Vorschläge gegen Europamüdigkeit
von Matthias Becker
Europa 2050 – souverän, sozial, handlungsfähig. Hrsg. T.Hartmann-Cwiertnia u.a. Bonn: Dietz, 2024. 168 S., 18 Euro
Ein neuer Sammelband aus der Friedrich-Ebert-Stiftung will Hoffnung für die Zukunft der Europäischen Union schüren. Doch das Buch belegt eher, wie gespalten die Union in Wirklichkeit ist.
Zur Europawahl ist ein Sammelband erschienen, der Auswege aus der Misere der EU aufzeigen will. Die Herausgeber arbeiten für die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) oder stehen ihr nahe, ebenso die Autorinnen und Autoren. Sie befassen sich unter anderem mit der Sozial-, Wirtschafts- und Migrationspolitik der EU und ihren militärischen Ambitionen. Ergänzt werden diese Analysen durch zwei Interviews mit Mitgliedern des Europäischen Parlaments der SPD. Kein Wunder also, dass diese europapolitische Bestandsaufnahme sozialdemokratisch geprägt ist – und etwas ratlos zurücklässt.
Die Rechtsverschiebung durch die EU-Wahlen Anfang Juni war erwartet worden. Der Politikwissenschaftler Frank Decker, einer der Herausgeber, interpretiert den Aufstieg von Parteien wie AfD, Vox oder Rassemblement National als eine Folge der fehlenden Legitimation der EU. Sie lehnten »eine weitere Vertiefung der europäischen Integration« ab und wollten »die EU auf ein lockeres Staatenbündnis zurückführen … Selbst wenn die EU-Skeptiker nicht mit einer Mehrheit rechnen können, ist ihr Erstarken Ausdruck einer Vertrauenskrise, die die nationalen und europäischen Regierungsinstitutionen gleichermaßen erfasst.«
Tatsächlich gibt bei Meinungsumfragen nur noch knapp die Hälfte der Teilnehmer an, dass sie der EU und ihren Institutionen vertraut – ein historischer Tiefpunkt. Selbst in Deutschland, wo der EU lange viel Sympathie entgegengebracht wurde – jedenfalls im Vergleich zu den anderen Mitgliedsländern – ist die Union nicht populärer. Während die unten nicht mehr richtig wollen, wissen die oben nicht mehr so recht, wie es weiter gehen soll.
Diverse Krisen belasten das Bündnis, die wichtigste ist die verstärkte Blockbildung zwischen China und den USA und die zunehmenden geopolitischen und geoökonomischen Konflikte. In vielen Fragen gelingt es der EU-Kommission nur noch mit Mühe, eine einheitliche Linie durchzusetzen. Zu einer gemeinsamen Weltmachtpolitik ist die Union gegenwärtig nicht in der Lage, und von einer vertieften Zusammenarbeit spricht fast niemand mehr.
Insofern klingt der Buchtitel Europa 2050 – souverän, sozial, handlungsfähig sehr kühn. »Europa! muss weiterhin und umso mehr die Antwort für alle lauten, die an ein besseres Morgen glauben«, schreiben die Herausgeber. Das klingt nach Zweckoptimismus, denn Vorschläge für gangbare Reformen, die gleichzeitig mehrheitsfähig und wirksam sein könnten, sind rar.
Als Ursache der Zerstrittenheit (der Regierungen) machen die Autor:innen die auseinanderstrebenden nationalen Interessen aus. Bekanntlich ist die EU eine Art Zwitter, eine Mischung aus föderaler Staatlichkeit (mit Parlament, Recht und Rechtsprechung) und einem Bündnis souveräner Staaten; und sie ist vor allem eine Freihandelszone. Der gemeinsame Markt ging der politischen Integration voraus (und wird sie aller Voraussicht nach auch überleben). Kapital, Waren, Dienstleistung und Arbeitskraft können die Grenzen der Mitgliedstaaten weitgehend ungehindert überschreiten. Gerade dies verschärft die Konkurrenz zwischen Unternehmen und zwischen den Staaten.
Die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zwischen den Verlieren und Gewinnern im nationalen Wettbewerb wachsen, denn die Umverteilung durch die Gemeinsame Agrarpolitik und die Europäischen Strukturfonds gleichen sie nicht aus. Das Versprechen auf eine Angleichung der Lebensverhältnisse hat sich nicht erfüllt. Dies beklagt auch der Ökonom Björn Hacker: »Seit vielen Jahren können sich die Mitgliedstaaten nicht auf eine gemeinsame Bemessungsgrundlage der Körperschaftsteuer und schon gar nicht auf einen Mindeststeuersatz einigen.« Es fehlten EU-weite Mindeststandards der öffentlichen Daseinsvorsorge und der staatlichen Investitionstätigkeit.
Die anhaltende soziale Ungleichheit innerhalb der EU sei ein wichtiger Grund für die fehlende Legitimität und mangelndes Vertrauen, glaubt Björn Hacker. In diesem Sinne zitiert er Willy Brandt: »Soziale Gerechtigkeit darf kein abstrakter Begriff bleiben und sozialer Fortschritt nicht als bloßes Anhängsel des wirtschaftlichen Wachstums missverstanden werden. Wenn wir eine europäische Perspektive der Gesellschaftspolitik entwickeln, wird es vielen Bürgern unserer Staaten auch leichter werden, sich selbst mit der Gemeinschaft zu identifizieren.«
So wie er geißeln viele Autor:innen dieses Buchs den angeblichen nationalen Egoismus. Um die Integration weiterzutreiben, müssten Besteuerung und Wirtschaftspolitik vereinheitlicht werden.
Ein einheitlicher Mindestlohn, Mindeststeuersätze oder andere konkrete Schritte haben allerdings gegenwärtig keinerlei Chance auf Mehrheiten. Die EU-Mitglieder sind gespalten in Hartwährungsländer und Weichwährungsländer im Euroraum (teilen aber bekanntlich dieselbe Währung), gespalten in kleine und große Wirtschaftsmächte und, etwas schematisch, in ein Nord-, Süd- und Ost-Lager. Die unterschiedlichen Interessen gegenüber China und Russland komplizieren die Situation zusätzlich. Dies gilt allerdings auch für die Mittelmächte auf dem Kontinent, namentlich für Frankreich und Deutschland, die in diesen Fragen keineswegs »eine Achse bilden«.
Die Spaltung hat zu einer institutionellen Blockade geführt bzw. zementiert diese. EU-Kommission, Europäischer Rat und Parlament befinden sich in einer Art Pattsituation. Die Autoren entwickeln unterschiedliche Ideen, wie die Union handlungsfähig werden könne.
Das EU-Parlament hat bekanntlich bisher wenig Einfluss. Die Abgeordneten dürfen weder Gesetze vorschlagen, noch die Regierung wählen. Die Reformvorschläge in »Europa 2025« zielen einerseits auf eine Demokratisierung des Parlaments, andererseits darauf, die Entscheidungen innerhalb der Regierungsgremien zu straffen. Viele fordern, das Konsensprinzip bei wichtigen Entscheidungen abzuschaffen. Zum Beispiel Christos Katsioulis, der in seinem Beitrag über die militärische Zusammenarbeit schreibt: »Solange einzelne Mitgliedstaaten Entscheidungen nach Gutdünken für eigene Zwecke blockieren können, wird die EU auf internationaler Ebene kein ernstzunehmender Machtfaktor sein.«
Hemmschuh Konsensprinzip
Das leuchtet ein. Die kleineren und ökonomisch schwächeren Länder werden aber das Konsensprinzip mit aller Kraft verteidigen. Sie fürchten, nicht zu Unrecht, sonst zum Spielball der größeren Mitgliedstaaten zu werden. Die politische »Harmonisierung« wäre ein Euphemismus dafür, souveräne Rechte abzutreten. Übrigens steht die nächste Runde der Erweiterung an: Sechs Westbalkanstaaten, die Ukraine, Moldau und Georgien wollen der EU beitreten. Dann hätte die Union etwa 75 Millionen Bürger hinzugewonnen – und sich gleichzeitig neun Vetomächte eingehandelt, darunter Serbien und das Kosovo.
Die zunehmenden krisenhaften Verwerfungen, die fehlende Legitimität ihrer Strukturen und auch der wachsende Überdruss des Wahlvolks könnten dazu verführen, die EU als Weltmacht abzuschreiben. Aber das wäre voreilig. Auch die rechten, angeblichen Europafeinde werden die EU pragmatisch für ihre Zwecke nutzen, nicht sie abwickeln. Und vielleicht zwingt eine noch bedrohlichere weltpolitische Lage – etwa ein Krieg – die Staaten zu Kompromissen, die den Weg frei machen würden für ein neues institutionelles Gefüge. Dass dieses Gefüge dann demokratisch und sozial sein wird, ist allerdings unwahrscheinlich.
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