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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2024

System-Change-Camp in Erfurt
von Michael Schwarz

Um die lokale linke Bewegung im Angesicht eines drohenden Wahlsieges der AfD zu unterstützen, luden linke Klima-Aktivist:innen vom 5. bis 11.August zum System-Change-Camp in die thüringische Hauptstadt Erfurt ein. Im ganzen Bundesgebiet war in der Klimabewegung dazu aufgerufen worden, den Genoss:innen im Osten solidarisch zur Seite zu stehen.

Das Camp ist gut gelegen, befindet sich im Erfurter Nordpark, zwischen dem öffentlichen Basketball-Court und dem Freibad. Die Innenstadt ist nur wenige Minuten entfernt. Bei einem Gang über das Camp fällt auch die besondere Atmosphäre auf: Die »Küche für alle« gibt Abendessen direkt neben dem großen Weg aus, auf dem die Erfurter:innen zum Nordbad schlendern. Und die großen, weißen Zelte, in denen die Veranstaltungen stattfinden, verteilen sich locker im ganzen Park.
Wer durch die Menge läuft, merkt schnell: Hier ist die ganze deutschsprachige Klimagerechtigkeitsbewegung zusammengekommen, Aktivist:innen aus vielen Städten und unterschiedlichsten Spektren. Das System-Change-Camp, das erst im zweiten Jahr stattfindet, hat die Nachfolge der Klimacamps als wichtigste Plattform der Bewegung angetreten. Und die Teilnahme von über 1500 Menschen zeigt auch, dass diese noch immer im großen Stil mobilisieren kann.
Das Camp setzt einen Schwerpunkt auf Bildung und politische Debatte. In drei Zeitslots am Tag finden oft über 15 Workshops gleichzeitig statt. Den Teilnehmer:innen bleibt aber trotzdem genügend Zeit für Protest. Die AfD tourt mit mobilen Sommerfesten durch ganz Thüringen, unter dem Motto: »Der Osten machts!« Spitzenkandidat Björn Höcke tritt jeden Tag in einer anderen Kleinstadt auf. Als Antwort finden vom Camp aus jeden Tag gemeinsame Anreisen zu Gegenaktionen statt. Auch kleine, proaktive Demonstrationen im ländlichen Thüringen werden unterstützt, zum Beispiel die Nachttanzdemo gegen die AfD in Eisenberg.

Umgang mit Differenzen
Die Spaltungslinien auf der Linken sind auf dem Camp allerdings auch deutlich zu sehen. Die Veranstalter:innen haben sich im Vorfeld nicht zum Israel-Palästina-Konflikt positioniert. Stattdessen wurde beiden Fraktionen der Bewegung Raum für Workshops gegeben, um eine politische Debatte zu ermöglichen. Im BPOC-Space (Black, Indigenous, People of Color – einem Raum auf dem Camp, der Betroffenen von Rassismus zur alleinigen Nutzung zur Verfügung steht) wird in Eigeninitiative ein Free-Palestine-Zelt eingerichtet, und es findet eine campinterne Demo vor der Küche für Alle statt.
Der Konflikt entgleitet aber im Laufe der Woche zusehends: In einem palästinasolidarischen Workshop wird ein Teilnehmer nach einem kritischen Redebeitrag bedroht und das Zeichen der Hamas gezeigt. Die proisraelische Gegenseite wiederum nimmt die Präsenz der Palästina-Bewegung zum Anlass, das Camp als Ganzes zu torpedieren, u.a. wird eine Anwältin dazu gebracht, die Teilnehmer:innen nicht mehr rechtlich zu unterstützen. Vor dem Hintergrund der drohenden Machtübernahme einer faschistischen Partei wie der AfD wirken diese innerlinken Streitereien besonders desaströs.
Und trotzdem kommen am Samstag nochmal alle zusammen: Über 1000 Menschen beteiligen sich an der großen antirassistischen Demonstration in der Erfurter Innenstadt, darunter hunderte aus dem System-Change-Camp. Sie beschließt eine Woche voller politischen Debatten und Proteste, die in vielen Punkten auch von Einigkeit und solidarischem Miteinander geprägt war.
Trotz aller Schwierigkeiten hat die deutsche Bewegung für Klimagerechtigkeit gezeigt, dass sie auch ohne Baggerblockaden groß mobilisiert, und dies auch für einen anderen Kampf nutzen kann. Eine wichtige Errungenschaft, die für die Zukunft hoffen lässt, denn angesichts drohender Wahlerfolge der AfD wird eine starke, linke Klimabewegung noch dringend gebraucht.

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