von Ingo Schmidt
«Opposition ist Mist», schrieb Franz Müntefering seiner Partei ins Stammbuch. Zu der Zeit war er Bundesminister für Arbeit und Soziales unter Merkel. Die gegenwärtige SPD-Führung, allen voran Kanzlerkandidat Steinbrück, macht freilich den Eindruck, als fühle sie sich in der Oppositionsrolle ganz wohl oder wollte Merkel eine Schwarz-Rote Mehrheit verschaffen, falls es für Schwarz-Gelb nicht reichen sollte.
Künftige Wahlsieger sehen anders aus. Entschlossener, mitreißender. Wie Gerhard Schröder 1998 beispielsweise. Nach Hartz IV und dem Rekordtief der SPD bei der Bundestagswahl 2009 ist es nicht ganz leicht, sich an die Aufbruchstimmung zu erinnern, die Schröder, damals noch im Zusammenspiel mit Oskar Lafontaine, seinerzeit zu erzeugen vermochte. Kreativität und Selbstverwirklichung in der Wissensgesellschaft sollten das Fabrikregime mit seiner Gängelung der lebendigen Arbeitskraft ersetzen. An die Stelle des Industriekapitalismus mit seinen Verteilungskonflikten sollte eine Bürgergesellschaft treten, deren Mitglieder ein Gleichgewicht zwischen ökonomischer Effizienz, sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Verantwortung aushandeln würden.
Dass Schröder den Dreierpack aus neuer Ökonomie, Zivilgesellschaft und Ökologie glaubhaft unters Wahlvolk bringen konnte, war freilich weniger seinem persönlichen Charakter geschuldet. Was das anbelangt, sind sich Basta-Gerhard und Klare-Kante-Peer sogar recht ähnlich. Schröders Erfolg beruhte vielmehr auf seiner Fähigkeit, dem Zeitgeist beredten Ausdruck zu verleihen. Der Zusammenbruch des Sowjetkommunismus hatte jede Form staatlicher Planung soweit diskreditiert, dass auch westliche Sozialstaaten am Ende der 1990er Jahre ganz schön alt aussahen. Andererseits hatte auch die Herrschaft des freien Marktes angesichts zunehmender Ungleichheit und hartnäckig hohen Arbeitslosenzahlen erste Risse bekommen. Zwischen Markt und Plan entstand das Bedürfnis nach einem Dritten Weg, und Schröder versprach, das Wahlvolk auf diesen Weg zu führen. Letzteres fühlte sich aber schon bald in die Irre geführt und kehrte der SPD scharenweise den Rücken.
Die Freistellung von Veräußerungsgewinnen aus Aktienverkäufen, Senkung des Spitzensteuersatzes und Riester-Rente trug Schröder schon kurz nach Amtsantritt den Spitznamen «Genosse der Bosse» ein und brachte seinen keynesianischen Kompagnon Lafontaine zum Aufgeben. Börsenkrach und Wirtschaftskrise 2001 zerstörten die Illusionen einer prosperierenden Bürgergesellschaft endgültig.
Schröder hatte sein Coming out als Klassenkämpfer – aber nicht, wie einige unentwegte SPD-Linke immer noch hofften, auf Seiten der Arbeiter und Arbeitslosen, sondern gegen sie. Der von Schröder betriebene und unter dem Label Agenda 2010 und Hartz IV ins kollektive Gedächtnis eingegangene Sozialabbau ging über alles hinaus, was Kohl und sein Arbeitsminister Blüm in 16 Jahren zustande gebracht hatten. Unter Kohl hat sich tatsächlich eine geistig-moralische Wende vollzogen, die die Legitimation des Sozialstaates langsam, aber stetig unterhöhlt hat. Unter Schröder wurde die Wende gegen den Sozialstaat materiell nachvollzogen.
In der Folge gingen nicht nur Mitglieder- und Wählerzahlen der SPD in den Keller, es regte sich auch praktischer Widerstand. An die Aufmüpfigkeit und Aufbruchstimmung gemahnend, die die ostdeutsche Wende im Herbst 1989 ermöglicht hatte, wurden im Osten wie im Westen Montagsdemonstrationen organisiert. Diese konnten die Schröder’schen Pläne zwar nicht stoppen, bereiteten aber den Weg für DIE LINKE, in der sich enttäuschte Sozialdemokraten West und PDSler Ost zusammenfanden. Die Aufgabe, den Zulauf zur Linken einzudämmen, fiel angesichts fortdauernder Wahlschwäche der SPD Angela Merkel zu.
Mit einer Mischung aus Überredung und Marginalisierung neoliberaler Hardliner wie Friedrich Merz brachte sie die Christdemokratie auf Mindestlohnkurs und punktete damit bei den Gewerkschaften, die sich angesichts der Aushöhlung des Flächentarifvertrages zu entsprechenden Forderungen an die Politik durchgerungen hatten. Damit nahm sie der LINKEN, die sich den Mindestlohn frühzeitig auf die Fahnen geschrieben hatte, erheblich Wind aus den Segeln und unterlief Bestrebungen der Nach-Schröder-SPD, sich wieder ein etwas sozialeres Image zuzulegen.
Energiewende und Frauenquote haben bislang wenig Substanzielles gebracht, und beim Thema Betreuungsgeld hat Merkel den gesellschaftspolitischen Modernisierungsbogen in den eigenen Reihen wohl überspannt, aber gleichwohl Themenfelder besetzt, mit denen sich SPD, Grüne und LINKE bislang gegenüber Konservativen und Marktliberalen abgrenzen konnten. Zudem hat sich Merkel mittlerweile als Krisenmanagerin profiliert, die nicht zuletzt deshalb so beliebt ist, weil sie vielen Wählern das Gefühl gibt, Krise sei immer woanders, aber nicht in Deutschland. Wenn es bis zum Wahltermin im September bei der milden Rezession bleibt, die Wirtschaftsforscher voraussagen, wird es die SPD gegen Merkels Mischung aus Pragmatismus und Krisenmanagement sehr schwer haben.
Um ihren unter Schröder erworbenen Kredit im Unternehmerlager nicht zu verspielen, hält sich die SPD mit einem Bekenntnis zum Sozialstaat sehr zurück. Um sich als «die» Sozialstaatspartei in Deutschland zu profilieren, müsste sie sich aber offen von Schröders Politik distanzieren. Einem solchen Schritt haben die Seilschaften um Steinbrück und Steinmeier schon vor der letzten Bundestagswahl vorgebaut. Versuche der hessischen SPD-Vorsitzenden und Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti, die Sozialdemokratie durch eine von der LINKEN tolerierte, rot-grüne Landesregierung nach links zu ziehen, wurden von der SPD-Rechten gnadenlos bekämpft. Der LINKEN, die sich in Westdeutschland zu erheblichen Teilen aus ehemaligen SPD-Mitgliedern rekrutiert, wurde mangelnde Abgrenzung vom Kommunismus und standortschädigendes Verhalten vorgeworfen. In der Öffentlichkeit schien die SPD zerrissen und fuhr bei der Bundestageswahl im September 2009 mit 23% ihr schlechtestes Wahlergebnis der Nachkriegsgeschichte ein. Mit Nahles und Gabriel ging die Parteiführung im selben Jahr zwar an die SPD-Linke über, die hatte aber das Exempel, das der Wirtschaftsflügel an Ypsilanti statuiert hatte, verstanden. Bei der Nominierung des Kanzlerkandidaten wurde SPD-Chef Gabriel prompt übergangen.
Gegenüber der Partei-Linken kann sich Steinbrück als Sieger fühlen. Merkel und das Wahlvolk lassen sich allerdings nicht so leicht marginalisieren. Ohne sozialen Flair lassen sich im Jahre 5 der Wirtschaftskrise nämlich keine Wahlen gewinnen. Schröder war da besser dran. Ihm kam die Dritte-Weg-Neigung der späten 90er Jahre zu Hilfe. Davon ist nichts übrig geblieben. Der aktuelle Zeitgeist oszilliert zwischen der Ablehnung der Agenda-2010-Politik und Dankbarkeit, dass Lohndumping in Deutschland Arbeitsplätze gerettet haben.
In absehbarer Zeit wird es nur noch zwei Wege geben: den frontalen Krisenangriff auf die Arbeiterklasse zwecks Herrschaftssicherung des Kapitals und die dezidierte Politik gegen das Kapital. Ganz so weit ist es noch nicht. Versuchen der SPD, zwischen diesen beiden Polen zu vermitteln, fehlt heute die ökonomische Grundlage.
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