Karl Marx und Mary Burns: Die verborgene Stätte der Produktion
von Ingo Schmidt
Zur Erinnerung: Thomas Malthus sah in steigenden Löhnen die Ursache einer die Agrarproduktion übersteigenden Bevölkerungszunahme. Hunger und ein Rückgang von Bevölkerung und Löhnen auf ihr ursprüngliches Niveau seien die Folge. David Ricardo übernahm Malthus’ Lohntheorie – von Ferdinand Lassalle als »ehernes Lohngesetz« bezeichnet. Wachsende Bevölkerungs- bzw. Beschäftigungszahlen galten ihm allerdings als möglich und notwendig, weil er – wie fast alle klassischen Liberalen – die Arbeit als Quelle von Wert und Profit ansah.
Mit den abnehmenden Grenzerträgen des Bodens hatte Ricardo allerdings ein Problem. Denn diese führen dazu, dass die Lebensmittelversorgung einer wachsenden Bevölkerung, selbst wenn deren Einkommen am physiologischen Existenzminimum liegt, mit steigenden Kosten einhergeht. Das dadurch verursachte Sinken von Profit- und Akkumulationsrate könne durch technischen Fortschritt zwar verhindert werden, dieser aber zu Arbeitslosigkeit führen.
Dem Mehrwert auf der Spur
Karl Marx führte Ricardos Überlegungen weiter. An die Stelle technologischer Arbeitslosigkeit setzte er die industrielle Reservearmee, die nicht durch technischen Fortschritt an sich, sondern durch dessen Anwendung zum Zweck der Mehrwertproduktion erzeugt wird. Ohne Lohnerhöhungen infolge von Arbeitskämpfen auszuschließen, sorge die Reservearmee dafür, dass die Löhne die Profitrate nicht senken. Jedenfalls nicht dauerhaft.
Wie Ricardo sah auch Marx in der Arbeit die Quelle des Profits bzw. Mehrwerts. Aber Ricardo konnte diese Quelle nicht lokalisieren, weil sein Blick auf den Kampf um die Verteilung einer gegebenen Wertmasse zwischen Lohn, Profit und Grundrente beschränkt war. Marx nahm neben dem Verteilungskampf in der Zirkulationssphäre auch die »verborgenen Stätten der Produktion« in den Blick und konnte zeigen, dass Arbeitskraft, die zu ihrem Tauschwert von Kapitalisten am Markt erstanden wird – also dem Prinzip des Tauschs gleicher Werte entspricht –, im Produktionsprozess mehr Wert schafft, als zur Herstellung ihrer Subsistenzmittel nötig ist.
Sinkende Profit- und Akkumulationsraten, die Ricardo aus abnehmenden Grenzerträgen des Bodens erklärte, waren bei Marx Folge der inneren Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise. Führt die Akkumulation zu steigender Beschäftigung und steigenden Löhnen, veranlasst der Druck auf die Profitrate Unternehmer zu einer Verringerung ihrer Investitionen. Die Folge ist die Überproduktion von Waren und Arbeitslosigkeit, die zu sinkenden Löhnen führen. Damit verbunden ist die Aussicht auf höhere Profite. Diese können aber erst durch eine Ausweitung der Investitionstätigkeit und damit verbundene Nachfragesteigerungen realisiert werden. Dabei werden – mit dem Ziel einer weiteren Erhöhung der Profitrate – technisch weiter fortgeschrittene Anlagen und Produktionsmethoden eingeführt. Mit unbeabsichtigten Folgen: Steigen die Kosten der zusätzlichen Anlagen stärker als die Arbeitsproduktivität, sinkt die Profitrate und es kommt wieder zu einer Krise.
Die Möglichkeit des Sozialismus
Eine ganz andere Folge des kapitalistischen Krisenzyklus ist: Arbeiter sind einerseits dem Auf und Ab von Beschäftigung und Löhnen ausgeliefert. Hart erkämpfte Lohnsteigerungen werden von der nächsten Krise zunichte gemacht. Andererseits lernen Arbeiter aber auch, dass sie zusammen etwas erreichen können und dass sie den Produktionsprozess selbst beherrschen können, die Herrschaft der Kapitalisten über sie zur Produktion also nichts beiträgt. Sie, die Arbeiter, können Betriebe auch in Eigenregie übernehmen.
Aus der Kritik der politischen Ökonomie des Liberalismus von Smith bis Ricardo und der Analyse des kapitalistischen Produktionsprozesses leitete Marx die Möglichkeit des Sozialismus ab. Er entwarf damit eine an der Lebenswirklichkeit ansetzende Alternative zu den sozialistischen Utopien, die bspw. Charles Fourier und Robert Owen der Wirklichkeit entgegensetzten, ohne einen Übergang von der ungeliebten Gegenwart in eine bessere Zukunft angeben zu können. Marx konnte dies. Dank Friedrich Engels und Mary Burns.
Der junge Marx, Anwaltsohn und studierter Philosoph, projizierte seine moralische Empörung über die politischen und sozialen Zustände während der industriellen Revolution auf das Proletariat. Und schrieb diesem die Mission zu, die Menschheit von Ausbeutung, Unterdrückung und Entfremdung zu befreien. Proletariat war ihm aber eher eine philosophische Kategorie als eine Gruppe von Menschen, die sich nach dem Verkauf ihrer Arbeitskraft dem Kommando des Kapitals unterwerfen müssen. Diese Wirklichkeit wurde Marx von seinem Freund Friedrich Engels nähergebracht. Auch er ein studierter Philosoph, aber als Unternehmersohn und später Manager der familieneigenen Firma in Manchester waren ihm ökonomische Fragen näher als Marx.
Engels war es, der Marx zum Studium der politischen Ökonomie anregte und mit seinem 1844 geschriebenen Umriss zu einer Kritik der Nationalökonomie eine Vorgabe machte, ohne die Marx’ Kapital, dessen erster Band 1867 erschien, wahrscheinlich nicht geschrieben worden wäre. Mit seinem 1845 erschienen Buch Die Lage der arbeitenden Klasse in England gab Engels auch den Anstoß, die philosophische Kategorie Proletariat zu einem empirisch gehaltvollen Klassenbegriff weiterzuentwickeln. Dies ermöglichte es Marx im Kapital, die »geräuschvolle Oberfläche« der Zirkulationssphäre zu verlassen und das »Geheimnis der Plusmacherei« im kapitalistischen Produktionsprozess zu lüften.
Das Wissen über die proletarische Lebenswirklichkeit in Betrieb und Wohnviertel verdankt Marx der Textilarbeiterin Mary Burns. Wäre sie nicht die Lebensgefährtin seines Freundes Engels gewesen, hätte er sie wahrscheinlich nie kennengelernt. Burns vermittelte Engels und Marx Innenansichten einer Welt, die sie ansonsten nur von außen hätten betrachten können.
Die Entdeckung der Arbeits- und Lebenswelten des Proletariats führte Marx allerdings nicht dazu, die Zirkulationssphäre aus den Augen zu verlieren. Wie die Untertitel der drei Bände des Kapital andeuten, begann er den »Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion« (Bd.3) als eine Synthese, als widersprüchliche und daher krisenproduzierende Einheit aus »Produktionsprozess« (Bd.1) und »Zirkulationsprozess« (Bd.2) zu verstehen. Damit unterschied er sich radikal von liberalen Ökonomen, die vor und erst recht nach Marx’ Lebzeiten einäugig auf Märkte blicken und dabei unterstellen, dass die für sie unsichtbaren Hände des Proletariats die nachgefragten Waren liefern. Termingerecht und preisgünstig. Marx belegte solche Vorstellungen mit dem Begriff des Warenfetischismus, der dazu führt, dass unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen lebende Menschen ihre eigene Rolle in der Gestaltung ihres Lebens nicht wahrnehmen, sondern sich von anonymen und schwer bis ganz undurchschaubaren Marktkräften beherrscht fühlen.
Der Liberalismus – eine kapitalistische Religion
Marx erweiterte diese Kritik der kapitalistischen Ideologie – ein von Liberalen in Worte gefasster Ausdruck der Alltagserfahrung von Waren tauschenden Menschen nach dem Prinzip der Gleichwertig- und Freiwilligkeit – um den Begriff des Geld- und Kapitalfetischismus: Es sei ein Mythos, Geld und Kapital würden arbeiten, Werte und Reichtum schaffen, Arbeit dagegen nichts als Kosten produzieren. Bei der Kritik dieser »kapitalistischen Religion« konnte Marx an seine philosophische Ausbildung und seine religionskritischen Frühwerke anknüpfen. Für die Rechtfertigung des Kapitalismus spielte diese neue Religion eine ebenso wichtige Rolle wie das Christentum für die Rechtfertigung des Feudalismus.
Damit wurde sie zu einem Problem des Übergangs von der Arbeiterklasse an sich, wie Engels und Marx sie in der Lage der arbeitenden Klasse bzw. im Kapital dargestellt hatten, zur Klasse für sich, zu einer Klassenbewegung. So sehr Arbeiter im Produktionsprozess die direkte, der liberalen Ideologie von Freiheit und Gleichheit widersprechende Herrschaft des Kapitals erleben, sich dabei aber auch als eine gegenüber dem Kapital existierende Gruppe erfahren, so sehr sind sie auch Verkäufer ihrer Arbeitskraft und Käufer von Konsumgütern. Der Abwägung ihrer Käufe und Verkäufe legen sie liberale Gleichheits- und Freiheitsvorstellungen ebenso zugrunde wie die Mitglieder anderer Klassen. Der Glaube an den Liberalismus als spezifisch kapitalistischer Religion lässt sich nicht so leicht abschütteln.
Und das war nicht das einzige Problem bei der Entwicklung der Arbeiterbewegung. Am Vorabend der 1848er Revolution hatten Marx und Engels im Kommunistischen Manifest erklärt, Arbeiter hätten kein Vaterland. Für die kosmopolitischen Arbeiteraktivisten des Bundes der Kommunisten, in dessen Auftrag sie das Manifest geschrieben haben, mag das durchaus gegolten haben. Aber das im Manifest prognostizierte Abschleifen aller nationalen Unterschiede durch »Weltmarkt« und »Gleichförmigkeit der industriellen Produktion« fand nicht statt.
Vielmehr bildeten sich miteinander konkurrierende Kolonialmächte heraus, die im Namen der Überlegenheit der jeweiligen Nation die Welt zwecks Ausbeutung billiger Rohstoffe und Agrarimporte untereinander aufteilten. An den Früchten dieser kolonialen Ausbeutung wollten auch viele Arbeiter teilhaben. Marx hatte dem Kolonialismus in jungen Jahren selbst eine progressive Rolle zugewiesen, mit fortschreitendem Alter aber eine antikolonialistische Haltung eingenommen, diese aber vor allem in Briefen und Exzerptheften festgehalten. Mit dem Imperialismus als theoretischem und noch mehr praktischem Problem haben sich die Schüler von Marx und Engels, vor allem Hilferding, Luxemburg und Lenin, herumgeschlagen.
Ingo Schmidt ist marxistischer Ökonom und lebt in Kanada und Deutschland.
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