Die politischen Winkelzüge des französischen Präsidenten und die Lage der Linken
von Léon Crémieux
»Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?«
Bertolt Brecht, Die Lösung, 1953
Brechts ironische Verse wurden von Macron in die Tat umgesetzt. Seine Partei ist bei den Wahlen zur Nationalversammlung 2024 von 314 Abgeordnete auf 99 geschrumpft. Bei den Europawahlen wurde sie erneut geschlagen. Im zweiten Wahlgang der Parlamentswahlen bildeten alle Parteien außer der kleinen rechten Partei Les Républicains (LR) eine Wahlfront gegen den Rassemblement National (RN). Das Sperrfeuer funktionierte entgegen allen Prognosen, dem RN gelang es nicht einmal, eine relative Mehrheit zu erreichen. Aus diesem zweiten Wahlgang ging die Neue Volksfront klar als stärkste Kraft hervor, gefolgt vom »Block des Zentrums« und dem RN.
Trotzdem wurde Anfang September eine Regierung unter der Leitung eines alten Politikers der Republikaner, Michel Barnier, gebildet, der nun viel Personalgeschacher veranstalten wird, um die gleiche Politik fortzusetzen. Sein politisches Überleben hängt von der Zusage des RN ab, ihn nicht durch einen Misstrauensantrag zu Fall zu bringen.
Wie kommt es zu einem solchen Ergebnis?
Nach den Parlamentswahlen gibt es in der Versammlung drei Blöcke: die Neue Volksfront (NFP) mit 193 Sitzen, die Macronisten mit 166 Sitzen und der RN und seine Verbündeten mit 142 Sitzen. Danach folgt das kleine Bündnis um die historische Rechtspartei Les Républicains mit 47 Sitzen. Nach den Europawahlen im Juni 2024, bei denen das um ihn gebildete Parteienbündnis mit 14,6 Prozent der Stimmen gegenüber dem RN (31,4 Prozent) und der in vier Listen zersplitterten Linken (31,6 Prozent) erneut grandios versagte, nutzte Macron sein Vorrecht als Staatspräsident, um die Nationalversammlung aufzulösen. Da er nun sah, dass er mit all seinen Verbündeten nur über 251 von 577 Sitzen verfügte, und wusste, dass er einem Misstrauensantrag ausgeliefert war, der seine Regierung zum Rücktritt zwingen würde, versuchte er, die Karten neu zu mischen.
Am Abend der Europawahlen sah die extreme Rechte wie der große Sieger aus; die Linke war gespalten (zwischen den Grünen, der PCF, der PS und der LFI) und seit dem Zerfall der NUPES ein Jahr zuvor ohne Zusammenhalt. Das sah nun aus wie ein Trümmerfeld und Macron dachte sich, er sei Herr des Spiels und könne mit einem Teil der Sozialdemokraten, der Umweltschützer und der Gaullisten unter den Republikanern eine neue Regierung ohne den RN bilden.
Nach dem ersten Wahlgang der Parlamentswahlen lösten sich diese Pläne innerhalb von 48 Stunden in Wohlgefallen auf: Die Gewerkschaften und die sozialen Bewegungen waren willens, auf der Linken eine neue Volksfront durchzusetzen, um die neofaschistische Bedrohung abzuwehren, und für den zweiten Wahlgang in jedem Wahlkreis einen einzigen Kandidaten und ein gemeinsames Programm »des sozialen und ökologischen Bruchs« aufzustellen.
Jetzt ging es für Macron darum, sich als Chef der Exekutive mit einer folgsamen Regierung im Sattel zu halten. Er blockierte also die Wahl eines neuen Premierministers und hielt über zwei Monate lang, sich hinter dem »Olympischen Frieden« verschanzend, an seinem bisherigen Premierminister Gabriel Attal und seiner »zurückgetretenen« Regierung fest. Dann schloss er die Ernennung der von der Neuen Volksfront vorgeschlagenen Kandidatin rundheraus aus – und ernannte Michel Barnier, einen alten Politiker aus den Reihen der Republikanern, zum Premier.
Die Bildung einer linken Regierung kommt für Macron nicht in Frage. Zunächst argumentierte er, »die Anwesenheit von LFI-Ministern«, die seit Monaten als »Komplizen der Hamas« und »Antisemiten« verleumdet und stigmatisiert werden, sei nicht tolerierbar und würde automatisch einen mehrheitlichen Misstrauensantrag auslösen.
Daraufhin befragte die LFI Ende August die Macronisten zu ihrer Haltung gegenüber einer Regierung, in der keine LFI-Minister vertreten wären. Die Antwort: Auch eine Regierung ohne LFI, die die Rentenreform zurücknehmen und mit dem Liberalismus brechen würde, komme nicht in Frage… Der Präsident des MEDEF, Patrick Martin, wie auch der RN sekundierten. Es wurde eine große Klasseneinigkeit gegen jede Regierung hergestellt, die sich für einen Bruch mit der neoliberalen Politik einsetzen würde!
Durch diese energische Kampagne gegen die Neue Volksfront wurde innerhalb weniger Wochen aus einer tiefen gesellschaftlichen Bewegung gegen Le Pen eine gemeinsame Front von Macron bis Le Pen, um eine linke Regierung aus dem Weg zu räumen.
Eine mit dem RN kompatible Regierung
Nun ist eine neue Situation entstanden: Das Präsidentenlager geht de facto ein Bündnis mit den Republikanern ein und lässt sich von außen vom Rassemblement National unterstützen, der erklärt hat, er werde »die Regierung beobachten«. Das ist eine weitere Schwächung Macrons und eine weitere Verschiebung nach rechts unter dem Druck des RN, der diese Regierung unterstützen wird, wie der Strick den Gehängten.
Zu befürchten ist die Umsetzung dessen, was Barnier bei seinem Amtsantritt angekündigt hat: eine noch stärkere Priorität auf Sicherheitsfragen, auf der Diskriminierung von Ausländern und eine noch schärferen Politik gegen Migrant:innen. Eine RN-kompatible Politik also, die im übrigen weitgehend dem politischen Profil des neuen Premierministers entspricht.
Barnier ist bekannt dafür, dass er im Europaparlament sehr rechten Vorlagen zugestimmt hat, u.a. gegen LGBT und für die »Wiedererlangung der rechtlichen Souveränität Frankreichs über die Migrationspolitik«. Schon bei den Vorwahlen zur Nominierung des Kandidaten der Republikaner im Jahr 2021 hatte er systematisch versucht, mit betont rechten Positionen aufzutreten: für das Kopftuchverbot im öffentlichen Raum, für die Rente mit 65, für eine Volksabstimmung über den Vorschlag, die staatliche medizinische Versorgung von Ausländern ohne Papiere abzuschaffen…
Diese Volte des Präsidenten hat der extremen Rechten erneut einen respektablen Anstrich verpasst. Die 10,6 Millionen Stimmen für den RN und seinen Verbündeten, Eric Ciotti, seien »zu respektieren«, betont er. Es geht um nichts weniger als darum, die unerwartete Einheit auf der Linken wieder zu zersetzen und diejenigen zu demoralisieren, die wochenlang am Aufbau der gemeinsamen Kampagne der Linken gearbeitet haben.
Perspektiven für die Linke
Hierin liegt die Herausforderung der nächsten Monate. Es besteht die Gefahr, dass die zentrifugale Dynamik, die die NUPES in die Luft gejagt hat, erneut auftritt. In den letzten Wochen kam es bereits zu einer Zersplitterung der Initiativen an der Basis, obwohl sie ein gemeinsames Ziel verfolgen.
Die erste Demonstration am 7.September gegen den »Putsch« von Macron (die Ernennung Barniers) und für die Einsetzung einer NFP-Regierung und die Umsetzung ihres Programms wurde vor allem von linken Organisationen wie PCF, Les Écologistes, LFI, NPA-L’Anticapitaliste (aber auch von ATTAC, Planning familial, #NousToutes, der Jeune Garde und oft von Ortsgruppen der Liga für Menschenrechte) angeregt. Auf Gewerkschaftsseite wurde die Initiative zwar als nützlich begrüßt, aber als Sache der politischen Organisationen angesehen, auch wenn vor Ort CGT, Solidaires oder FSU daran beteiligt waren.
Das Ergebnis war trotzdem beachtlich: 150 Demonstrationen mit über 100000 Demonstrierenden laut Polizei (300000 nach Angaben der Organisatoren) – aber natürlich wäre eine gemeinsame Initiative möglich gewesen.
Zum 1.Oktober bereiten die Gewerkschaften CGT, Solidaires, FSU und die Jugendorganisationen einen großen Streik- und Mobilisierungstag zu den dringenden sozialen Problemen vor.
Auf der rechten Flanke der PS gibt es Stellungnahmen, die nach rechts orientieren und somit auf eine Zersplitterung der Einheitsfront abzielen – wie die von François Hollande, obwohl er auf der Liste der NFP gewählt wurde.
Die NFP stellt eine Besonderheit im europäischen politischen Feld dar. Das Bündnis baut auf einem Programm auf, das ausdrücklich auf einen antiliberalen Bruch abzielt. Damit war es in der Lage, politische, gewerkschaftliche und soziale Kräfte weitgehend zusammenzuführen und sozialliberale Strömungen an den Rand zu drängen.
Wenn es der Neuen Volksfront gelingt, sich zu behaupten und sich im ganzen Land zu verankern, indem es für Zehntausende von Aktivistinnen und Aktivisten zu einem täglichen Werkzeug wird – in Stadtteilen, städtischen und ländlichen Gebieten –, kann sie das politische Gewicht in Frage stellen, das der RN gewonnen hat, und dem Rassismus, der Islamophobie, dem Gefühl der Deklassierung, der Vernachlässigung und der sozialen Ungerechtigkeit etwas entgegensetzen.
Die gegenwärtige Nationalversammlung und ihre Regierung sind natürlich instabil, und ab Juni 2025 können entweder der RN durch einen Misstrauensantrag oder Macron eine Regierungskrise und eine erneute Auflösung der Nationalversammlung herbeiführen.
Es gilt daher, die Streiks und Demonstrationen am 1.Oktober als Sprungbrett zu nutzen, um der Linken eine neue Dynamik zu verleihen. Die zu Beginn des Sommers erreichte Konvergenz muss aufrechterhalten werden. Das kollektive Handeln muss befördert und Einheitsstrukturen geschaffen werden, die es den militanten Kräften ermöglichen, sich zu koordinieren. Nur so können zentrifugale Dynamiken, woher auch immer sie kommen mögen, verhindert werden.
Der Autor ist Aktivist von Solidaires und führendes Mitglied der NPA-L’Anticapitaliste.
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