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Europa 1. Mai 2024

Zum Ausgang der Kommunalwahlen in der Türkei
von Ayse Tekin

Bei den Kommunalwahlen in der Türkei am 31.März sind die Fronten der drei Blöcke, die sich bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 abgezeichnet hatten, in Bewegung geraten.

Selbst wenn die Wähler:innen sich möglicherweise bei den kommenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen wieder anders entscheiden, ist diese Entwicklung eine Analyse wert. Dabei ist nicht zu vergessen, dass die türkische Republik ein stark zentralisierter Staat ist, was mit dem neuen Präsidialsystem noch verstärkt wurde. Dennoch zeigen die absoluten Zahlen und Stimmenanteile einen Stimmungswechsel in der Bevölkerung an.
Der Mehrheitsblock von Präsident Erdogan hat so viele Stimmen verloren, dass seine Partei, die AKP (Gerechtigkeitspartei), erstmals seit ihrer Gründung zweitstärkste Kraft geworden ist. Sie hat trotz ihres schlechten Abschneiden aber immer noch 35,5 Prozent der Stimmen bekommen und stellt in zwölf Großstädten die Bürgermeister:innen. Erdogans Partnerin, die nationalistische MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung), rutschte landesweit unter die Sperrklausel von 7 Prozent.
Die Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) hingegen ist so stark wie seit 40 Jahren nicht mehr. Sie wurde mit 37,7 Prozent der Stimmen und 14 Großstädten stärkste Partei. Der dritte Block um die Kurden und linken Parteien hat auch Erfolge erzielt. Besonders die Partei DEM (Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie), die Nachfolgerin der HDP, hat in den kurdischen Gebieten sehr gute Ergebnisse eingefahren.

Größter Zuwachs bei den Nichtwähler:innen
Die Wahlbeteiligung war mit 78,1 Prozent zwar hoch, dennoch lag sie deutlich unter der Quote bei der letzten Wahl (87,4 Prozent). Überwiegend sind AKP-Wähler:innen, laut Umfragen besonders die Rentner:innen, zu Hause geblieben. Diese Gruppe leidet unter der hohen Inflation, ihre Erwartungen, ein Wahlgeschenk zu bekommen, wurden von Erdogan zurückgewiesen, da sie eine große Belastung für den Haushalt gewesen wären.
Erdogan musste nach seinem Versuch, den Zinsanstieg in Schach zu halten, zu liberalkapitalistischen Marktprinzipien zurückkehren; die hohe Inflation hat breite Schichten der Bevölkerung verarmt. Die Bemühungen, ausländische Investoren im produzierenden Gewerbe oder auch im Finanzwesen zu finden, haben noch keine Ergebnisse gebracht.
Laut Wahlanalysen sank die Wahlbeteiligung im Vergleich zu den Wahlen 2023 in den Hochburgen der AKP um bis zu 8 Prozentpunkten, in den Hochburgen der CHP nur um 3,6 Prozentpunkte. Unter den CHP-Wähler:innen war die Enttäuschung nach den Präsidentschaftswahlen so groß, dass auch ihre meist städtisch-akademischen Wähler:innen diesmal nicht zur Wahl gegangen sind.
Für viele AKP-Wähler:innen war zusätzlich die Israel-Politik Erdogans entscheidend für ihre Nichtwahl. Eine Äußerung ist für diese Enttäuschung bezeichnend: »Wir sind Erdogan-Anhänger geworden, als er in Davos ›One Minute‹ gerufen hat, wir wenden uns jetzt von ihm auch wegen Israel ab.«*

Die Opposition
Wählerumfragen zeigen, dass die Erneuerung in der Opposition gewirkt hat: Die CHP hatte nach den Präsidentschaftswahlen auf einem Parteikongress ihren früheren Vorsitzenden abgewählt. Die junge Generation hat das Zepter übernommen. Obwohl die innerparteiliche Bewegung vom Istanbuler Bürgermeister Ekrem ?mamo?lu angeführt wurde, hat er gerade wegen seiner Popularität in Istanbul nicht für den Vorsitz kandidiert.
Die neue Führung der CHP verhält sich gegenüber den Kurden immer noch taktisch, hat sich aber für deren Unterstützung in den Großstädten im Westen des Landes bedankt. Die CHP hat auch in einigen »AKP-Städten und -Gemeinden« Erfolge erzielt, was dafür spricht, dass die AKP-Wähler:innen, die früher vor allem aus pragmatischen Gründen AKP wählten, diesmal aus Frust für die Opposition – im Westen für die CHP und im Osten für DEM – gestimmt haben.
Die kurdischen Wähler:innen haben sich im Westen ebenfalls taktisch verhalten. Die Partei DEM hat zwar überall eigene Kandidat:innen aufgestellt, aber in den westlichen Städten wurde auch eine Kompromisstaktik angewandt.
Die DEM hat in zehn kurdischen Städten die Wahlen gewonnen, auch in den Städten, wo nach den letzten Wahlen ihre Bürgermeister:innen abgesetzt und verhaftet wurden und Treuhänder:innen aus Ankara die Verwaltung übernommen haben. Die Wähler:innen haben gezeigt, dass der zentralistische »Terrorismusvorwurf« sie nicht einschüchtert, und haben erneut die Partei und deren Kandidat:innen unterstützt.
Obwohl die DEM zum Ende der Wahlkampagne mit bekannten Namen wie Selahattin Demirtas oder Leyla Zana für die Kandidat:innen im Westen geworben hat, haben sich die Wähler:innen dort anders entschieden und haben ihre Stimme den CHP-Kandidat:innen gegeben. Das erklärt, warum sie mit 5,7 Prozent hier nur den vierten Platz besetzt.
Die DEM hat in drei Großstädten gewonnen. In einer von diesen wurde das übliche Spiel versucht. Einer ihrer Kandidaten wurde von der örtlichen Wahlkommission nach seinem Wahlsieg (55,4 Prozent) für nicht wählbar erklärt. Der Versuch, den Zweitbesten (27,1 Prozent) zum Sieger zu erklären, wurde durch die massiven Proteste der Bevölkerung und auch durch die Unterstützung anderer Parteien aus Ankara verhindert.

Eine überraschende dritte Kraft
Nun zu der Partei, die überraschend den dritten Platz belegt hat: Die Neue Wohlfahrtspartei, Yeniden Refah Partisi (YPR), fühlt sich der Tradition Erbakans (des Ziehvaters Erdogans) verpflichtet. Geführt wird diese Partei vom Sohn Erbakans. Bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr hatte sie Erdogan unterstützt, bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen jedoch eigene Kandidat:innen aufgestellt und vier Sitze im Parlament gewonnen.
Wem eine konservativ-muslimische Ausrichtung wichtig war, hat sich für diese islamistische Partei entschieden. Die Parteiführung hatte Erdogans Politikstil, die Selbstüberschätzung der AKPler:innen, die vielerorts offensichtliche Misswirtschaft, das System des Klientelismus, aber auch die Instrumentalisierung der Justiz kritisiert und sich als wahre Vertreterin des Islam präsentiert. Sie hat 6,2 Prozent der Stimmen bekommen und eine Großstadt gewonnen.

Die Bedeutung der Großstädte
Als Großstadt werden in der Türkei die Städte bezeichnet, die über 750000 Einwohner:innen zählen. Zurzeit gibt es 30 Großstädte, deren wirtschaftliche Leistung ist nicht gleich verteilt ist. Die wirtschaftliche Leistung spielt für die städtischen Haushalte eine Rolle, weshalb das Wahlergebnis auch in dieser Hinsicht zugunsten der CHP ausgefallen ist. Erdogan war und ist ein Meister im Verteilen örtlicher, später zentraler Finanzen auf seine Klientel. Das tat er meisterhaft als Bürgermeister von Istanbul, und als Staatspräsident hat er das System perfektioniert.
Vor zehn Jahren stellte die AKP die Bürgermeister:innen in den Städten, die 74 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erzeugen, heute liegt dieser Wert bei 19 Prozent. Allein der Verlust Istanbuls hat sie 30 Prozent gekostet, das zeigt, warum Istanbul so wichtig ist.
Für die CHP sehen die Zahlen umgekehrt aus: Vor zehn Jahren erwirtschafteten die Bürgermeister der von ihr regierten Städte 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, heute sind es 73 Prozent. Die DEM, die früher Baris ve Demokrasi Partisi (BDP – Partei der Demokratie und des Friedens) hieß, erreichte vor zehn Jahren 3 Prozent und ist bis heute konstant geblieben.

Ein Sieg der Frauen
Bei den Kommunalwahlen wurden in 11 von 81 Städten Kandidatinnen als Bürgermeisterinnen gewählt, davon sind sechs von der CHP, vier von der DEM und eine von der AKP. Werden die Bezirke hinzu gezählt, hat die CHP mit 32 Bürgermeisterinnen den höchsten Frauenanteil vor der DEM mit 31 Bürgermeisterinnen. Zwei von diesen Frauen haben symbolische Bedeutung: In Üsküdar, wo Präsident Erdogan wohnt, wenn er in Istanbul weilt, hat die CHP nach 30 Jahren zum ersten Mal mit ihrer Kandidatin Sinem Dedetas die Wahl gewonnen (49,9 Prozent).
In Batman gewann Gülistan Sönük von DEM mit der überwältigenden Mehrheit von 64,5 Prozent. Über sie hatte sich der Hüda-Par-Kandidat mit den Worten lustig gemacht: »Wenn wir gewinnen, werden wir uns nicht in die Farbe deines Tschadors einmischen.« Das war der höchste Wert aller Kandidat:innen landesweit. Die Hüda-Par ist eine Hesbollah-orientierte kurdische Partei, die bei den Präsidentschaftswahlen Erdogan unterstützt hatte und ihre Kandidatinnen für das Parlament nicht mit einem Bild, sondern mit einer Tschador-Kontur darstellte.
Das Ergebnis kündet nicht nur von einem politischen, sondern auch von einem gesellschaftlichen Wandel in Batman. Gülistan Sönük engagiert sich nach eigenen Worten seit ihrer Studienzeit in der kurdischen politischen Bewegung und für Frauenrechte.

*Zur Erinnerung: Der damalige ­Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan hat auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos 2009 vor großem Publikum und laufenden Kameras eine Podiumsdiskussion mit Israels Präsident Shimon Peres, dem UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon und dem Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Mussa, verlassen, weil ihm zu kurz das Wort erteilt wurde.

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