Der Wahlsieg der FPÖ und das strategische Dilemma der Sozialdemokratie
von Wilfried Hanser
Bei den Nationalratswahlen (Parlament) in Österreich am 29.September hat die konservative Volkspartei (ÖVP) etwa 30 Prozent ihrer Wähler:innen verloren, sie wurde von der rechtsextremen FPÖ überholt und findet sich auf dem zweiten Platz wieder. Dennoch befindet sie sich in einer komfortablen Situation: Sie kann mit ihren nur noch 26,3 Prozent weiterhin den Kanzler stellen und sich die Koalitionspartnerinnen aussuchen. Rechnerisch kann sie wahlweise entweder mit der rechtsextremen FPÖ, mit der Sozialdemokratie (mit knapper Mehrheit) oder mit zwei unterschiedlichen Varianten einer Dreierkoalition (mit SPÖ + Neos oder mit SPÖ + Grüne) weiterregieren.
Die FPÖ
Die Wahlsiegerin FPÖ hingegen sitzt im Moment allein im Wartezimmer: Niemand von den anderen Parlamentsparteien will derzeit mit ihr eine Regierung bilden, niemand von den Chefs der anderen Parteien will sich an einer Koalition mit der FPÖ beteiligen. Kanzler Nehammer hat sich bisher darauf festgelegt, keinesfalls mit Kickl, dem Chef der FPÖ, regieren zu wollen, sehr wohl aber mit der FPÖ – ohne Kickl.
Bekanntlich konnte die FPÖ unter Kickl ihr Wahlergebnis auf 28,8 Prozent beinahe verdoppeln. Vor fünf Jahren war sie noch wegen der Ibiza-Korruptionsaffäre massiv abgestürzt und flog aus der Regierung. Sie musste auch ihren damaligen Parteiobmann Strache in die Wüste schicken. Diese Auferstehung der FPÖ wie Phönix aus der Asche wird parteiintern Kickl und seiner provokanten Konfrontationsstrategie zugeschrieben, weshalb dieser fester denn je im Sattel sitzt.
Kickl hetzt in nie dagewesener Weise gegen Flüchtlinge, Klimaaktivist:innen, das Gendern, die Grünen, den neuen sozialdemokratischen Parteichef Babler und gegen »das System« und die »Systemparteien«, also pauschal gegen alle politischen Gegner. Er spielt bewusst mit Nazisprech wie »Volkskanzler« oder will »Flüchtlinge konzentriert in Lagern halten«. Er surft auf der Welle der Corona- und Klimawandelleugner, heizt sie weiter an und schreckt vor keinem bisherigen Tabu zurück. Diese Strategie ging auf Wahlebene offenbar auf. Kickl konnte das beste Ergebnis seit Gründung der FPÖ einfahren.
Trotzdem sitzt er jetzt auf der Wartebank, weil er bis dato gerade wegen dieser Konfrontationsstrategie keinen Koalitionspartner findet. Er gilt als unberechenbar und rücksichtslos rabiat im Parteiinteresse. Mit seinem Erfolg konnte er allerdings auch alle potenziellen Kritiker oder Konkurrenten innerhalb seiner Partei kaltstellen. Da ist keine Stimme zu vernehmen.
Die SPÖ
Die Sozialdemokratie unter ihrem neuen, moderat reformistisch und kämpferisch auftretenden Parteiobmann Andreas Babler steht als Nummer 3 (21,2 Prozent) vor einem heiklen strategischen Dilemma und hat gleichzeitig mit massiven internen Querschüssen von mindestens zwei unterschiedlichen Fraktionen zu kämpfen. Diese haben in Kombination mit dem medialen Boykott gegen Babler dem Wahlkampf jeden Schwung genommen.
Das Dilemma: Einerseits gilt es zu verhindern, dass die rechtsextreme FPÖ auf nationaler Ebene an Regierungsmacht und an entsprechende zusätzliche Finanzquellen kommt. Andererseits läuft die Sozialdemokratie Gefahr, aus einer strategisch sehr ungünstigen Verhandlungsposition heraus in den Regierungsverhandlungen zu derart weitreichenden Zugeständnissen gezwungen zu werden, dass sie in den Augen ihrer Wähler:innen komplett das Gesicht verliert. Im Moment spricht Babler in Richtung ÖVP-Obmann und Kanzler Nehammer allerdings von einer »ausgestreckten Hand« und signalisiert Verhandlungsbereitschaft.
Aber in welcher Regierung würde er selbst bei einem Erfolg der Verhandlungen sitzen? Aufgrund der sehr knappen Parlamentsmehrheit würde die ÖVP vermutlich nur dann eine Koalition eingehen, wenn auch die Neos an der Regierung beteiligt wären. Welche Programmpunkte wären mit zwei solchen neoliberal gepolten Regierungspartnern noch umsetzbar?
Die ÖVP
Dabei ist daran zu erinnern, dass die ÖVP möglicherweise nicht einmal ernsthaft verhandeln will: 1999 wurde die Sozialdemokratie stärkste Partei und die ÖVP unter Wolfgang Schüssel führte mit ihr Koalitionsverhandlungen. Scheinverhandlungen, wie sich dann herausstellte.
Denn hinter dem Rücken der Sozialdemokratie schmiedete Schüssel aus der Position des Dritten eine Koalition mit der zweitgereihten FPÖ, während die Sozialdemokratie in den Verhandlungen immer mehr von ihren Forderungen fallengelassen hatte. Plötzlich brach Schüssel die Verhandlungen ab, bildete überraschend mit der FPÖ (ohne deren Parteichef Haider in der Regierung) eine Koalition und ließ sich zum Kanzler machen.
Gleichzeitig schlachtete er die inhaltliche Kapitulation der Sozialdemokratie aus, indem er darauf verwies, er würde ja nur den »inhaltlichen Kompromiss mit der Sozialdemokratie« als Regierungsprogramm umsetzen. Was sollten die Sozialdemokraten daran noch kritisieren? Das war eine schwere Hypothek im Kampf gegen die Privatisierungswelle und den Sozialabbau der schwarz-blauen Schüssel-Regierung!
Droht jetzt eine Wiederholung bzw. Fortsetzung? Der ÖVP-Wirtschaftsbund und die Industriellenvereinigung drängen auf eine Koalition mit der FPÖ, um – nicht zuletzt angesichts ungünstiger Wirtschaftsprognosen und einem veritablen Budgetdefizit – massive Einschnitte bei den sozialen Errungenschaften durchzudrücken. Dazu gehört vor allem auch eine Arbeitsmarktreform, sprich: die Einführung von etwas Ähnlichem wie Hartz IV in Deutschland.
Bislang konnten massive Einschnitte analog der »Agenda 2010« in Deutschland (Gegenreformen bei Pensionen, im Gesundheitswesen und in der Arbeitslosenversicherung) in Österreich noch weitgehend verhindert werden. Jetzt stehen die Zeichen auf Sturm.
Auf die Straße!
Wie könnte die Sozialdemokratie mit dem Dilemma umgehen? Wäre eine Duldung einer ÖVP-Minderheitsregierung durch die Sozialdemokratie (eventuell auch der Grünen) eine Option, um die FPÖ von Regierungsämtern und Futtertrögen fernzuhalten und gleichzeitig keine Mitverantwortung für massiven Sozialabbau zu übernehmen – und gleichzeitig der ÖVP die Ausreden für eine Blau-Schwarze Koalition zu nehmen?
Entscheiden wird das vor allem der gewerkschaftliche und außerparlamentarische Widerstand – erst recht angesichts der neuen, tristen Mehrheitsverhältnisse im Parlament und einer Zweidrittelmehrheit für neoliberale Verfassungsänderungen (ÖVP + FPÖ + Neos stellen fast 69 Prozent der Abgeordneten). Bekanntlich hat es keine der drei Kandidaturen links von der Sozialdemokratie (KPÖ, Liste Gaza und Der Wandel/«Keine«) ins Parlament geschafft.
Am 20.September gab es in Wien eine gemeinsamen Demo der Klimaschutzbewegung und der österreichweiten Initiativen zur Verteidigung der Demokratie, es kamen 13000 Teilnehmer:innen. Hieran ist anzusetzen und den Ansatz weiterzuentwickeln, indem der Kampf gegen den drohenden Sozialabbau und Errungenschaften der Frauenbewegung damit verbunden wird.
Können solche Demonstrationen eine Chance für die Demokratiebewegung, Klimaschutzbewegung, Gewerkschafter:innen, Feminist:innen, Sozialdemokrat:innen, Kommunist:innen und Linke sein, eine neue Zusammenarbeit zu entwickeln, um außerparlamentarischen Widerstand gegen den drohenden Kahlschlag bei Sozialem, Klimaschutz und Demokratie auf die Beine zu bringen? Wird es möglich sein, eine solidarische Zusammenarbeit von unten aufzubauen?
Nutzen wir die Lage und beteiligen wir uns aktiv daran! Nur so kann der drohende Sozialabbau, die reaktionäre Klimawende, die Zerstörung von demokratischen Rechten und Errungenschaften der Frauenbewegung abgewehrt und das Kräfteverhältnis wieder verbessert werden.
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