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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2015
Die erste kapitalistische Krise
von Alejandro Nadal*

Die Wachstumsraten der chinesischen Wirtschaft wurden in der ganzen Welt bewundert. Man hatte den Eindruck, der Kapitalismus sei in China angekommen, um all seine Tugenden zu zeigen. Als sich seine Defekte zeigten, zog die Mehrheit der Kommentatoren es vor, sie zu ignorieren. Heute steuert die chinesische Ökonomie auf eine Krise zu – ihre erste makroökonomische kapitalistische Krise.
Die offiziellen Daten über die chinesische Wirtschaft ergeben für den Zeitraum 1991–2014 eine mittlere Wachstumsrate von 10%. Es ist bekannt, dass die Statistiken der chinesischen Regierung erheblich manipuliert sind, doch zeigen sie auch korrigiert noch eine spektakuläre Entwicklung. Nach 2010 hat sich das Wachstum der chinesischen Ökonomie allerdings um 35% verlangsamt.
Wenn eine Wirtschaft in einem solchen Rhythmus wächst, muss man sich nicht wundern, wenn drastische Verzerrungen auftreten. Wir beziehen uns hier nicht auf die Verzerrungen, die klassische Ökonomen im Preissystem sehen wollen und die aus ihrer Sicht durch die Intervention des Staates in das Wirtschaftsleben hervorgerufen werden. Diese Ökonomen behaupten, die «sozialistische Wirtschaft» in China leide unter einer schweren Verzerrung der Preise und der Anreize. Sie führen die Probleme der chinesischen Wirtschaft auf die staatliche Intervention zurück statt auf die Instabilität, die kapitalistischen Ökonomien immanent ist. Sie vergessen deshalb auch, dass die KP Chinas heute eine der zügellosesten kapitalistischen Ökonomien in der Geschichte verwaltet.
Wir hingegen beziehen uns auf die strukturelle Verzerrungen der kapitalistischen Wirtschaft, die heute vor allem im Immobilien- und Finanzsektor anzutreffen sind.
Immobilien waren der Schlüsselsektor im Prozess der kapitalistischen Akkumulation und der strukturellen Veränderungen in China. Eine dieser Veränderungen war die Migration in die Städte: Seit 1949, dem Machtantritt der KP Chinas, sind 600 neue Städte entstanden. Im Jahr 2004 gab es eine Verfassungsreform betreffend das private Wohnungseigentum, und die Investitionen in Immobilien nahmen zu. Im vergangenen Jahr führten die Erwartungen über die Entwicklungen des Immobilienmarkts zu einer verstärkten Nachfrage und zu Preissteigerungen bei Häusern und Appartements. Doch der Markt schrumpfte und die Häuserpreise brachen zusammen.
Einige Indikatoren weisen darauf hin, dass die Immobilienblase eher schrumpft, als dass sie platzen wird. Nichts garantiert jedoch, dass das Schlimmste schon vorbei ist, und andere Indikatoren stimmen weniger optimistisch. Die Anzahl an unverkauften Wohnflächen und Büros ist enorm (über 60 Millionen Appartements wurden nicht verkauft), und angesichts der Verlangsamung des Wachstumstempos wird es nicht leicht sein, Käufer zu finden.
Die abgebremste Expansion im Immobiliensektor ist eine enorme Belastung für die chinesische Wirtschaft. Berücksichtigt man die Bautätigkeit in der Stahl-, Zement-, Glas-, Möbel- und Haushaltsgeräteindustrie, macht der Immobiliensektor 30% des Bruttoinlandsprodukts aus. Ohne eine Erholung dieses Sektors wird die chinesische Wirtschaft weiterhin niedrigere Wachstumsraten verzeichnen und die jetzt schon schwierige Situation der genannten Industriezweige – die unter Überproduktion leiden – wird sich weiter verschärfen.
Ohne neue Kreditspritzen wird der Immobiliensektor nicht wachsen können. Aber ein großer Teil der zweifelhaften Kredite der chinesischen Banken liegt im Immobiliensektor vergraben. Die einzige Weise, die Bauwirtschaft wieder aufzurichten, wird eine größere Korrektur der Wohnungspreise sein, um wieder mehr Käufer zu finden. Diese Preisanpassung ginge jedoch zulasten von Unternehmen im Immobiliensektor, die überschuldet sind und ihre Kredite nicht bezahlen können.
Die chinesische Regierung hat Unmögliches getan, um ihr Finanzsystem über Wasser zu halten. Aber eines der Merkmale des Aktienmarkts und der Finanzoperateure in China ist ihre exzessive Verschuldung. Bekanntlich hilft sie nicht, wenn Investoren und Spekulanten die Panik ergreift. Der Zusammenbruch des chinesischen Aktienmarkts ist spektakulär: Von Mitte Juni bis Ende Juli sank hier der Marktwert um 30%.
Die Regierung hat versucht, den Markt auf jede Weise zu stützen: von der Initiierung eines Programms zum Erwerb von Staatsanleihen über die Senkung der Zinsen bis zur Suspendierung des Handels mit 54% der an chinesischen Börsen gelisteten Aktien. Als sich zeigte, dass nichts den Sturz aufhalten konnte, musste die Regierung den Handel unterbrechen. Die Verschuldung wurde zu weit getrieben, und der Sturz hat erst begonnen.
Wenn irgendjemand gedacht hat, der Kapitalismus würde in China sein wahres Gesicht nicht zeigen, sollte er sich die Zahlen und Indikatoren über den Finanzsektor und die Realökonomie anschauen. Es ist möglich, dass die Krise in China erst an ihrem Anfang steht.

* Aus: La Jornada (Mexiko), 29.Juli 2015.

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