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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2022

Es ging nie um Entlastung
von Violetta Bock

Am 18.Mai kam es zu einer Einigung zwischen der Tarifkommission von Ver.di, dem Beamtenbund dbb und dem Verband kommunaler Arbeitgeber (VKA) für die 330000 Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst. Bis Mitte Juni werden nun die Mitglieder befragt.

Die Tarifrunde war schwierig. Die Branche ist nach zwei Jahren Pandemie von Erschöpfung geprägt. Der Organisationsgrad ist niedrig, die Enttäuschung über das Ergebnis 2015 nach einem langen unbefristeten Streik war noch bei einigen präsent und dennoch folgten 45000 Beschäftigte in den letzten Wochen dem Aufruf zum Streik. Im Mai schien an einigen Orten Dynamik aufzukommen. Die Arbeitgeberseite stellte von Anfang an auf stur, beklagte die Streiks als Vertrauensverlust und verwies auf die finanziell schwierige Situation der Kommunen.
In der dritten Verhandlungsrunde geschah das, was so häufig geschieht: Sie wird verlängert, kein Ergebnis scheint in Sicht und spätabends kommt es dennoch zu einer Einigung, die keinen Durchbruch bedeutet, aber einen Kompromiss. Ob er faul ist und doch noch mehr drin gewesen wäre, müssen nun die Mitglieder beurteilen.

Das Ergebnis
Die Gewerkschaft forderte diesmal die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel und mehr Lohn für Sozial- und Erziehungsberufe. Die vorliegende Einigung sieht im wesentlichen ab dem 1.Juli 2022 für Erzieher:innen (Entgeltgruppen S2 bis S11a) eine monatliche Zulage von 130 Euro und für Sozialarbeiter:innen (Entgeltgruppen S11b, S12, S14, S15FG6) von 180 Euro vor. Die anvisierte direkte Höhergruppierung wurde vom VKA strikt abgelehnt. Beschäftigte in der Behindertenhilfe erhalten die Zulage entsprechend ihrer Tabelleneingruppierung.
Den Beschäftigten sollen ab diesem Jahr pauschal zwei «Entlastungstage» zustehen, zwei weitere optional gegen Lohnverzicht. Die bestehenden Regelungen zu den Stufenlaufzeiten im Sozial- und Erziehungsdienst werden zum 1.Oktober 2024 an die allgemeinen Regelungen der übrigen Beschäftigten im öffentlichen Dienst angepasst, so werden schnellere Höhergruppierung möglich gemacht.
Die Auszubildenden der Heilerziehungspflege erhalten zum ersten Mal eine tarifliche Ausbildungsvergü­tung. Erstmalig wird zudem eine Zulage für die Praxisanleitung in Höhe von 70 Euro gewährt. Die Ergebnisse gleichen so teilweise die Mängel der Einigung 2015 aus, als die Sozialarbeiter:innen schlechter abschnitten und Leitungen im Vergleich zu den unteren Entgeltgruppen mehr erhielten.
Die Vor- und Nachbereitungszeit wurde von 19,5 auf 30 Stunden pro Jahr erhöht und die bisher nur im Tarifgebiet West geltende Regelung auf das Tarifgebiet Ost ausgeweitet. Auf der Habenseite sind also durchaus ein paar Verbesserungen zu finden, die angesichts der abwehrenden Haltung der VKA nicht selbstverständlich waren und erst durch die Streiks erreicht wurden.

Noch ein weiter Weg
Nicht durchgesetzt werden konnte ein Konsequenzenmanagement, also ein Ausgleich von besonderen Belastungssituationen. Auch der Rechtsanspruch auf Qualifizierung konnte nicht durchgesetzt werden. Die Laufzeit ist mit fünf Jahren bis 31.12.2026 ähnlich lang wie in den vorangegangenen Tarifrunden zur Struktur des Tarifvertrags 2009 und 2015. Die Gewerkschaften sehen den jetzigen Abschluss positiv, wenn auch nur als Baustein auf dem langen Weg zu tatsächlicher Aufwertung.
Folgt man den Kommentarspalten bei Facebook, äußern sich über 80 Prozent negativ und Ver.di stehen einige Austritte bevor. Beklagt wird vor allem, dass am Personalschlüssel, der Knackpunkt in der Überlastung in dieser Branche, nichts verändert wurde.
Zweiter meist genannter Kritikpunkt ist, dass die Kitaleitungen diesmal ab zwei Entlastungstagen leer ausgehen. So konnte etwa eine verbindliche Eingruppierung für die stellvertretenden Leitungen nicht durchgesetzt werden.
Die Kommentare sind natürlich nicht repräsentativ, zeigen jedoch nicht zuletzt, dass das komplizierte Tarifkonstrukt selbst zur Unklarheit beiträgt und die Forderungen nicht dem Kern der Überlastung entgegenwirken können: dem Personalmangel, dem schlechten Personalschlüssel und der prekären Ausbildungssituation. So werden unter den derzeitigen Umständen die Entlastungstage von manchen als de facto Belastungstage gesehen, solange nicht entsprechend zusätzliches Personal eingestellt wird.
Die Inflation konnte mit diesem Ergebnis ebenfalls nicht annähernd ausgeglichen werden und wurde mit dem Fokus auf Eingruppierung und entlastende Maßnahmen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz auch nicht als Thema gesetzt. Hier verweist Ver.di auf die anstehende Tarifrunde zur Vergütung im öffentlichen Dienst ab Januar 2023.
Nicht Entlastung, sondern Eingruppierungen und damit Aufwertung standen im Zentrum der Auseinandersetzung. Ob die jetzigen Regelungen ausreichen, mehr Personal für die Branche zu akquirieren und zu halten, darf bezweifelt werden. In der Tat ist hier noch ein langer Weg zu gehen.
In sozialen Berufen liegt der Kern für Entlastung im Personalschlüssel. Im Krankenhaus und jüngst durch die Lehrer:innen in Berlin wurde dies zum Ausgangspunkt für eigenständige Entlastungstarifverträge genommen. In der sozialen Arbeit sei dies, so Ver.di, eher politisch auf gesetzlicher Ebene zu verwirklichen. Eine Schwierigkeit sei dabei auch, dass die gesetzlichen Standards von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich sind. Je nach Feld kämen auf eine Sozialarbeiterin 25 bis 130 Fälle.
Hier und für die überfällige Verbesserung der Ausbildungssituation müssen also noch Antworten gefunden werden. Damit Tarifrunden nicht im Frust enden, wird eine Demokratisierung der Gewerkschaft jedoch notwendig sein. Die aktuellen Krankenhausstreiks zeigen dies sowohl in Hinblick auf den Organisierungsprozess, die Forderungsentwicklung sowie auch zunehmend bei den Verhandlungen.
Sonst werden hart erkämpfte, aber vom Ergebnis zu kleine Verbesserungen in der angespannten Situation der Branche eher wie Elendsverwaltung wahrgenommen. Im Ergebnis folgte Ver.di den üblichen Tarifroutinen, flankiert von kreativen Aktionen, Arbeitsstreiks, um Kolleg:innen anzusprechen, und neuen offensiveren Ansätzen zur Bündnisarbeit. So fand der erste Warnstreik am 8.März statt, und an mehreren Orten unterstützten ihn aus dem Frauenstreik heraus feministische Gruppen, die die Tarifrunde zum Anlass nahmen, Aufmerksamkeit auf un(ter)bezahlte gesellschaftliche Sorgearbeit zu lenken.
Sie hatten die Möglichkeit, weitergehende politische Forderungen, etwa nach Gruppenverkleinerung zu stellen, aber auch ihnen ist es noch nicht gelungen, gesellschaftlich durchsetzungsfähig zu werden.
Erste Lernprozesse und Annäherungen wurden so in einigen Städten begonnen, aber gingen oft noch nicht darüber hinaus, auch weil die Möglichkeit zum intensiven Austausch durch die vereinzelten Streiktage schwierig war.
Es wird nun spannend, wie sich die Gewerkschaftsmitglieder entscheiden.

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