Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2015

«Wir sind Ver.di» oder «Ver.di als Dienstleister»?
von Violetta Bock

Der Streik bei Amazon zieht sich nun schon über zwei Jahre hin, ohne dass sich die Geschäftsleitung, abgesehen von einzelnen Zugeständnissen, bewegt. Während einerseits der Streik erfolgreich auf neue Standorte ausgeweitet wird, sich neue Unterstützungsgruppen finden, geht es gleichzeitig darum, an den bereits streikenden Standorten die Stimmung zu halten und schlagkräftiger zu werden. Damit sich der Streik als Bewegung im Betrieb verbreitert, müssen sich mehr Beschäftigte als primäre Akteure sehen und sich mit der Auseinandersetzung und der Gewerkschaft stark identifizieren.
Die Streikenden bei Amazon haben, wie bei anderen Auseinandersetzungen auch, verschiedene Bilder von Gewerkschaft im Kopf. Sie werden nicht durch Worte vermittelt, sondern darüber, wie jeder einzelne Gewerkschaft direkt erlebt und daraus ableitet, wie man sich in ihr verhält. Eine Basisbewegung entsteht dann, wenn Kollegen sich selbst als primären Akteur sehen und sich stark mit der Auseinandersetzung und der Organisation identifizieren.
Zweieinhalb Jahre ist es her, dass der Streik für einen Tarifvertrag bei Amazon begonnen hat. Zuerst wurde in Bad Hersfeld und Leipzig die Arbeit niedergelegt, inzwischen fehlt nur einer der neun Standorte in Deutschland, und manche blicken bereits erwartungsvoll nach Polen. Länger liegen die ersten Schritte der Organisierung zurück. 2011 schickte Ver.di zwei engagierte Hauptamtliche als Organizer zu Amazon nach Bad Hersfeld, um diesen Standort gewerkschaftlich zu erschließen. Diese Zeit war prägend für die Entschlossenheit und Herangehensweise der Aktiven, denn für viele war es der erste Kontakt mit einer Gewerkschaft und diese Eindrücke prägten somit die eigene Verortung als Gewerkschafterin.
Daraus hervorgegangen ist ein Kern von Aktiven, der sich nicht nur an den Streiks beteiligt, sondern sie selbst mit organisiert, auf Konferenzen von der Auseinandersetzung berichtet und inzwischen auch die internationale Vernetzung teils selbst in die Hand nimmt.

«Wir sind Ver.di»
«Wir sind Ver.di» heißt: Man sich selbst als primären Akteur und verlässt sich nicht allein auf Stellvertreter und auf den Apparat. Dieses Bild ist wichtig für die Identifikation mit der Auseinandersetzung und trägt mit dazu bei, dass es vor Ort eine hohe gewerkschaftliche Aktivität gibt.
Um zu verstehen, wie es entstanden ist, lohnt ein Blick zurück auf das Organizingprojekt. Dass in Bad Hersfeld Amazon zum Schwerpunkt des Projekts wurde, ist nicht unbedingt auf eine strategische Entscheidung des Landesfachbereichs zurückzuführen. Der Betrieb wurde als zu groß eingeschätzt und war zudem bekannt dafür, bereits in England offensiv gegen Gewerkschaften vorgegangen zu sein. Doch es gab bereits einzelne Kontakte zu Mitgliedern und eine stärkere Präsenz Ver.dis fiel auf fruchtbaren Boden.
Dass auf höherer Ebene eine Strategie fehlte, wurde in diesem Fall zur Stärke gemacht. Denn statt von vorgegebenen Zielen und einer geplanten Vorgehensweise angeleitet zu werden, ließen sich die Organizer auf die Situation vor Ort ein und besprachen die nächsten Schritte direkt mit den Kolleginnen und Kollegen. Als sie begannen, die Beschäftigten nach ihren Problemen zu befragen, statt sofort mit dem Tarifvertrag zu winken, kamen die nächsten Kontakte und die ersten Treffen zustande und es wurde gemeinsam überlegt, welche Themen man zuerst aufgreift, wie man die anderen Beschäftigten anspricht und was man als Nächstes gemeinsam ausheckt. Dadurch entstand eine feste Gruppe, die nicht nur durch trockene Treffen, sondern durch selbstorganisierte Seminare und Feiern einen Zusammenhalt entwickelte.
Die Organizer trieben diesen Prozess voran und versuchten die Leute entsprechend ihren Fähigkeiten einzubringen. Von Anfang an betonten sie, dass es an den Kolleginnen selber liegt, die Probleme zu lösen, und dass sie dafür die Gewerkschaft als Instrument benutzen können. Gewerkschaft wurde damit nicht nur als Stellvertreter in Tarifkonflikten vermittelt, sondern als Prozess der gemeinsamen Organisierung, in dem jeder einzelne Beitrag zählt. Dadurch hatten die Beteiligten die Dinge selbst in der Hand und setzten vor Ort Ver.di um.
Gemeinsam wurde erarbeitet, dass ein Tarifvertrag eine Antwort auf viele Probleme wäre. Als das Projekt 2012 zu Ende ging, entstanden bei Amazon die gewerkschaftlichen Strukturen der Vertrauensleute und es wurde eine Tarifkommission gegründet. Obwohl der Betrieb in die Regelbetreuung überging, blieb das Bild «Wir sind Ver.di».
Nachdem sie nun durch die neue Betreuungssituation, aber auch durch standortübergreifende Forderungen in Ver.di insgesamt eingebettet waren, übertrugen die Aktiven ihr Bild von der Gewerkschaft nun auf die Gesamtorganisation und versuchen, dies auch nach wie vor bei strittigen Punkten durchzusetzen. Und sie versuchen, die positiven Assoziationen und die Identifizierung mit Ver.di, aus der sich Aktivität statt Erwartungshaltung ableitet, auch auf andere Kolleginnen zu übertragen. Trotzdem ist es noch eine Minderheit, die Aktionen initiiert und die Auseinandersetzung organisiert. Da ist es oft ernüchternd, wenn andere Mitarbeiter kommen und vorschlagen, wie Ver.di manche Sachen besser organisieren könnte, statt selbst aktiv zu werden.

«Verdi als Dienstleister»
Natürlich gibt es gute Gründe dafür, warum nicht jeder aktiv sein kann oder will. Auch hier spielt die Wahrnehmung von Ver.di eine Rolle. Während die einen nämlich Aktionen, Flugblätter und Streiks planen, beobachtet der Großteil, was «Ver.di» macht. Während der Projektphase konnten sie sehen, wie die hauptamtlichen Organizer Flyer verteilen oder auf Betriebsversammlungen Reden halten. Nach der Projektphase übernahmen die Aktiven, aber sie wurden nicht gleich als Repräsentanten der Gewerkschaft angesehen, vielmehr entstand der Eindruck, «Ver.di» sei nicht mehr so präsent.
Oft findet die Streikversammlung in der Schilde-Halle in der Innenstadt von Bad Hersfeld statt, wegen ihrer Größe und der zentralen Lage ist sie dazu geeignet. Doch der Effekt ist, dass die Streikenden wie Gäste zu ihrem Streik kommen. Sie tragen sich in die Streikerfassung ein, Essen und Programm ist vorbereitet und der Ablauf organisiert. Ver.di wird damit von vielen als Dienstleister für die Streikplanung wahrgenommen. Verkörperten während der Projektphase für die Beobachter noch die Organizer «ver.di», sind es seit dem Beginn des Streiks neben den Hauptamtlichen auch die offiziellen Gewerkschaftsstrukturen. Nach diesem Bild wird auch gehandelt, zwar nimmt man am Streik teil, doch wird es nicht als eigene Aufgabe angenommen, ihn zu gestalten.
Eine breitere Bewegung im Betrieb wird es erst geben, wenn sich noch mehr Beschäftigte als Gewerkschafter verstehen. Um den Worten «Wir sind ver.di» Taten folgen zu lassen und das anderen auch zu zeigen, übernehmen die Aktiven daher inzwischen bei Betriebsversammlungen den Ver.di-Part und initiieren immer wieder gemeinsame Aktionen – etwa als die Beschäftigten die Lkw-Fahrer informierten und deren Abfahrt um eine Viertelstunde verzögerten; als sie gemeinsam mit 200 Leuten während eines Streiks in den Betrieb liefen oder einzeln in Zelten à la Blockupy vor dem Werk über Nacht ihr Lager aufschlugen.
Diese Hartnäckigkeit beeindruckt, weil sie zeigt, wie viel eine organisierte Minderheit bewirken kann und was es bedeutet, wenn man seine Rolle als Gewerkschafter aktiv wahrnimmt, statt nur Erwartungen in die Organisation zu setzen. Und statt enttäuscht zu sein, wenn sich nicht alle Beschäftigten gleich beteiligen, ist es vielversprechender darauf zu reagieren, wie sie die Gewerkschaft wahrnehmen, und daran etwas zu verändern.
Gerade bei einem Arbeitgeber, dessen Strategie darin besteht, eine Identifikation mit dem Unternehmen herzustellen, kann es erforderlich sein, dem eine stärkere Identifikation mit der Auseinandersetzung und ihren Zielen entgegenzusetzen.

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