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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2024

Die Kampagne Debt for Climate fordert einen vollständigen ­Schuldenerlass für den globalen Süden
von Eva Hengstermann

Die Anpassung an eine Welt, die immer mehr von den Folgen des Klimawandels beeinflusst wird, ist nicht einfach. Vor allem aber ist sie teuer. Länder im globalen Süden bekommen die Auswirkungen der Erderwärmung in Form von Dürren, Fluten und anderen Umweltkatastrophen als erstes und am stärksten zu spüren – obwohl sie am wenigstens dafür verantwortlich sind.

Nach der Covid-19-Pandemie, durch sich verstärkende Dürreperioden, Fluten, Unwetter und weitere Auswirkungen des Klimawandels geraten immer mehr Länder im globalen Süden in eine Schuldenkrise. Weltweit befinden sich momentan mindestens 59 Länder in einer Verschuldungskrise, der Großteil davon im globalen Süden.
Akut von einer Verschuldung bedroht sind laut dem Internationalen Währungsfonds (IWF) allerdings 70 Länder weltweit. Um sich buchstäblich über Wasser zu halten, sind viele Staaten dazu gezwungen, Kredite bei der Weltbank oder dem IWF aufzunehmen – und tappen dabei mit offenen Augen in eine Schuldenfalle.
Denn die meisten Kredite des IWF sind nicht nur mit hohen Zinssätzen und kurzen Rückzahlungsfristen verbunden, sie zwingen die Schuldner zusätzlich noch zu umfangreichen Einsparungsmaßnahmen auf Kosten der Bevölkerung. So müssen bereits verschuldete Staaten oft weitere Kredite aufnehmen, um die Schulden für den ersten zurückzahlen zu können; wirtschaftlich schwächere Länder stürzen damit abwärts in eine Schuldenspirale.
Ein Beispiel dafür ist Argentinien: Erst 2022 nahm das Land beim IWF einen Kredit über die schwindelerregende Summe von 44 Milliarden US-Dollar auf – eine Vereinbarung, die, wie selbst der IWF einräumt, mit »außergewöhnlich hohen« Risiken verbunden ist. Dies ist das 22.Kreditprogramm, das zwischen Argentinien und dem IWF unterzeichnet wurde.
Die Vereinbarung soll ein gescheitertes 57-Milliarden-Dollar-Programm aus dem Jahr 2018 ersetzen, aus dem jedoch mehr als 40 Milliarden Dollar ausstehender Zahlungen offengeblieben sind. Der vom IWF geliehene Betrag ist also nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Die Weltbank und der IWF, die beide nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen des Bretton-Woods-Systems eingerichtet wurden, werden von den wirtschaftlich starken Ländern kontrolliert, da das Stimmrecht nach deren jeweiligen Einzahlungen gewichtet wird – die meisten dieser Länder liegen im globalen Norden.
Allein hierdurch wird die kolonialistische Dynamik deutlich, die diesen Schuldenfallen zugrunde liegt und auch noch im 21.Jahrhundert transnationale Beziehungen prägt. Kredite und Schulden dienen als Werkzeuge zur Kontrolle von wirtschaftlich schwächeren Ländern – und ermöglichen dem globalen Norden eine Ausbeutung dieser Staaten unter einem finanziellen Vorwand.

Brennstoffe gegen Dollar
Die internationale Graswurzelbewegung Debt for Climate will dem ein Ende setzen. In Anerkennung der kolonialen Wurzeln des Verschuldungssystems fordert sie die vollständige Streichung der Schulden des globalen Südens. »Finanzkolonialismus ist die Grundlage des Kapitalismus. Der Finanzkolonialismus ist der Kolonialismus von heute«, erklärt Esteban Servat, einer der Gründer:innen von Debt for Climate, in einem Vortrag, den er 2022 am Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit in Potsdam hielt.
Laut Servat, der in Argentinien geboren wurde und heute in Berlin lebt, behindern die kolonialen Schuldenfallen nicht nur den Klimaschutz, indem sie die Länder des globalen Südens finanziell ausbluten – sie verschärfen auch aktiv die Erderwärmung, indem sie diese Länder praktisch dazu zwingen, klimaschädliche Industrien wie etwa den Abbau von fossilen Brennstoffen weiter voranzutreiben. Vor allem diese bringen nämlich die für den Schuldendienst oft erforderliche Fremdwährung, den US-Dollar, ein.
Von dem Abbau fossiler Brennstoffe profitieren nicht nur Konzerne in den betroffenen Staaten. So betreibt der größte deutsche Gas- und Ölproduzent, Wintershall Dea, seit 45 Jahren Fracking und andere Methoden zur Brennstoffgewinnung in Argentinien. In Deutschland ist Fracking aufgrund seiner umweltschädlichen Auswirkungen streng verboten – im Ausland nimmt der deutsche Energiekonzern Risiken wie Grundwasserverschmutzung und verseuchte Böden gerne in Kauf.
Kann aber die Streichung der Schulden dieser Ausbeutung wirklich ein Ende bereiten? Ja. Denn die Annullierung von Schulden kann Ländern im globalen Süden die finanzielle Erleichterung schaffen, die notwendig ist, um sich von klimaschädlichen Industrien abwenden zu können.
Dass Schuldenstreichungen tatsächlich funktionieren, zeigt dabei ein Blick in die deutsche Geschichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Deutschland im Rahmen des Londoner Schuldenabkommens von 1953 von der Hälfte seiner Schulden befreit. Warum? Ein wirtschaftlich starkes Westdeutschland wurde als »Bollwerk gegen den Kommunismus« benötigt.
Die Streichung von Schulden ist also nichts Neues. Sie hat in der Vergangenheit funktioniert und kann wieder funktionieren, um auch Ländern im Globalen Süden eine Chance zu geben, aktiv Klimaschutz zu betreiben.

Swaps sind keine Alternative
Eine Schuldenstreichung würde in erster Linie die Banken und andere Investor:innen treffen – diejenigen, die die Schulden halten. Diese müssten selbstverständlich auf weitere Rückzahlungen verzichten – doch angesichts der Tatsache, dass in vielen Fällen der ursprünglich geliehene Betrag in Form von Zinsen bereits mehrmals zurückgezahlt wurde, wäre ihr finanzieller Verlust vermutlich überschaubar. Die Arbeiterklasse des globalen Nordens, deren Lebensunterhalt nicht von der Rückzahlung der Schulden abhängt, würde nicht einmal etwas von diesem globalen Unterfangen spüren.
Tatsächlich ist die Annullierung von Schulden eine der wenigen greifbaren Optionen, um den Systemwechsel einzuleiten, der notwendig ist, um die Geschwindigkeit der Erderwärmung ernsthaft zu bremsen. Finanzielle Gerechtigkeit ist dabei nur der Anfang: Denkt man die Idee der Schuldenstreichung weiter, legt sie einen Grundstein für soziale Gerechtigkeit und globale Klimaschutzmaßnahmen. Die ökologische Ausbeutung der Länder im globalen Süden würde gestoppt, Milliarden Tonnen fossiler Brennstoffe würden im Boden bleiben.
Schuldenstreichung könnte der erste Schritt einer wirklich globalen Bewegung sein, die entschlossen und fähig ist, die Erderwärmung zu stoppen – ohne dass jemand geschädigt, ausgebeutet oder zurückgelassen wird.
Doch sich in der Politik dafür einzusetzen, ist lebensgefährlich. Der ehemalige Präsident Burkina Fasos, Thomas Sankara, rief 1987 zu einer vereinigten Front gegen staatliche Verschuldungen auf. Wenig später wurde er in einem von Frankreich unterstützten Putsch ermordet.
Statt einer Schuldenstreichung bieten der IWF und die Weltbank seit einigen Jahren sog. Debt-for-Nature- oder Debt-for-Climate-Swaps an. Diese sind jedoch meist mit weiteren Krediten verbunden und bieten zu wenig finanziellen Spielraum, um gegen den Klimawandel tatsächlich anzugehen.
Ebensowenig ändern diese Vereinbarungen etwas an dem kolonialistischen Machtverhältnis zwischen Nord und Süd. Um tatsächlich gegen den Klimawandel und soziale Ungleichheiten vorzugehen und kolonialistische Muster aufzubrechen, muss eine bedingungslose, vollständige Annullierung von Staatsschulden vorgenommen werden.
Angesichts der Tatsache, dass Europas Wirtschaftserfolg und Wohlstand auf der jahrhundertelangen Ausbeutung von Ländern des globalen Südens fußt, geht es bei der Annullierung nicht nur um Klimaschutz, sondern auch um die Herstellung globaler Gerechtigkeit. Wer schuldet also wem?

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