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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2021

Die Flutkatastrophe bringt es an den Tag: Der neoliberale Staat scheitert beim Schutz der Bevölkerung
von Hanno Raußendorf*

«Tief Mitteleuropa» nennen Meteorologen die Großwetterlage, die Mitte Juli über Deutschland binnen 24 Stunden bis zu 200 Liter Regen pro Quadratmeter ausgeschüttet hat. 220 Menschen sind in Deutschland und Belgien in den Fluten um ihr Leben gekommen. Die Wassermassen haben einen Sachschaden von mehreren Milliarden Euro hinterlassen.

Im steilen Ahrtal, wo sich von Westen kommende Wolken oft zum ersten Mal entleeren, in dessen Schiefergestein Starkregen kaum versickert und auf steilen Weinbergen ungebremst talwärts rauscht, haben die Bachbegradigungen der 70er Jahre noch ein übriges getan, um die Situation zu verschlimmern. Dort sind manche Orte derart verwüstet, dass ihr Wiederaufbau die heimatlos gewordenen Einwohner:innen voraussichtlich noch das ganze Jahrzehnt beschäftigen wird.
Der Deutsche Wetterdienst gibt die Wiederkehrzeit eines solchen Ereignisses mit mehr als hundert Jahren an. In dem am stärksten betroffenen Ahrtal fand die letzte Überschwemmung dieser Größenordnung im Jahr 1910 statt. Nach der letzten «Jahrhundertflut» hatte man schon ein Präventionsprogramm mit Hochwasserrückhaltebecken aufgelegt. Dazu kam es dann aber nicht, es fehlte das Geld, und am Ende gab man es lieber für den Bau des Nürburgrings aus.
Nun wird wieder überall die Frage gestellt, was sich ändern muss, damit sich so eine Tragödie nicht mehr ereignen kann. Viele Schwachstellen und Versäumnisse hat die öffentliche Diskussion der vergangenen Wochen bereits ans Licht gebracht: mangelnde und nicht funktionierende technische Ausrüstung, unzureichende bauliche Vorkehrungen, verspätete Warnung der Betroffenen, zunehmende Versiegelung, Bäche, die zu betonierten Kanälen verkommen sind – und immer wieder fällt auch das Wort «Klimawandel». Allzu deutlich ist, dass die Verantwortlichen im Land auf diese Katastrophe in keiner Weise vorbereitet waren.
Die britische Hydrologin Hannah Cloke warf den deutschen Behörden «monumentales Systemversagen» vor. Schon vier Tage vor der Flut hatte das europäische Frühwarnsystems EFAS, an dessen Aufbau sie beteiligt war, vor der Gefahr gewarnt. In den Tagen danach folgten mehr als 25 fortlaufend aktualisierte Vorhersagen für verschiedene Regionen an Rhein und Maas. Trotzdem saßen an der Ahr die Menschen bis zuletzt in ihren Häusern, weil sie niemand über die tatsächliche Lebensgefahr aufgeklärt hatte.
Gegen den Landrat von Ahrweiler hat die Staatsanwaltschaft nun ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, weil er nicht rechtzeitig dafür Sorge getragen haben soll, dass Einwohner:innen gewarnt und in Sicherheit gebracht wurden. Wieweit er für die vielen Toten im Kreis Ahrweiler verantwortlich ist, wird am Ende ein Gericht entscheiden müssen. Das «monumentale Systemversagen» aber, von dem Hannah Cloke spricht, geht weit über das hinaus, was ihm vorgeworfen wird – und die Flutkatastrophe trifft die besonders hart, die schon davor nicht viel hatten.
In Stolberg bspw., einer Gemeinde in der Nähe von Aachen, haben Überschwemmungen Kabel freigespült, Umspannwerke in Mitleidenschaft gezogen, Trafohäuschen und Verteilerkästen geflutet. Teile der Innenstadt hatten keinen Strom. Der städtische Netzbetreiber konnte die Schäden mit einer gewaltigen Kraftanstrengung schon nach wenigen Tagen soweit beseitigen, dass der wieder fließen konnte. Trotzdem warteten in sozialen Brennpunkten Mieter:innen noch nach Wochen darauf, dass auch in ihrer Wohnung die Lichter wieder angingen. Ihre Vermieter:innen hatten es anscheinend nicht so eilig, die zerstörten Anschlusskästen im Keller ihrer Mietshäuser reparieren zu lassen.
Der Zusammenhang des katastrophalen Starkregens mit der rapide fortschreitenden Klimakatastrophe drängt sich auf. Die Häufigkeit der Großwetterlage «Tief Mitteleuropa» nimmt zu. Dabei handelt es sich um einen Tiefdruckkern über Mitteleuropa, der mindestens im Westen, Norden und Osten von hohem Luftdruck umschlossen ist. Nach einer Untersuchung des Deutschen Wetterdienstes kam das um 1950 acht- bis zehnmal im Jahr vor, heute aber zehn- bis zwölfmal.
Früher hat der Jetstream genannte Höhenwind, der die ganze Nordhalbkugel in großen Schleifen von West nach Ost umströmt, dafür gesorgt, dass solch ein Tiefdruckgebiet schnell weiter Richtung Osten befördert wurde. Seine ebenfalls mit der Klimakatastrophe in Verbindung gebrachte Verlangsamung lässt es nun zu, dass es sich kaum von der Stelle bewegt. Zudem nimmt Luft Feuchtigkeit umso besser auf, je wärmer sie ist. Karsten Brandt, Gründer und Geschäftsführer des Bonner Wetterdienstes Donnerwetter.de, sagt gegenüber der SoZ: «Ich denke, wir werden in allen Zeiteinheiten, von wenigen Minuten bis 48 Stunden, größere Mengen und möglicherweise auch häufigere Ereignisse einplanen müssen.»
In seinem jüngst veröffentlichten Teil aus dem sechsten Sachstandsbericht lässt der Weltklimarat keinen Zweifel: «Die globale Oberflächentemperatur wird bei allen betrachteten Emissionsszenarien bis mindestens Mitte des Jahrhunderts weiter ansteigen. Eine globale Erwärmung von 1,5 °C und 2 °C wird im Laufe des 21.Jahrhunderts überschritten werden, es sei denn, es erfolgen in den kommenden Jahrzehnten drastische Reduktionen der CO2- und anderer Treibhausgasemissionen.»
Katastrophenschutz, der nicht gleichzeitig alles unternimmt, um die Klimakatastrophe aufzuhalten, wäre sinnlos. Aber auch die tiefgreifenden Maßnahmen, die nun notwendig sind, um uns in Zukunft wenigstens vor ihren schlimmsten Auswirkungen zu schützen, werden schwer durchzusetzen sein. Notwendige Milliardenbeträge und Veränderungen werden wir selber erkämpfen müssen. Sonst ist auch diesmal zunächst kein Geld da, und am Ende wird ein Nürburgring gebaut – oder etwas vergleichbar unsinniges.

*Der Autor ist Sprecher für Klima, Umwelt und Landwirtschaft im Landesvorstand von Die LINKE in NRW.

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