Das Freudenstädter ÖPNV-Taxi
von Paul Michel
Die Mobilitätswende findet, wenn überhaupt, in den Städten statt. Hier existiert in der Regel ein halbwegs gut ausgebauter öffentlicher Nahverkehr mit Bussen, Straßenbahnen, teilweise U-Bahnen sowie eine Anbindung an das Netz von Regional und Fernzügen. Auch der Fuß- und Radverkehr spielt in den Städten eine größere Rolle. Zudem gibt es hier eher Zusammenschlüsse von Menschen, die sich für eine Mobiltiätswende und lebenswerte Städte oder gar für autofreie Innenstädte engagieren.
Auf dem Land fristet der ÖPNV ein Schattendasein. In den letzten Jahrzehnten wurden existierende öffentliche Mobilitätsangebote sogar noch systematisch abgebaut. Von 1960 bis 1993 wurden über 8000 Kilometer Bahnstrecken stillgelegt, die meisten davon im ländlichen Raum. Die Bahnreform im Jahr 1994 bescherte eine weitere Stilllegungswelle mit zusätzlich 5400 Kilometern vom Verkehr abgekoppelten Gleisen. Die verbliebenen öffentlichen Verkehrslinien sind in der Regel sternförmig auf das nächstgelegene Zentrum ausgerichtet. Netzförmige und flächendeckende Infrastrukturen, die auch kleinere Gemeinden direkt verbinden, fehlen weitgehend.
Der ausgedünnte ÖPNV ist kaum dazu in der Lage, den differenzierten Mobilitätsbedürfnissen verschiedener sozialer Gruppen gerecht zu werden. Auch zu Fuß oder mit dem Rad sind viele Angebote in peripheren ländlichen Regionen nicht in einer vertretbaren Zeit zu erreichen. Damit ist das Auto für viele alternativlos, wollen sie in einen Supermarkt oder zum Hausarzt. In nicht wenigen Haushalten gibt es neben dem Zweit- sogar einen Drittwagen.
Andererseits gilt: Wenn wir die drohende Klimakatastrophe abwenden oder auch nur deutlich in ihrer Wirkung abschwächen wollen, ist der Umstieg auf eine nachhaltige und gerechte Verkehrspolitik nicht nur in den Städten, sondern gerade auch auf dem Land dringend erforderlich.
Dafür gibt es durchaus einzelne Ansätze. Ein Beispiel findet sich im Nordschwarzwald, rund um die beiden Kleinstädte Freudenstadt und Horb. Dort wurde in den letzten beiden Jahren ein Projekt entwickelt, das Schule machen sollte: das ÖPNV-Taxi. Es bringt die Fahrgäste zu einer der besser ausgebauten Hauptlinien des Busverkehrs oder zu einem Bahnhof. Bewohner:innen abgelegener Ortschaften wird dadurch die Teilnahme am ÖPNV ermöglicht. Busse mit 50 Sitzplätzen fahren nicht mehr leer durch kleine Ortschaften.
Wie geht das?
Im Kreis Freudenstadt können seit September 2022 Fahrgäste, deren Fahrtwunsch nicht innerhalb einer Stunde durch reguläre Bus- und/
oder Bahnverbindungen bedient wird, ein ÖPNV-Taxi zu günstigen Fahrpreisen bestellen. Das Angebot gilt Montag bis Donnerstag von 5 bis 24 Uhr, Freitag von 5 bis 1 Uhr, Samstag von 7 bis 1 Uhr und Sonntag von 7 bis 24 Uhr. Die Bestellung des Taxis hat lediglich 40–60 Minuten Vorlauf. Geordert werden kann es per App, aber auch mit einer normalen Festnetznummer über ein Callcenter der örtlichen Verkehrsgesellschaft. Damit wird auch Menschen der Zugang zum ÖPNV ermöglicht, die nicht über ein Smartphone oder einen Internetzugang verfügen.
Der Fahrgast teilt lediglich seinen Fahrtwunsch mit. Dann prüft die App oder der Callcentermitarbeiter, ob in den nächsten 45–60 Minuten eine fahrplanmäßige Bus- und/oder Bahnverbindung zur Verfügung steht. Wenn ja, wird der Fahrgast darauf verwiesen. Wenn nein, kann er oder sie direkt ein ÖPNV-Taxi zum reduzierten Fahrpreis bestellen. Für 1–2 Euro Aufschlag auf den normalen ÖPNV-Tarif können sich die Leute zu einer nahegelegenen Haltestelle bringen lassen. Für 5 Euro Aufschlag fährt das Taxi bis vor die Haustüre.
Traurige Wirklichkeit
Wünschenswert wäre natürlich, dass die Leute auch für das ÖPNV-Taxi lediglich den normalen ÖPNV-Fahrpreis zahlen. Aber für bundesdeutsche Verhältnisse ist das Freudenstädter ÖPNV-Taxi schon erstaunlich preiswert. Natürlich ist das Projekt nicht kostendeckend. Die Differenz zwischen dem vom Kunden an das Taxis gezahlten Fahrpreis und dem regulären Taxipreis erstattet der Landkreis dem Taxiunternehmen. Der Landkreis wiederum bekommt eine Subvention vom Land. Das Freudenstädter Modell erhält bisher einen jährlichen Zuschuss von 1,8 Millionen Euro im Rahmen des Förderprogramms »Innovationsoffensive öffentliche Mobilität« vom Verkehrsministerium in Stuttgart.
Eine grundsätzliche Schwäche teilt das Freudenstädter ÖPNV-Taxi mit vielen anderen von öffentlichen Behörden betriebenen Projekten: Es gibt wenig Werbung. Vielen Leuten im Kreis dürfte gar nicht bekannt sein, dass es das gibt. Dabei könnten die Gemeinden zur Einführung des Projekts Volksfeste organisieren, in deren Rahmen erklärt wird, wie das System funktioniert.
Ob das Freudenstädter Modell ein umfassender Erfolg wird, hängt aber vor allem auch von Faktoren ab, die jenseits der Grenzen des Landkreises entschieden werden. Das fängt an bei Fahrplandichte und Taktung der Bus- und Bahnlinien im Kreis. In einer vom Verkehrsministerium herausgegeben Broschüre ÖPNV-Strategie 2030 werden mit Blick auf Baden-Württemberg die bestehenden Probleme richtig beschrieben:
»Der ÖPNV fährt bei uns noch nicht häufig genug und wird an Wochenenden und zu Tagestrendzeiten vielerorts stark reduziert … Das Angebot ist häufig noch zu langsam und nicht zuverlässig. Es fehlt oft an durchgehenden, aufeinander abgestimmten sowie anschlussgesicherten Verkehrsangeboten, die durchgehende Reiseketten ergeben.«
Wie die Lösung aussehen könnte, wird in der gleichen Broschüre unter »Zielbild 2030« ebenfalls richtig beschrieben:
»In den Verdichtungsräumen ist bei Bus und Bahn zu gängigen Verkehrszeiten mindestens ein Viertelstundentakt die Regel. In der Fläche kommt man zu diesen Tageszeiten mit dem ÖPNV grundsätzlich im Halbstundentakt nahezu überall hin.«
Dazu müsste aber die vom baden-württembergischen Verkehrsminister angekündigte »Mobilitätsoffensive« tatsächlich stattfinden.
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