von Klaus Engert
Die Zahlen über die Verteilung von Flüchtlingen über die Kontinente müssen Europäer immer wieder beschämen…
Als ich im Jahr 1996 in Nordkenia in der Versorgung der Kriegsopfer aus dem Bürgerkrieg im Sudan arbeitete, hatte ich einmal im Monat auch ein Flüchtlingscamp chirurgisch zu betreuen. Es handelte sich um das in der nordkenianischen Steppe, einer der ärmsten Regionen Kenias, im Gebiet der Turkana gelegene, von der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen UNHCR eingerichtete Camp Kakuma. 1992 gegründet, war es damals bereits auf 50000 Bewohner angewachsen – heute leben dort über 180000 geflüchtete Menschen aus sieben verschiedenen afrikanischen Ländern. Ihre Zahl übersteigt seit langem schon die Einwohnerzahl des Turkana-Distrikts, in dem das Lager liegt.
Kakuma ist dabei nicht einmal das bevölkerungsreichste Flüchtlingscamp in Kenia. Bis vor kurzem war das Camp Dadaab, etwa 100 Kilometer von der Grenze zu Somalia entfernt, nicht nur das größte im Land, sondern auch weltweit. Ebenfalls 1992 gegründet, lebten hier im Jahr 2016 350000 Flüchtlinge, in erster Linie aus Somalia, im April 2017 waren es noch 245000 Menschen. Der Versuch der kenianischen Regierung, das Lager komplett zu schließen und die Bewohner kurzerhand «nach Hause» zu schicken, scheiterte vorerst: Das oberste Gericht des Landes erklärte Anfang 2017 diesen Plan für verfassungswidrig.
Das größte Flüchtlingscamp weltweit liegt derzeit in Uganda: Im April hat das Camp Bidi Bidi, in der nordugandischen Region Yumbe gelegen, Dadaab «überflügelt». Dort leben jetzt 270000 Flüchtlinge aus dem Sudan. Insgesamt hat Uganda (allerdings teilweise aus nicht ganz uneigennützigen Gründen, siehe unten) 900000 Menschen aus dem Sudan aufgenommen.
Entgegen landläufiger Wahrnehmung der meisten Europäer liegt der Schwerpunkt der weltweiten Flüchtlingskrise also nicht in Europa. Laut UNHCR lebte 2015 mehr als ein Viertel der weltweit 67 Millionen «people of concern» (diese Zahl umfasst sowohl Flüchtlinge/Binnenflüchtlinge, Asylsuchende und Staatenlose, wie auch Zurückgekehrte, die aber nicht integriert sind und weiter der Hilfe bedürfen), nämlich rund 15,4 Millionen, im subsaharischen Afrika, gefolgt von Nahem Osten/Nordafrika mit 14,9 Millionen, Asien und Ozeanien mit 8,7 Millionen – wobei die neueste Katastrophe in Myanmar mit der Vertreibung der Rohingya noch gar nicht berücksichtigt ist; auf dem amerikanischen Kontinent sind es 7,7 Millionen. Europa hat mit 6,3 Millionen die geringste Zahl aufgenommen.
Ungleichverteilung
Wer also meint, dass die meisten Geflohenen ihre Heimatregion verlassen würden und nach Europa strömen, liegt falsch: Die große Mehrheit sucht Zuflucht im nächstgelegenen Staat – das führt dazu, dass einige Staaten eine weit überproportionale Last zu tragen haben: In Deutschland bspw. haben 0,3 Prozent der Bevölkerung einen Flüchtlingsstatus – im bettelarmen Tschad sind es 4,1 Prozent. Allein zehn Länder weltweit – darunter aus Afrika Äthiopien, Kenia, Uganda, die Demokratische Republik Kongo und der Tschad – beherbergen 65 Prozent aller Flüchtlinge. 90 Prozent aller Geflohenen werden weltweit in Ländern mit mittlerem bis niedrigen Einkommen aufgenommen.
Unter den Ländern mit dem proportional zur Bevölkerung höchsten Flüchtlingsanteil führt zwar aufgrund des Syrien- und Palästinakriegs mit weitem Abstand der Libanon vor Jordanien, aber unter den ersten zehn auf der Rangliste sind allein vier afrikanische Staaten – die einzigen beiden europäischen Länder sind Schweden auf Platz neun und Malta auf Platz zehn.
Binnenflucht
Die unzähligen Kriege und andauernden Binnenkonflikte haben sowohl zur Massenflucht über die jeweils nächstgelegenen Grenzen wie auch aus bestimmten Konfliktregionen in andere Teile des jeweiligen Landes geführt: Fast 75 Prozent der Geflüchteten in Afrika sind sog. Binnenflüchtlinge – «internally displaced persons».
Der Sudan mit 3,2 Millionen und Nigeria mit 2,1 Millionen liegen hier in der «Rangliste» von 2016 an der Spitze, gefolgt vom Südsudan mit knapp 1,8 Millionen, der DR Kongo mit 1,55 Millionen und Somalia mit 1,13 Millionen. Diese Zahlen sind teilweise noch untertrieben, denn in Nigeria z.?B. gibt es neben der durch den Guerillakrieg von Boko Haram verursachten Binnenflucht auch noch viele Menschen, die wegen der andauernden Auseinandersetzungen zwischen den halbnomadischen Fulani und sesshaften Farmern flüchten mussten, aber bei Verwandten unterkamen und in den Statistiken nicht erfasst sind.
Flüchtlinge jeder Kategorie überdies, die sich nicht melden, sondern in großen Agglomerationen wie Nairobi, Lagos, Kampala oder Daressalam spurlos untertauchen, tauchen naturgemäß in den Zahlen des UNHCR ebenfalls nicht auf.
Lager, Integration und Externalisierung
Afrika gilt heute als «der Kontinent der Flüchtlingslager». Von Experten werden diese Massenunterbringungen allgemein als schlechte Lösung angesehen. Nicht nur, weil sie vorzugsweise in entlegenen Gegenden angesiedelt werden, sondern auch aus medizinischen Gründen – bestimmte Erkrankungen breiten sich hier schnell aus. In dem eingangs erwähnten Kakuma z.?B. gab es, als ich dort tätig war, einen großen abgetrennten Bereich, in dem die zahlreichen Tuberkulosekranken untergebracht und behandelt wurden. Aber auch die Gewaltkriminalität ist teilweise hoch. Hinzukommt die eingeschränkte Mobilität: Aus dem Lager Dadaab führt im Prinzip für die Bewohner nur ein einziger Weg hinaus – zurück nach Somalia.
In Europa werden die Flüchtlinge meist von den jeweiligen staatlichen Behörden verwaltet, untergebracht und versorgt – mal besser, mal schlechter. In Afrika wird das zum größten Teil von internationalen Organisationen wie dem UNHCR und dessen Partnern durchgeführt, bzw. die Länder lassen sich teilweise, wie in Uganda, die Kosten von den entsprechenden Organisationen erstatten – und verdienen daran mit.
Auf diese Weise lassen sich die Probleme, die die wachsenden internationalen Flüchtlingsströme verursachen, elegant externalisieren: Die «internationale Gemeinschaft» zahlt, die Flüchtlinge werden mit diesem Geld heimatnah kaserniert und bleiben dann unter Umständen ein halbes Leben im Camp: Viele der Menschen in Kakuma und Daadab, aber auch in Goma, sind dort geboren und kennen kein Leben außerhalb des Lagers.
Gesellschaften wie die in Rwanda und Burundi beweisen aber, dass es statt Kasernierung und Zentralisierung auch anders gehen könnte: Sie werden von manchen Experten heute als «refugee societies» bezeichnet, weil dort jede Stadt, jedes Dorf und teilweise sogar jede Familie ihre Flüchtlinge hat und viele Einwohner selbst Flüchtlingserfahrungen haben.
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