Arbeiterinnen und Arbeiter erobern ihre Betriebe zurück und öffnen Wege zu einer nichtkapitalistischen Produktion
von Ayse Tekin
Laut Insolvenzstatistik des Statistischen Bundesamts wurden im vergangenen Jahr 2023 in Deutschland rund 176000 Unternehmen geschlossen. Davon haben 11 Prozent Insolvenz angemeldet. Immer wieder wird berichtet, dass Firmen trotz voller Auftragsbücher Insolvenz anmelden. Entweder stimmt die Gewinnmarge nicht, oder das Geld soll woanders lukrativer angelegt werden. Die Beschäftigten müssen schauen, wo sie bleiben. Manchmal bleiben sie dort, wo sie waren: In ihren Betrieben, die sie weiterführen wollen. Dario Azzellini nennt diesen Prozess, in Anlehnung an den berühmten Marxschen Begriff »Wiederaneignung«, Rückeroberung der Betriebe unter Arbeiter:innenkontrolle. Auf einer Veranstaltung in Köln im Mai dieses Jahres stellte er dies an Beispielen von Betrieben in Europa und Lateinamerika dar.
Die historische Rückblick reicht bis zu einem Zitat von Friedrich Engels: »In einem mir bekannten Fall wurde nach der Krisis von 1868 ein fallierter Fabrikant bezahlter Lohnarbeiter seiner eignen frühern Arbeiter. Die Fabrik wurde nämlich nach dem Bankrott von einer Arbeitergenossenschaft weitergeführt und der ehemalige Besitzer als Dirigent angestellt.« (MEW 25:401.)
Es folgten weitere Krisen und Umwälzungen, allen voran die Pariser Kommune, wo Arbeiterräte 72 Tage lang das Leben von Paris – von Produktion und Verteilung bis zu Bildung und Kultur – organisierten. Karl Marx stellte damals fest, das kapitalistische System lasse sich verdrängen, »wenn die Gesamtheit der Genossenschaften die nationale Produktion nach einem gemeinsamen Plan regeln, sie damit unter ihre eigne Leitung nehmen…« (MEW 17:343).
Die nächsten Beispiele waren die Arbeiterräte nach der Revolution 1905 in Russland. 1915 kam es auch in England, 1918/1919 in Berlin und mehreren Teilen Deutschlands, sowie in Österreich und Ungarn zur Arbeiterräten. In Italien folgten auf den Weltkrieg »zwei rote Jahre«. Ende 1919 waren in Turin nahezu alle Fabriken von Arbeiter:innen besetzt, rund 120000 Arbeiter:innen organisierten die Fortführung der Produktion.
Betriebsbesetzungen und Arbeiterkontrolle waren immer wieder Modelle. Azzellini listet folgende Kontexte auf, in denen sie auftraten:
– in zusammengebrochenen Ökonomien Ende des Zweiten Weltkriegs (Frankreich, Japan),
– in antikolonialen Befreiungskämpfen (Algerien, Indonesien),
– im afrikanischen Sozialismus (Tansania, Burkina Faso, Mosambik),
– in politischen Aufbruchsphasen (Indien, Ägypten, Peru, Sri Lanka, Iran, Nicaragua, Jamaika),
– in demokratischen Revolutionen und Transformationen der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts (Portugal, Argentinien, Brasilien, Bolivien, Chile),
– in nominalsozialistischen Staaten meist gegen den Staat (Ungarn, Tschechoslowakei, Polen),
– in Aufständen und Arbeitskämpfen gegen die kapitalistische Umstrukturierung Anfang der 1980er Jahre bis 2000 (Italien, Frankreich, Deutschland, Schweiz, England, USA, Kanada, Australien, Schweden, Malta, Südkorea, China),
– in lateinamerikanischen Ländern seit Anfang 2000 in der Metallindustrie, in der Schuh- und Textilproduktion, in Druckereien, Medien und Schulen, Krankenhäusern, Medizinlaboren, Restaurants, um nur einige Beispiele zu nennen,
– aktuell (Mai 2024) wurden in Argentinien 430 selbstverwaltete Betriebe mit mehr als 15000 Arbeiter:innen zurückerobert, in Brasilien mindestens 40 mit mehr als 3000 Beschäftigten, in Uruguay 22 und in Venezuela bis zu 100 Betrieben.
Am Anfang: ein Hürdenlauf
Früher fanden die meisten Besetzungen, Übernahmen von Betrieben und Selbstverwaltung der Produktion im Rahmen von Offensiven der Arbeiter:innenklasse und der revolutionärer Kräfte statt. In den letzten 24 Jahren, so Dario Azzelini, findet die Rückeroberung der Betriebe dagegen aus einer defensiven Situation heraus statt.
Die Rückeroberung fängt in der Regel mit einem Kampf gegen die Betriebsschließung an, die Produktion wird unter kollektiver und demokratischer Selbstverwaltung weitergeführt, machmal auch umgestellt. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln wird in einem sozialen und ökonomischen Prozess in kollektives Eigentum verwandelt. Der Fortbestand der Produktion und das Wohlergehen der Arbeiter:innen stehen im Mittelpunkt anstatt, wie früher, die Mehrwertsteigerung. Die Organisation der Arbeits- und Produktionsprozesse, die Beziehungen zu den Zulieferer:innen und Abnehmer:innen und die sozialen Beziehungen am Ort und in den Gemeinschaften ändern sich.
Die Arbeiter:innen betreten Neuland. Sie verfügen persönlich nicht über frühere Erfahrungen im Kampf um die Übernahme der Produktionsstätte und in der Unternehmensorganisation, auf die sie sich stützen könnten. Sie haben nie zuvor daran gedacht, ihren Betrieb zu besetzen, um unter Arbeiterkontrolle zu produzieren.
Die Ausgangsbedingungen sind meist schlecht: Oft ist nur ein überalterter und schadensanfälliger Maschinenpark vorhanden, oder die Maschinen wurden vor der Schließung vom Eigentümer verkauft oder an einen anderen Ort gebracht. Die alte Produktion kann aus unterschiedlichen Gründen nicht wieder aufgenommen werden.
Die Arbeiter:innen verfügen nicht über Kapital. Es ist auch nicht ihr Ziel zu investieren. Zulieferer und Vertriebsnetze sind weggebrochen bzw. wollen nur liefern, wenn die Schulden vom Alteigentümer beglichen worden sind. Häufig beteiligen sich mehrheitlich ältere Arbeiter:innen, jüngere und besser qualifizierte verlassen öfters den Kampf, weil sie anderswo leichter unterkommen.
Wenn all das überwunden ist, müssen die Arbeiter:innen den Konkurrenzkampf auf dem kapitalistischen Markt überleben. Meistens müssen sie sich neu erfinden, Solidarität und Vernetzung organisieren, mehr als nur Produkte anbieten. Arbeiter:innen werden zu Akteur:innen und zeigen eine Lösung auf. Arbeitshierarchien werden im Kampf aufgelöst. Nach dieser Erfahrung ist eine Wiedereinführung eher unwahrscheinlich.
Überleben auf dem kapitalistischen Markt
Es gelingt, in einem feindlichen Umfeld zu überleben. Es gelingt, Jobs zu erhalten, sei es durch Fortsetzen der Produktion oder Konversion. Die Kämpfe sind offensiv, nicht wie gewerkschaftliche Arbeitskämpfe, die fast immer defensiv sind. Gewerkschaften initiieren die Besetzungen nicht, können aber dazu gebracht werden, sie zu unterstützen. Die Produktion wird häufig ökologischer, die Zulieferer sind häufig lokal und regional, bevorzugt andere Kooperativen; Recycling wird wichtiger, die Endpreise werden niedriger gehalten.
Die Betriebe sind aber auch auf Interaktion mit dem Staat, mit Politik und Institutionen angewiesen. Meist ist irgendwann eine institutionelle Aktion notwendig und sie werden juristisch zu irgendwie eingetragenen Kollektiven. Bis dahin gilt es, den illegalen Status zu ignorieren, eine drohende Räumung zu verhindern, politischen Druck auf die Eigentümer zu organisieren, Bürgschaften zur Finanzierung der Produktion zu vermitteln – das ist das tägliche Brot unter kapitalistischen Bedingungen.
Die Auseinandersetzung fußt auf drei Säulen: Produktion, Mobilisierung von Unterstützung und juristischer Kampf. Im Kapitalismus einen Betrieb aufzubauen, der nicht streikt, der der Kapitallogik folgt, trotzdem demokratische Strukturen und angemessene Arbeitsbedingungen hat, Löhne und Sozialleistungen bietet, ist schwer. Ob das Ziel der Übernahme in Selbstverwaltung zu erreichen ist, ist davon abhängig, ob das juristische Problem (Änderung der Eigentumsform) in ein politisches Problem verwandelt werden kann.
Die Interaktion mit der Nachbarschaft, kulturelle Aktivitäten bis hin zur Öffnung der betrieblichen Räume für verschiedene gesellschaftliche Zwecke ist überall Praxis. Es entstehen neuartige soziale Beziehungen, die Arbeitsweise verändert sich. Vertrauen und Solidarität aus dem Kampf reduzieren spätere Konflikte um Arbeitszeit und Bezahlung.
Selbstverwaltung beruht auf den Grundsätzen Solidarität, Gleichheit und Selbstorganisierung unter allen Beteiligten. Sozialprogramme werden eingeführt. Andere Arbeitskämpfe werden solidarisch unterstützt.
Die Kampfform der Wiederaneignung privater Betriebe ist kein vorübergehendes Phänomen. Sie ist in das Repertoire der Arbeitskämpfe eingegangen und breitet sich aus.
Mehr Informationen:
www.workerscontrol.net;
www.azzellini.net.
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