März 2012 versammelte sich die Gruppe der «Freunde Syriens» zum zweiten Mal in Istanbul in Anwesenheit von Vertretern aus 83 Ländern. Die Versammlung erklärte den Syrischen Nationalrat (SNC) zum «Repräsentanten aller Syrer» und «Hauptbestandteil» der syrischen Opposition. Die Erklärung blieb hinter den Ansprüchen des SNC zurück, der sich als «einzigen legitimen Vertreter des Volkes und der Revolution» betrachtet, enthält jedoch eine klare Unterstützung durch die in Istanbul vertretenen Regierungen – vor allem der USA, der EU, Saudi-Arabiens, Qatars und der Türkei, das sind die Paten, die ihm politische, finanzielle und propagandistische Unterstützung gewähren.
Die Gründung des SNC wurde am 2.Oktober 2011 in Istanbul bekannt gegeben, sie stieß auf ein gewisses Echo in der syrischen Revolution, der ein politischer Ausdruck bislang fehlte. Aber der SNC hat seinen Kredit bei den Massen rasch verspielt, weil er nicht demokratisch strukturiert ist, schwammige Erklärungen herausgibt, sich opportunistisch verhält und die Forderungen der Bewegung nicht immer respektiert, weil er der Achse Iran–Hezbollah die Achse Saudi-Arabien–Qatar–Türkei gegenüberstellt, Kompromisse in der Frage der Befreiung der Golan-Höhen eingeht (sie sollen durch «Verhandlungen mit der internationalen Gemeinschaft» wiedererlangt werden) und konfuse Positionen gegenüber Israel vertritt.
Die Illusionen des SNC in eine bevorstehende ausländische Intervention und seine Unterwürfigkeit gegenüber der politischen Agenda seiner «Paten»-Staaten sowie persönliche Konflikte, politische Meinungsverschiedenheiten und Finanzskandale in den eigenen Reihen haben auch noch den Rest an Glaubwürdigkeit in den Augen der Demonstranten zerstört. Die Verbindungen des SNC ins Landesinnere beschränken sich auf eine begrenzte Anzahl von Gruppen, im Wesentlichen die Syrische Befreiungsarmee (SLA).
Ein Bericht zweier europäische Studienzentren von Januar 2012 kommt zum Schluss, dass «der SNC über kein Gewicht und keine Wurzeln in Syrien verfügt; er hat nur wenige Aktivisten und keinerlei Fundament im Inneren. Er wird von Qatar, Saudi-Arabien und den westlichen Staaten und ihren Medien unterstützt und finanziert. Das Hauptziel dieser Unterstützung ist es, eine Intervention in Syrien zu legitimieren, die der SNC wünscht».
Schon in der Gründungserklärung des SNC kam der Widerspruch zutage, dass der SNC einerseits «jede militärische Intervention, die die nationale Souveränität antastet», ablehnt, gleichzeitig aber «internationalen Schutz der Zivilbevölkerung» in Form humanitärer Korridore, Sicherheits- und Pufferzonen fordert. All seine Kommuniqués appellieren an eine ausländische militärische Intervention, eine solche Forderung «einer Intervention gemäß Artikel 7» richtete er z.B. Mitte April an den UN-Sicherheitsrat.
Der SNC ist kürzlich in eine ernsthafte Krise geraten, als er daran scheiterte, nach dem Rücktritt von Borhan Ghaliun einen neuen Vorsitzenden zu wählen. Bei dieser Gelegenheit traten die Kulissenkämpfe zwischen den Islamisten, an ihrer Spitze die Muslimbrüder, und laizistischen Strömungen zutage.
Die Lokalen Koordinationskomitees (LCC, siehe unten) haben gedroht, sich zurückzuziehen oder mindestens ihre Mitgliedschaft im SNC ruhen zu lassen, wenn dieser sich nicht neu aufstellt und wesentliche Fragen nicht behandelt werden. Sie haben die Einschätzung, dass die Meinungsunterschiede im SNC sich erheblich verschärfen und dass es «zwischen dem SNC und der revolutionären Bewegung keinen Konsens über ein gemeinsames Projekt gibt». Vertreter der LCC wie Khalil Elhajj Salah, Huzan Ibrahim und Rima Filihane haben die Zusammenkünfte des SNC in den letzten Monaten aus Protest gegen ihre Marginalisierung boykottiert. Der SNC wird immer mehr zu einem Büro für Public Relations und Finanzierung, zu einem Instrument in der Hand der genannten «Paten»-Staaten.
Die nationale Opposition
Das Nationale Koordinationskomitee für demokratischen Wandel (NCC), die andere bekannte politische Kraft der Opposition, entstand am 26.Juli 2011, es umfasst die traditionelle Opposition, Reste der nationalistischen und linken Parteien und einige islamistische und liberale Persönlichkeiten.
Das NCC ist in seiner politischen Positionierung unbeständig. Es tritt zwar für eine «Änderung des Regimes» ein, bekennt sich aber zugleich offen zu einem Dialog mit dem Regime. Seine Sprecher behaupten, den «schweigenden Block» zu repräsentieren, und haben sich gegenüber den revolutionären und aufständischen Kräften beleidigend geäußert. Das NCC setzt vor allem auf diplomatische Aktionen gegenüber den mit dem Regime verbündeten Staaten Russland, China und Iran. Es hat auf eine arabische Initiative gesetzt und lange auf die Initiative von Kofi Annan.
Viele haben das NCC aus Protest gegen die Monopolisierung seiner Leitung durch eine kleine Gruppe von Personen verlassen. Dazu gehört die «Strömung für den Aufbau des syrischen Staates» von Louay Hossein, die für einen politischen Dialog mit dem Regime zu definierten Bedingungen eintritt, ähnlich den Positionen des NCC.
Auch die «Front des Wandels und der Befreiung» betrachtet sich als oppositionelle Kraft. Sie setzt sich aus verschiedenen Parteien zusammen, darunter sind eine Abspaltung von der syrischen KP und eine Fraktion der «Syrischen Nationalsozialen Partei». Wegen der Positionen der Sprecher ihrer Parteien gegenüber der Revolution haben viele, besonders junge Mitglieder diese Parteien verlassen, um sich der revolutionären Bewegung anzuschließen.
Seit Februar 2012 treiben Aktivisten aufgrund ihrer Erfahrungen im NCC oder in anderen Strukturen die Bildung einer neuen Organisation voran, die sie «Syrisches demokratisches Forum» nennen. Dessen erste Versammlung fand im April statt. Das Forum sieht sich als Raum für Diskussion und Dialog, als Brücke zur Vereinigung der Opposition durch eine Aktion der «Versöhnung» und der «Reflexion». Aus dieser Versammlung ist nichts hervorgegangen, was das Forum von den anderen Kräften der Opposition unterscheiden würde, seine Initiatoren gehören zum selben Typ wie die Sprecher des SNC oder NCC.
Die revolutionäre Bewegung
Die syrische Revolution brach am 15.März 2011 spontan aus. Sie verbreitete sich in ganz Syrien und zwang junge Revolutionäre, Formen der Organisation der Protestbewegung, der Information und Aktivität zu schaffen. Sie haben Koordinationen geschaffen – auf der Ebene des Wohnviertels, der Stadt und der Region. Diese Koordinationen übernehmen Aufgaben der Agitation, der Information oder der Hilfeleistung, aber wenige übernehmen all diese Aufgaben gleichzeitig.
Das Fehlen organisierter politischer Kräfte vor Ort hat zu einer Eruption von Koordinationen geführt, so sehr dass es schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist, ihre reale Anzahl und Größe sowie die Rolle jeder einzelnen festzustellen. Aber man kann sagen, dass einige, ihre Anzahl ist unbekannt, in der Fläche arbeiten, andere hingegen sich um Information und Medien kümmern, diese sind bekannt. In den letzten Monaten sind aufgrund der Verschlechterung der humanitären Lage Komitees oder Koordinationen für humanitäre Hilfeleistung entstanden.
Einige Monate nach Beginn der Revolution begannen Versuche, die Koordinationen zusammenzufassen und eine «Union der Koordinationen der syrischen Revolution» zu gründen, ihr Gründungsaufruf wurde Anfang Juni 2011 veröffentlicht. Die Union soll die zivile Bewegung politisch repräsentieren und die Aktionen der verschiedenen Teilbereiche koordinieren und zusammenführen. Sie will die Grundlage für einen Rat der Jugend und der Aktivisten der Revolution schaffen, um deren Ziele zu schützen und vollständig zu verwirklichen. Im Unionskomitee sind lokale Koordinationen aus allen Regionen, Städten und Wohnvierteln vertreten. Ihr Diskurs ist islamisch gefärbt, ohne dass dies eine politische Zugehörigkeit zu den Muslimbrüdern oder zu den Salafisten bedeuten würde.
Daneben gibt es die Lokalen Koordinationskomitees (LCC). Sie lehnten schon in ihrer Erklärung vom 29.August 2011 eine Militarisierung der Revolution wegen der darin enthaltenen Gefahren für den revolutionären Kampf der Massen ab. Die LCCs sind Mitglied im SNC, gehören zu dessen Gründungsmitgliedern. In ihrer Erklärung vom 20.September 2011 schreiben sie, sie hätten dies getan «trotz der Aktionen des SNC, der Modalitäten seines Zusammentretens und der in ihm vertretenen Kräfte».
Über die internationale Intervention sagen sie (2.11.2011): «Wir unterstützen unter diesen Umständen das Recht des syrischen Volkes, gegenüber der internationalen Gemeinschaft sein Schicksal selbst zu bestimmen ... Das syrische Volk will die Unterdrückung nicht gegen die Unterordnung unter einen ausländischen Einfluss eintauschen. Das syrische Volk hat seine Unabhängigkeit erlangt und seinen modernen Staat gegründet. Es ist bestrebt, sein gesamtes Territorium zu befreien, in erster Linie die Golan-Höhen, und seine Unterstützung für den Kampf der Völker um Selbstbestimmung, vor allem für die Rechte des palästinensischen Volkes, fortzusetzen. Das syrische Volk, das sich gegen seine Unterdrücker erhebt, wird die Revolution nicht für Formen ausländischer Vorherrschaft aufgeben.» Trotz dieser Positionierung betrachten die LCC den SNC immer noch als gemeinsames politisches Dach.
Am 18.August 2011 bildete sich in Istanbul die «Generalkommission der syrischen Revolution» – damals nahmen die Kongresse der Opposition im Ausland massiv zu. Sie umfasst laut Gründungserklärung 40 Koordinationen, die Facebook-Seiten der syrischen Revolution und ihre Mediennetzwerke. Ein Diskurs mit islamischer Konnotation dominiert den Ton der Verlautbarungen der letzten Monate und die Medienaktivität.
Konfusion
Diese Koordinationen sind nicht die wichtigste Kraft in der Aktion. Dafür gibt es in den Städten zahlreiche Koordinationen lokaler Komitees, während sich in den Ortschaften und Dörfern Komitees gehalten haben, die sich Koordinationen nennen. Dort findet man Aktivisten verschiedenster politischer Zugehörigkeit oder solche ohne bestimmte politische Linie. Ihr wesentliches Ziel ist der gemeinsame Kampf zum Sturz des Regimes, aber ihr lokal begrenzter Charakter (manchmal gehen sie auch ein) bleiben eine Schwäche der revolutionären Bewegung.
Erwähnt seien hier noch die «Nationale Sammlung der Kräfte und Koordinationen der Revolution», die zahlreiche Aktivisten aus drei wichtigen Regionen (Hama, Deraa und Dir Ezzor) umfasst, und vor allem die «Koalition Watan», die sich am 13.Februar 2012 gebildet hat. Letztere umfasst jetzt 17 Gruppen und könnte der Ausgangspunkt für den Aufbau einer alternativen revolutionären Massenführung bilden, denn sie zählt in ihren Reihen mehrere Gruppen der kämpferischen Linken. Außen vor sind bisher noch radikale linke Gruppen wie die «Koordinationen syrischer Kommunisten», die in ihren Reihen junge Menschen von außerordentlichem Enthusiasmus zählen, sowie die Gruppe «Linke Perspektiven».
Zweifellos drängen die Brutalität des diktatorischen Regimes, die zunehmende Zahl der Deserteure und die Tendenz zur Militarisierung und Bewaffnung – und sei es zur Selbstverteidigung – zahlreiche Koordinationen zu einer Vermischung ihrer Mehrheitsströmung, die den unbewaffneten Kampf der Massen unterstützt, mit minoritären Gruppen, die zur bewaffneten Aktion neigen.
Ein offenkundiges Problem innerhalb der revolutionären Bewegung stellt der SNC dar, besonders sein wichtigster Bestandteil, die Muslimbrüder: Sie gewinnen, wenn auch begrenzt, die Sympathie der Aktivisten in den Koordinationen, denn sie leisten Hilfe und unterstützen die Aktivisten finanziell, wobei sie vom Geldsegen aus den sie jeweils protegierenden Ländern profitieren. Aber weder der SNC noch sein wesentlicher Kern, die Muslimbrüder, können tun, was sie wollen, denn nur wenige Aktivisten akzeptieren eine bedingte Hilfe: Die Revolutionäre haben sich von unkritischem Mitläufertum befreit, Hilfe betrachten sie als Pflicht, nicht als Gunst.
Was muss eine revolutionäre Führung leisten?
Im allgemeinen schöpft eine revolutionäre Massenbewegung ihre Kraft aus den werktätigen und verarmten Klassen und aus der Jugend. Die einzige soziale Gruppe, die bislang massiv in dieser Richtung aufgetreten ist, sind die Studierenden, die ihre sozialen Wurzeln mehrheitlich in der Arbeiterklasse und der Mittelschicht haben und die unter diesen Bedingungen die «Intellektuellen» dieser Klassen repräsentieren. Bis heute ist die Arbeiterklasse als solche nicht auf den Plan getreten. Eine Ausnahme bildet der Protest der mittleren und unteren Schichten der Arbeitergewerkschaften, die von den Apparaten des Regimes dominiert werden: Sie kämpfen für die Autonomie dieser Gewerkschaften gegenüber dem Staat, für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und gegen Entlassungen (über 100.000 Beschäftigte sind im letzten Jahr entlassen worden, das Regime hat über 180 Betriebe geschlossen).
Keine politische Kraft der Opposition ist darauf bedacht, in der syrischen Arbeiterklasse zu agieren, deren Anzahl annähernd 2 Millionen beträgt. Auch schlägt keine ein Programm vor, das deren Interessen und Forderungen aufgreift oder gar den Aufbau autonomer Gewerkschaften unterstützt. Vergessen wir auch nicht die Marginalisierung und der Landraub, dem die Werktätigen aus den ländlichen Gebieten in den letzten Jahren ausgesetzt waren, und die Notwendigkeit eines neuen Entwicklungsprogramms, das den Kleinbauern Rechte und die Möglichkeit der direkten Verwaltung ihrer Angelegenheiten – mit staatlicher Unterstützung – gewährt.
Die syrische Gesellschaft besteht aus vielen Nationalitäten und Konfessionen. Es wird nicht möglich sein, breite Teile der Gesellschaft, vor allem die Mittelschichten in den beiden großen Städten Damaskus und Aleppo, zu überzeugen, ohne ein Programm vorzuschlagen, das die Rechte der nationalen Minderheiten und die Laizität des auf den Trümmern des aktuellen Regimes neu aufzubauenden Staates sichert. Laizität bedeutet hier keineswegs Feindschaft gegenüber den Religionen, sondern die Trennung von Religion und Staat und die Anerkennung der Rechte der Frauen, ihre Gleichstellung mit den Männern, sowie der Rechte und Pflichten aller Bürger, ungeachtet ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit oder ihrer sexuellen Orientierung.
Die Kräfte der Linken müssen heute in Syrien eine revolutionäre Allianz aufbauen. Ihr Engagement in der revolutionären Bewegung muss der Bevölkerung helfen, Komitees der Selbstorganisation in den Wohnvierteln und Städten aufzubauen und ihre ökonomischen, sozialen und gewerkschaftlichen Forderungen im Kampf zum Sturz des Regimes zu verteidigen. Sie sollten für eine provisorische revolutionäre Regierung eintreten, die vor allem zwei Aufgaben hätte: die Vernichtung des repressiven Staatsapparats und die freie Wahl einer konstituierenden Versammlung.
Die Herausbildung einer revolutionären Führung ist für die Zukunft des revolutionären Prozesses entscheidend. Sie würde dem Märchen von der Rückschrittlichkeit des Massenbewusstseins ein Ende bereiten, mit der manche ihre Abkehr von diesem Programm rechtfertigen.´
Stark gekürzt aus der Monatszeitung der NPA, Tout est à nous, September 2012. Der Text erschien zuerst in der arabischen Zeitschrift «Permanente Revolution» (Nr.2, Juni 2012). Er datiert vom 1.Juni 2012, berücksichtigt deshalb nicht die jüngsten Entwicklungen. Der Autor ist syrischer Aktivist.
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