von Carla Boulboullé*
Der Finanzausgleich der Bundesländer untereinander wird abgeschafft. Das bedeutet: Unter den Bundesländern wird es eine geringere Solidarität geben. Die einheitlichen Lebensverhältnisse in Deutschland sind nicht mehr gesichert. Der Bund übernimmt einen Teil des Ausgleichs der Finanzkraft über die Verteilung der Umsatzsteuer. «Das ist ein gutes Geschäft für die starken Länder», kommentieren die Grünen, die schwachen Länder dagegen würden schwächer. Bundestagspräsident Lammert warnt vor dem Zentralstaat.
Plötzlich musste alles ganz schnell gehen. Die von Merkel als «fundamentales Werk» charakterisierte Revision des Länderfinanzausgleichs und, damit verbunden, der Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen als wichtiger Teil der staatlichen Infrastruktur wurde jetzt überfallartig für die Parlamentarier im Bundestag am 1.?Juni und entgegen allen Regeln einen Tag später im Bundesrat durchgepeitscht. Der chirurgische Eingriff umfasst 13 Grundgesetz-Änderungen, die von einem Paket von Begleitgesetzen ergänzt werden.
Es geht um nicht weniger als einen zweiten Schlag gegen das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes, das die «einheitlichen Lebensverhältnisse» in der Bundesrepublik, in Ländern und Kommunen und damit für alle Mitglieder der Gesellschaft garantieren soll. In diesem Rahmen schützt es alle erkämpften sozialstaatlichen Rechte und Errungenschaften.
Die Verankerung der Schuldenbremse 2009 in das Grundgesetz hat das Prinzip der Sozialstaatlichkeit grundsätzlich ausgehebelt, sie betrifft unmittelbar die Finanzierung von sozialstaatlichen Aufgaben durch den Bund. Damit standen auch die Haushalte von Ländern und Kommunen von Anfang an unter dem Druck der Schuldenbremse, doch das Nulldefizit für die Länder wird erst 2020 voll wirksam.
Auf den im Grundgesetz verankerten Länderfinanzausgleich, d.h. der obligatorischen ausgleichenden Finanzleistungen der reichen an die ärmeren Länder, hat die Schuldenbremse keinen direkten Zugriff. Der solidarische Länderfinanzausgleich als verbliebene Institution der sozialstaatlichen Verfassung der Bundesrepublik musste erst beiseite geräumt werden, um ein Durchregieren der Bundesregierung unter dem Regime der Schuldenbremse zu ermöglichen. Das sah die Große Koalition von Anfang an als ihre größte Aufgabe an.
«Fördern und Fordern» nun auch für die Länder
Dafür wurde 2014 unter Wirtschaftsminister Gabriel (SPD) die Fratzscher-Kommission einberufen, mit Vertretern von Regierung, Unternehmern und den beiden Gewerkschaftsvorsitzenden Hoffmann (DGB) und Bsirske (Ver.di). Sie musste Widerstände überwinden: von den Gewerkschaften, die das ganze Projekt zunächst als «schleichenden Umbau des Sozialstaats» verurteilt hatten, wie auch von den Ländern, die nicht ohne weiteres auf ihre staatlichen Rechte verzichten wollten. Beide mussten, um ihr Gesicht wahren zu können und den zweiten Schlag gegen das Sozialstaatsprinzip möglichst zu verschleiern, «Zugeständnisse» erhalten. Das jahrelange prinzipienlose Gefeilsche musste jetzt, kurz vor Ablauf der Legislaturperiode und unter den Bedingungen der Untergangsstimmung der Regierung der Großen Koalition, vor allem der SPD, zu einem Abschluss kommen.
Nachdem die Regierung der Großen Koalition Länder und Kommunen unter dem Diktat der Schuldenbremse in den finanziellen Ruin getrieben hat, hat sie sich von den Ländern für ein paar Milliarden Fürsorgealmosen den Verzicht auf ihre sozialstaatlichen Rechte sowie die Verankerung der Privatisierung öffentlicher Daseinsvorsorge im Grundgesetz erkauft.
Um die Zustimmung vor allem der SPD-Abgeordneten zu sichern, schreckte die SPD-Partei- und Fraktionsführung nicht davor zurück, die Genossen skrupellos zu täuschen: «Die finanzielle Handlungsfähigkeit von Ländern und Kommunen sei auch nach 2019 gesichert» – und damit ein zentrales Anliegen der SPD-Fraktion erfüllt.
Fakt ist, dass der solidarische Länderfinanzausgleich ersetzt wird durch das eherne Gesetz der Agendapolitik des «Förderns und Forderns»: Zukünftig soll die Finanzkraft der Länder durch Zu- und Abschläge bei der Verteilung der Umsatzsteuer «angemessen» (!) ausgeglichen werden. Der neue Grundgesetz-Artikel 104c legt es in die Willkür des Bundes, «finanzschwache» Gemeinden für Investitionen finanziell zu unterstützen.
Über ein Begleitgesetz wird zudem die Förderfähigkeit von ÖPP-Projekten (Öffentlich-Private Partnerschaften) in das Grundgesetz eingeschrieben. Damit kann der Bund über die im Gnadenakt gewährten «Finanzierungshilfen» die ohnehin schon ausgebluteten Länder und Kommunen zwingen, Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge (Verkehr, Schulen, Kitas, Verwaltung…) in privatrechtliche Gesellschaften auszugliedern und mittels ÖPP direkt dem Zugriff des renditehungrigen Finanzkapitals zu öffnen – vorbei an der Schuldenbremse. «Es kann nicht angehen, den Sanierungsstau damit zu beheben, die Schulen zum Anlageprodukt für Banken und Versicherungen zu machen», warnt die GEW-Vorsitzende Marlies Tepe.
Gleichzeitig wird die Überwachung der Einhaltung der Schuldenbremse durch den Stabilitätsrat verschärft, d.h. Ländern und Kommunen drohen noch rigidere Sparauflagen.
Die Mitwirkung von SPD und Gewerkschaften
In schändlicher Tradition der von der Gewerkschaftsführung jahrelang geübten Praxis der Begleitung der zerstörerischen Agendapolitik durch deren «sozialverträgliche Gestaltung» übernahm Wolfgang Pieper vom Ver.di-Bundesvorstand die Aufgabe, in der letzten SPD-Fraktionssitzung vor der Abstimmung das keineswegs gesicherte, mehrheitliche Ja in der SPD-Fraktion doch noch zu erreichen. Durch die Besitzstandswahrung seien für die jetzt Beschäftigten die Rechte gewahrt, so das Argument. Der DGB äußert sich zwar noch etwas besorgt, doch der Ver.di-Vorstand versucht sich zu rechtfertigen: Ein Verbot der ÖPP-Maßnahmen sei mit der Union nun mal nicht zu machen.
Gabriel, Oppermann und Schulz haben die Verantwortung übernommen, die SPD einem Ja zum «schleichenden Umbau des Sozialstaats» zu unterwerfen. Und jetzt soll unter der Regie von Martin Schulz auf dem a.o. SPD-Bundesparteitag am 25.Juni die «soziale Gerechtigkeit» als Wahlprogramm der SPD postuliert werden?
29 SPD-Abgeordnete haben im Bundestag mit Nein gestimmt. Werden sie zu einem Stützpunkt für den Widerstand in der SPD, nachdem deren Führung gerade noch einmal demonstriert hat, dass sie bereit ist, die Sozialstaatlichkeit der Schuldenbremse zu opfern, Profit und Rendite durch Zerstörung der Tarifbindung zu fördern?
Sie würden die ganze Unterstützung der Lohnabhängigen haben für ihren Mut, auf dem SPD-Parteitag die Rücknahme dieser letzten Schandtat der Großen Koalition zu fordern, mit der Politik der Agenda 2010 und ihrem schlimmsten Instrument, der Schuldenbremse, zu brechen und die Tarifbindung zu verteidigen und wiederherzustellen. Alle Versprechungen von «mehr Gerechtigkeit» werden sonst für die Mehrheit der Gesellschaft nur zum Hohn.
Der Ver.di-Vorsitzende Bsirske hat auch mit Blick auf die Bundestagswahlen erklärt, für den Kurswechsel zur sozialen Gerechtigkeit müsse «Flagge gezeigt werden, im Betrieb ebenso wie öffentlich … und dazu braucht es starke Gewerkschaften.» Denn «von allein gibt es keine Entlastung des Pflegepersonals in den Krankenhäusern…» «Von allein gibt es keinen Halt bei der Privatisierung öffentlicher Infrastruktur…»
In NRW haben die Lohnabhängigen Flagge gezeigt und Hannelore Kraft, die zu den entschiedensten Befürworterinnen des von der Gewerkschaftsspitze «sozialverträglich» begleiteten «Verfassungsbruchs» gehörte und die der Schuldenbremse auch für die Zeit nach der Wahl ihre absolute Vasallentreue schwor, eine massive Abfuhr erteilt.
Während die Ver.di-Spitze alles tut, um jede Widerstandsbewegung für «mehr Personal» im Rahmen von «Aktionen» zu kanalisieren, um Druck zu machen für ein trügerisches Versprechen einer gesetzlichen «Mindestpersonalbemessung» – nach der Wahl werden die Kolleginnen und Kollegen in den Krankenhäusern nicht von ihrer Bereitschaft ablassen, «Flagge zu zeigen» und durch einen Erzwingungsstreik die zusätzliche Finanzierung des für eine verantwortliche Versorgung notwendigen Personals zu erkämpfen.
* Carla Boulboullé betreibt den Blog «Soziale Politik und Demokratie».
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