Vor 40 Jahren: Der Marsch gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus
von Ayse Tekin
Die erste Generation der Migrantinnen und Migranten bleibt als unpolitische Arbeitnehmer:innen im kollektiven Gedächtnis. Vor 40 Jahren waren allerdings Migrant:innengruppen mit Deutschen zusammen aktiv gegen die Verschärfung der Ausländergesetzgebung.
Dieser Artikel ist den Erfahrungen des »Marsches gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus« gewidmet. Die Schwierigkeiten fangen schon mit dem Sprachgebrauch an: Der »Marsch gegen Ausländerfeindlichkeit«! Damals war das die gängige Bezeichnung, dennoch gab es auch die Diskussion, wer »Ausländer:in« sei. Dann kamen die Begriffe Immigrant:innen, später Migrant:innen, danach Migrant:innen mit internationalem Hintergrund oder migrantisierte Menschen. Manche Begriffe in diesem Artikel entsprechen dem Sprachgebrauch von 1984.
Die vorherrschende Meinung in der BRD verschärfte sich Ende der 70er Jahre mit der Parole »Deutschland ist kein Einwanderungsland«. Schon im Wahlkampfjahr 1979 waren Sozialdemokraten wie Christdemokraten der Meinung, dass der »Migrantenzustrom« abgewehrt und mindestens die türkischen Migrant:innen zur Rückkehr bewegt werden müssten. Die Maßnahmen dafür waren in der Regierung Schmidt diskutiert worden, und die Regierung Kohl ab Oktober 1982 war fest entschlossen, sie umzusetzen.
In der Koalitionsvereinbarung der liberalkonservativen Regierung wurden die Richtlinien der »zukünftigen Ausländerpolitik« mit drei Zielsetzungen beschrieben: Integration, Rückkehrbereitschaft, Verhinderung weiteren Zuzugs. Beim dritten Punkt sollte der Zuzug von Ausländern von außerhalb der EG auf das sechste Lebensjahr begrenzt werden. Das galt besonders für Türkinnen, auch wenn die Maßnahme mit dem im Grundgesetz verankerten »besonderen Schutz der Familie« nicht zu vereinbaren war. Dieser Punkt stieß auf besondere Gegenwehr bei verschiedenen gesellschaftlichen Kräften, und am Ende wurde die FDP dazu bewegt, diese Maßnahme abzulehnen. Eine andere Maßnahme, die Rückkehrbereitschaft mit Geld zu unterstützen, wurde leichter akzeptiert, auch wenn manche Kreise sie ebenfalls falsch und das versprochene Geld zu hoch fanden.
Der Frankfurter Appell
In der heißen Phase der Diskussion rief die Initiative »Frankfurter Appell« zusammen mit verschiedenen Organisationen zu einem Marsch gegen »Ausländerfeindlichkeit und Rassismus« auf, der Aufruf wurde von linken Organisationen, mehreren örtlichen Initiativen, manchen Gewerkschaften (IG Metall und IG Druck + Papier Baden-Württemberg) aber auch örtlichen DGB-Kreisen, Kirchengemeinden, Friedensinitiativen, örtlichen SPD- und Grünenpolitiker:innen bis hin zum Vizepräsidenten des Europaparlaments unterstützt. Der Marsch fand vom 26.September bis 13.Oktober 1984 als Sternmarsch mit einem Nordzug aus Berlin und einem Südzug aus München und einem gemeinsamen Abschluss in Köln statt.
An den Aktionen haben sich 25000 Menschen beteiligt. In 50 Städten wurden die Marschteilnehmer:innen empfangen, in 20 weiteren Städten fanden parallel zum Marsch Aktionen und Aktionswochen statt. Meistens zogen die Teilnehmenden mit einem Autokorso durch die Städte, demonstrierten, hielten eine Kundgebung ab und nutzten eine Abendveranstaltung für die Diskussion. Die Teilnehmenden des Marsches wurden von örtlichen Initiativen in Empfang genommen und betreut. Manchmal schlief man in Sporthallen auf dünnen Matratzen, manchmal in privat organisierten Unterkünften. Schulen, Schauspielhäuser, Kulturzentren und Universitäten waren Diskussionsorte.
Der Marsch besuchte aber auch Orte der Erinnerung, wie Duisburg-Hüttenheim, wo durch einen Brandanschlag in der Nacht vom 26. auf den 27.August 1984 in einem überwiegend von Türk:innen bewohnten Haus sieben Menschen, darunter vier Kinder, starben und weitere 23 verletzt wurden. Der Spiegel berichtete ohne weiteren Kommentar: »In Duisburg kamen bei einem Brandanschlag auf ein von Ausländern bewohntes Gebäude sieben Türken ums Leben. Neben dem Hauseingang waren Hakenkreuze in die Wand geritzt.« Die Täterin wurde 1996 als Pyromanin verurteilt. Die Polizei ging den Hinweisen auf einen rassistischen Anschlag damals auch nicht nach.
Ein anderer besonderer Besuch galt dem Asyllager in Zirndorf, es galt als das schlimmste Lager in der BRD. Die Stadt Zirndorf hatte den Asylbewerber:innen aus »hygienischen Gründen« den Besuch des Hallenbads zuerst verboten, dann wurde die Verordnung »gemildert« und Asylbewerber:innen mit entsprechenden Papieren durften baden, aber »fremd aussehende Menschen« weiterhin nicht! Die Marschgruppe besuchte das Lager und ging gemeinsam mit den Asylbewerber:innen ins Schwimmbad.
Die Gewerkschaften
Ein Fortschritt war, dass die Gewerkschaften Interesse zeigten. Vertreter:innen vom DGB oder von Einzelgewerkschaften sprachen auf zahlreichen Kundgebungen. Mitglieder von Landtagsfraktionen, Gemeinderatsfraktionen und Oberbürgermeister verschiedener Parteien diskutierten mit den Marschteilnehmer:innen. Dennoch klagten diese, die örtlichen Mobilisierungen würden im Rahmen der Kreise bleiben, die eh an der Ausländerpolitik interessiert waren. Ihre Bilanz war, dass die geringe Beteiligung der Deutschen ein ernstzunehmendes Problem und die Ausländerfeindlichkeit in den Strukturen der organisierten Arbeiterbewegung kein Thema war.
Ein gravierendes Problem sei auch, dass die Masse der Immigrant:innen sich nicht beteiligt habe, meinte Frieder Mühleisen damals in Was tun (Nr.392 vom 25.10.1984). Den Grund sah er darin, dass die Betroffenheit von Rassismus in der BRD im Vergleich zu Frankreich noch geringer sei und die Ausländer sich nicht politisch organisierten wegen der Gefahr, »auf Grund politischer Aktivitäten ausgewiesen zu werden«. Seine Schlussfolgerung: »Daher nimmt auch die Forderung nach gleichen Rechten für Deutsche und Ausländer einen so zentralen Stellenwert im Kampf gegen die Diskriminierung von Ausländern ein.«
Am Ende wurde das Gesetz im November in abgespeckter Form verabschiedet. Familiennachzug für Kinder blieb auf das Alter von 16 Jahren beschränkt, für Türken, Jugoslawen, Migranten aus nordafrikanischen Ländern, aber auch aus Spanien und Portugal gab es Rückkehrhilfen. Insgesamt beantragten etwa 140000 Lohnabhängige solche Rückkehrhilfen, darunter etwa 120000 türkische Staatsangehörige.
Die Frauen
Unter den Teilnehmenden des Marsches waren einige Migrant:innen, meist türkischsprachig und aus linken Gruppen. Die Frauen unter ihnen waren frauenpolitisch aktiv. Im März 1984 hatte der erste gemeinsame Frauenkongress von deutschen und ausländischen Frauen in Frankfurt stattgefunden. Dabei wurde eine Forderung erhoben, die insbesondere Migrantinnen betraf: das eigenständige Aufenthaltsrecht für Frauen! In der ersten Migrant:innengeneration kamen zwar auch Frauen als erste aus ihrer Familie nach Deutschland, überwiegend war die Migration aber männlich; Frauen und Kinder wurden nachgeholt. Die Aufenthaltserlaubnis der Nachzüglerinnen war abhängig von der ersten Person der Familie, also waren meistens Migrantinnen von ihren Männern abhängig.
Diese institutionelle Abhängigkeit gibt es leider auch heute noch, die Dauer ist aber auf drei Jahre begrenzt, in besonderen Fällen kann sie verkürzt werden. Damals galt sie unbegrenzt, und das eigenständige Aufenthaltsrecht war eine Hauptforderung der feministischen Migrantinnen. Die Teilnehmerinnen des Marsches haben in den Veranstaltungen immer wieder darauf aufmerksam gemacht.
Ein besonders trauriger Anlass war der Mord an einer türkischen Frau am 25.September in Berlin, also einen Tag vor dem Marschbeginn. Der Ehemann hatte sie während eines Beratungsgesprächs im Frauenladen ermordet. Er trat in den Raum und schoss auf die dort anwesenden türkischen und deutschen Frauen. Die Ehefrau starb zwei Tage später an der Schussverletzung. Der Täter entkam und die Zeitungen titelten: »Verlassener Ehemann erschoß Frau im Frauenladen?«
Dieser Titel wurde von den migrantischen Feministinnen wie eine Rechtfertigung aufgefasst, er empörte sie. Die Frauen der Marschgruppe Nord hatten dazu ein Flugblatt vorbereitet, das sie bei jeder Gelegenheit verteilten. Sie forderten: »Das eigenständige Aufenthaltsrecht für Frauen!«, aber auch: »Mehr Unterstützung aller Frauenprojekte!«, und: »Schluss mit der sexuellen Ausbeutung!«
Auch wenn diese Initiativen weniger wahrgenommen wurden, es gab sie und es gilt, sie bekannter zu machen, um mit dem gängigen Vorurteil von den stillen, nicht an Politik, sondern nur an Geld und Arbeitsplatz interessierten Migrant:innen aufzuräumen. Am Ende hat der Marsch dazu beigetragen, dass in mindestens 25 Städten »Bündnisse gegen Ausländerfeindlichkeit« gegründet bzw. die vorhandenen gestärkt wurden. Aus diesen Initiativen gibt es immer noch aktive Gruppen, die sich aber nach langen Diskussionen als inklusiv bezeichnen und intersektional arbeiten.
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