Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2023

Die dritte Regierung Lula beginnt das Blatt zu wenden
von Hermann Dierkes

Eine Woche nachdem in der Hauptstadt Brasília 300000 Menschen Lulas Wahlsieg und seine Amtseinführung gefeiert haben, stürmten mehrere tausend Bolsonaro-Anhänger das Kongressgebäude, den Präsidentenpalast und das Oberste Bundesgericht. Viele von ihnen hatten seit Wochen vor Kasernen und dem Generalstab kampiert – logistisch wohl versorgt – und das Militär zum Putsch aufgefordert. Das Militär unternahm nichts gegen die Putschisten, ebensowenig der Gouverneur von Amazonien, der Bundesstaat, aus dem viele der Putschisten kamen. Lula unterstellte daraufhin die öffentliche Sicherheit rund um die Hauptstadt dem Bund, der Gouverneur wurde seines Amtes enthoben, von den anderen Gouverneuren forderte er Loyalität. Zahlreiche ausländische Regierungen verurteilten den Angriff. Der Bolsonarismus hat sich dadurch politisch isoliert.

Nach seiner Vereidigung als neuer Präsident und der seines Vizepräsidenten Alckmin von der bürgerlichen PSB betonte Lula, seine Regierung wolle keinen Rachefeldzug antreten, aber wer sich schuldig gemacht habe, werde nach den gesetzlichen Bestimmungen zur Rechenschaft gezogen. Er hob »das mutige Handeln der Justiz, insbesondere des Obersten Bundesgerichts« hervor, ohne das der Wahlausgang durch die antidemokratischen und gewalttätigen Übergriffe der Bolsonaristen stark gefährdet gewesen wäre.
Die anschließende traditionelle Verleihung der Präsidentenschärpe durch den jeweiligen Amtsvorgänger vor dem Alvorada-Palast lief diesmal anders ab, denn Bolsonaro hatte sich verweigert und war aus Angst vor drohender Strafverfolgung für zahlreiche Verbrechen während seiner Amtszeit nach Florida ausgeflogen. (Es laufen zahlreiche Verfahren gegen Bolsonaro. Da seine Immunität Ende 2022 ausgelaufen ist, muss er damit rechnen, dass er verurteilt und inhaftiert wird. Die Presse berichtete, dass Bolsonaro mit der italienischen Regierung Meloni über eine Übersiedlung seines Clans nach Italien verhandelt.)
Deshalb übernahm diese Aufgabe eine Gruppe von Menschen aus dem Volk, die zugleich die Vielfalt der brasilianischen Bevölkerung und das Bekenntnis der Regierung Lula zu einer Politik der Inklusion darstellen sollte: ein Behinderter, ein schwarzer Jugendlicher, der hochbetagte Kazike Raoni Metuktire vom Regenwaldvolk der Kayapo, eine Müllsammlerin, ein Lehrer, eine Köchin, ein Metallarbeiter und ein Kunsthandwerker. Dann hielt Lula eine bewegende Antrittsrede, bei er immer wieder von stürmischem Applaus unterbrochen und, wie des öfteren bei bedeutenden Anlässe, von Emotionen überwältigt wurde, als er auf die verbreitete Armut im Land zu sprechen kam und seine feste Entschlossenheit bekundete, damit Schluss zu machen.
Sein Kontrastprogramm zur katastrophalen Bilanz des Bolsonarismus an der Regierung:
– Schluss mit Hasspropaganda und Lügen;
– Demokratie, Transparenz und Gesetzlichkeit;
– soziale Erholung des Landes mit sofortiger Erhöhung des Sozialgelds für Arme und kinderreiche Familien, Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns, neue Offensive im Wohnungsbau;
– Wiederaufbau des schwer angeschlagenen Gesundheitswesens sowie wissenschaftlich basierte Pandemiebekämpfung (deren völliges Versagen unter Bolsonaro bisher fast 700000 Menschenleben gekostet hat);
– Förderung von Bildung und Kultur, Stopp der neoliberalen Wirtschaftspolitik und der Privatisierungen von öffentlichen Unternehmen;
– radikal neue Umweltpolitik und Rettung des Regenwalds;
– Geschlechtergleichstellung sowie Schutz der ethnischen Gruppen (v.a. der bedrohten Indígenas, die von den Bolsonaristen als Untermenschen betrachtet werden);
– Transparenz des politischen Prozesses und weitgehende Demokratisierung, Rücknahme der Waffenliberalisierung;
– eine progressive Rolle Brasiliens in der globalen Außenpolitik, lateinamerikanische Integration unter Einbeziehung des von Bolsonaro (und dem Westen) ausgegrenzten Venezuela, Förderung der Beziehungen zu Afrika und vieles mehr.

Der Haushaltsentwurf 2023
Auch die anschließende Regierungsbildung zeigt, dass Lula es ernst meint. Im Übergang zwischen Wahlsieg und Amtsantritt hatten zahlreiche thematische Arbeitsgruppen aus den Koalitionsparteien unter Hinzuziehung von verlässlichen Fachleuten aus der Verwaltung den Stand der Dinge in den ausgehenden Ministerien zu bilanzieren versucht – nicht ohne Widerstände und böse Überraschungen.
Parallel dazu wurden mit den bürgerlichen Parteien der sog. Mitte in Kongress und Senat schwierige Verhandlungen über den Haushaltsentwurf 2023 geführt, den die kommende Regierung noch verändern will. Streitpunkt war vor allem der Haushaltsdeckel, mit dem seit Jahren vor allem die Sozialausgaben niedrig gehalten wurden, während auf der anderen Seite Milliarden Reais an Günstlinge, deren außerparlamenterische Stützen und Wahlkreise verteilt wurden, um Bolsonaros parlamentarische Basis mit den Parteien der opportunistischen Mitte zusammenzuhalten.
Diese Masche der sog. emendas parlamentares (Verfassungszusätze) war bereits seit längerem gerichtlich von linken Parlamentariern angegriffen worden. Lula hatte sie im Wahlkampf heftig kritisiert. Noch Ende letzten Jahres wurden die emendas durch das Oberste Bundesgericht für verfassungswidrig erklärt.
Die anschließend und kurz vor Jahresschluss mehrheitlich in beiden Häusern ausgehandelte Lösung sieht nun so aus, dass der Haushaltsdeckel ein Jahr lang speziell für die von Lula angekündigte Anhebung wichtiger Sozialausgaben ausgesetzt wird. Die Hälfte der schon im Haushaltsentwurf der Regierung Bolsonaro eingeplanten Mittel für die emendas kann nun für die erhöhten Sozialausgaben verwendet werden – insbesondere für die Familienhilfe, die auf 600 Reais angehoben wird, sowie 150 Reais für jedes Kind unter sechs Jahren umfasst; diese Maßnahme betrifft etwa 21 Millionen Menschen! Die andere Hälfte der Haushaltsmittel wird auf die zuständigen Ministerien verteilt. Die Regierung Lula sagte zu, bis August ein Steuerreformkonzept vorzulegen.
Mit 37 Ministerien (+14) wurde deren Zahl deutlich angehoben. Dabei spielten wichtige bündnispolitische Überlegungen eine Rolle, weil Lula und die Linke weder im Parlament noch im Senat über eine eigene Mehrheit verfügen. Die PT führt zwölf Ministerien, Vertreter der PSOL (Partei des Sozialismus und der Freiheit) haben zwei. (Laut Kongressbeschluss schließt sich die PSOL nicht formell der Regierung an, unterstützt sie aber; sie will ihre Handlungsfreiheit behalten.)
Problematisch ist u.a. die Berufung einer Ministerin von der União Brasil (frühere Bolsonaristen) aus Rio, die sich vor der Stichwahl persönlich für Lula ausgesprochen hatte. Ihr werden Verbindungen zum Milizenmilieu nachgesagt.
Wichtige Ministerien wurden wieder ins Leben gerufen bzw. erstmals geschaffen. So gibt es erstmals ein Ministerium für indigene Völker mit der Indígena Sonia Guajajara (PSOL) an der Spitze. Anielle Franco, PSOL-Mitglied und Schwester der vor drei Jahren ermordeten Abgeordneten von Rio, Marielle Franco, wurde Ministerin für ethnische Gleichstellung. (Der neue Justizminister Flávio Dino von der PSB hat die Spitzen der Polizei bereits reorganisiert und angekündigt, den Mord an Marielle Franco aufzuklären und die Auftraggeber ausfindig zu machen. Sie werden seit langem unter den kriminellen Milizen von Rio vermutet, zu denen auch der Bolsonaro-Clan enge Beziehungen unterhält.)
Mit der Ernennung der international hoch angesehenen Marina Silva (Rede) zur Umweltministerin beweist Lula seine Entschlossenheit im Kampf gegen die Regenwaldvernichtung.
Das Arbeitsministerium wurde wieder hergestellt, ebenso das Ministerium für Agrarentwicklung und Familienlandwirtschaft, ein Frauenministerium wurde neu geschaffen. Das Gesundheitsministerium wird von der bisherigen Leiterin des medizinischen Instituts Fiocruz geführt, nachdem insbesondere eine Reihe von bolsonaristischen Generälen sich als ideologisch verblendet und unfähig erwiesen hatte, die Pandemie zu bekämpfen.

Erste Dekrete Lulas
Gleich nach der Berufung seiner Minister im Präsidentenpalast ging Lula zur Sache: Er unterzeichnete exemplarisch eine ganze Reihe von Dekreten, mit denen das Profil der neuen Regierung und der Kontrast zu Bolsonaro deutlich wird. So wird die per Dekret vom Amtsvorgänger verfügte Liberalisierung des Waffenbesitzes (nach Trump-Muster) aufgehoben, Einzelheiten für die Entwaffnung will eine Arbeitsgruppe binnen 60 Tagen vorlegen.
Aufgehoben wurde auch das Dekret Bolsonaros, mit dem wichtige Dokumente für lange Zeit (bis zu 100 Jahren) unter Verschluss gehalten werden sollen; aufgehoben wurde das Dekret, das Goldwäsche und andere Formen der wirtschaftlichen Nutzung in Indigenen- und Naturschutzgebieten erlaubte, sowie ein Dekret, das die Teilhabe der Bevölkerung an bestimmten politischen Entscheidungsprozessen einschränkt. Wiederaufgelegt wurde der Amazonas-Fonds zum Schutz des Regenwalds, der auf internationale finanzielle Unterstützung rechnen kann, nachdem diese wegen der Regenwaldvernichtung eingefroren worden war…
Die Herausforderungen für die dritte Regierung Lula sind – bedingt durch die riesigen historischen Defizite Brasiliens und den Katastrophenkurs Bolsonaros – auf praktisch allen politischen Gebieten gewaltig. Der Bolsonarismus ist weiterhin stark in der Bevölkerung und in etlichen politischen Institutionen, wenngleich er derzeit strukturell bröckelt und wohl nach einer neuen Führungsfigur suchen muss. Mehrheiten in Parlament und Senat muss sich die neue Regierung bei opportunistischen bürgerlichen Parteien suchen.
8.1.2023

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