Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2025

Rechtsextremer Scharfmacher wird Kanzler in Österreich
von Wilfried Hanser

In Österreich löst zur Zeit eine politische Hiobsbotschaft die nächste, noch schlimmere, ab.

Bei der Nationalratswahl vom 29.September erhielt die rechtsextreme Partei FPÖ unter dem Scharfmacher Kickl unglaubliche 28,8 Prozent der Stimmen und wurde damit stärkste Partei. Kickl ist kein Wolf, der Kreide frisst, er hetzt ganz offen, er hofiert die Identitären als »interessante rechte NGO« und das Wort »Remigration« bezeichnet er – lange vor Alice Weidel von der AfD – ganz ungeniert als sein Programm.

Viktor Orban in Ungarn nennt er sein Vorbild. Als Innenminister unter Sebastian Kurz hatte Kickl von sich reden gemacht, als er gesetzeswidrig eine Polizeirazzia gegen das Zentrum des Inlandsgeheimdienstes BVT (Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung) durchführen ließ.
Der nach den Nationalratswahlen neu gewählte FPÖ-Nationalratspräsident Walter Rosenkranz lud Orban konsequenterweise als ersten Staatsgast ins Parlament. Beim Empfang waren nur Mitglieder der FPÖ eingeladen, sie betrachten offenbar das österreichische Parlament als neue Lokation für ihre »Parteipartys«.

Die Koalitionsverhandlungen
Die Konservativen von der ÖVP wurden mit 26,2 Prozent zwar nur zweitstärkste Partei, aber die Festlegung der Sozialdemokraten (21,3 Prozent) unter Parteichef Andreas Babler, auf keinen Fall eine Koalition mit der FPÖ in Betracht zu ziehen, versetzte die ÖVP in die strategisch günstige Lage, dass zur Regierungsbildung kein Weg an ihr vorbeiführte. Sie konnte es sich aussuchen, ob sie mit der FPÖ oder mit den Sozialdemokraten eine Koalition eingehen wollte. Allerdings erhob Kickl den unverhandelbaren Anspruch, er sei nur dann zu einer Regierungskoalition bereit, wenn er Kanzler wird.
Zunächst legte sich der bisherige Kanzler und Parteichef der ÖVP, Nehammer, quer: Er mache »nicht den Steigbügelhalter für Kickl ins Bundeskanzleramt«. Kickl fand deshalb weder bei der SPÖ noch bei der ÖVP einen Koalitionspartner. Auf dieser Basis erhielt Nehammer vom Bundespräsidenten den Auftrag zur Regierungsbildung, also zu Verhandlungen mit der Sozialdemokratie. Da eine Parlamentsmehrheit von ÖVP und SPÖ nur durch ein Überhangsmandat abgesichert war, wurden die neoliberalen NEOS zu den Verhandlungen hinzugezogen.
Diese gestalteten sich sehr schwierig, die Kombination aus Wirtschaftsrezession (das dritte Jahr in Folge) und ein Haushaltsloch von 18 bis 24 Milliarden (die Höhe ist umstritten) erfordert entweder massive Kürzungen oder neue bzw. höhere Steuern oder eine Kombination von beidem, wenn die Maastricht-Kriterien von maximal 3 Prozent Neuverschuldung eingehalten werden sollen.
Die SPÖ forderte sehr sanft und kompromissbereit eine »gerechte Beteiligung von Reichen und Superreichen« an der Haushaltssanierung. ÖVP und Neos hingegen betonierten sich ein, es dürfe weder eine Wiedereinführung der Erbschaftsteuer (ab einer Million) noch sonstige Vermögensteuern oder eine Bankenabgabe geben.
Kickl lobbyierte derweil beim Wirtschaftsflügel der ÖVP und der Neos mit einer »blauen Mappe«, in der sich offenbar nichts anderes als das Wirtschaftsprogramm der ÖVP befand. Er warf einen Köder aus: Die FPÖ hilft euch, eine massive neoliberale Strukturveränderung umzusetzen, dafür müsst ihr Kickl zum Kanzler machen. Unter dem Druck des Wirtschaftsflügels konnte Nehammer der Sozialdemokratie keine Konzessionen machen und die Chefin der Neos, Meinl-Reisinger, hätte keine Chance gehabt, im Parteivorstand die erforderliche Zweidrittelmehrheit für ein Koalitionsabkommen zu bekommen, das eine neue Kapitalsteuer enthält.
Nach 44 Tagen beendeten Neos die Verhandlungen, am nächsten Tag folgte Nehammer – und trat gleichzeitig als ÖVP-Chef und Kanzler zurück. Die Sozialdemokraten blieben – trotz weitgehender Zugeständnisse – allein am Verhandlungstisch sitzen.
Jetzt ging es Schlag auf Schlag: Die ÖVP bestellte – provisorisch – den bisherigen Parteisprecher Stocker zu ihrem Obmann, ihr Außenminister Schallenberg wurde vom Bundespräsidenten vorläufig mit der Fortführung der Regierungsgeschäfte betraut. Gleichzeitig beauftragte er FPÖ-Chef Kickl mit der Regierungsbildung. Seitdem laufen Koalitionsgespräche zwischen FPÖ und ÖVP.

Der Durchmarsch
Der massive Wortbruch der ÖVP, die sich im Wahlkampf und auch nach der Wahl klar gegen einen Kanzler Kickl ausgesprochen hatte, kostet sie erneut jede Menge Vertrauen bei ihren Wähler:innen. In der Umfrage vom 10.1.25 verliert sie weitere 9 Prozentpunkte im Vergleich zur Wahl am 29.September und stürzt auf 17 Prozent (!) ab, während die FPÖ nochmals um 10 Prozentpunkte (!) zulegt und ein historisches Hoch von 39 Prozent erreicht. Die ÖVP hat sich durch den Abbruch der Regierungsverhandlungen und ihren massiven Wortbruch in eine ausweglose Sackgasse manövriert, in der sie dem Wohlwollen der FPÖ völlig ausgeliefert ist. Die Flucht in Neuwahlen würde laut Umfragen in einem noch größeren, historischen Desaster für sie enden.
Kickl hat jetzt weitgehend freie Hand: Er kann das Kanzleramt sowie wichtige Schlüsselministerien, mindestens das Innen- und Verteidigungsministerium fordern, maßgebliche Positionen im Beamtenapparat und am Obersten Gericht besetzen, den staatlichen Rundfunk ORF zerschlagen oder jedenfalls seine Unabhängigkeit abschaffen und die der Printmedien noch stärker einschränken. Zudem kann er die Arbeiter:innenkammer durch Abschaffung oder starke Reduktion der Pflichtbeiträge ausschalten oder massiv schwächen.
Entscheidende Schritte der Orbanisierung Österreichs scheinen vorprogrammiert. Es wäre ein Fehler, Kickl zu unterschätzen. Er ist zwar kein guter Redner und seine Stimme klingt unangenehm schrill. Aber er ist ein erfahrener rechtsextremer Politiker und hat schon die Reden und Plakattexte von Jörg Haider geschrieben. Er ist hoch motiviert, machtgeil und zu allem entschlossen.

Die Lage ist instabil
Ist damit die – bürgerliche – Demokratie in Österreich verloren? Wird Österreich ein zweites Ungarn? Das wäre zu befürchten, wenn man nicht die inneren und äußeren Widersprüche der Situation berücksichtigte: ÖVP und FPÖ sind sich spinnefeind und für die ÖVP steht ihre jahrzehntelange Macht im Beamtenapparat auf dem Spiel. Die möchte Kickl am liebsten zerschlagen, um seine Gefolgsleute auf den Schild zu heben und die Kontrolle im Staatsapparat zu übernehmen.
Die Koalitionsgespräche könnten daher – mit geringer Wahrscheinlichkeit – immer noch scheitern. Dazu müsste die ÖVP aber ein Abkommen mit den Sozialdemokraten zuwege bringen. Die Bereitschaft dazu ist nach dem Putsch des Wirtschaftsflügels in der ÖVP gering. Der politische und soziale Preis wäre für die Sozialdemokratie sehr hoch, weswegen die aktuelle Führung auch nicht zu einer bedingungslosen Unterwerfung unter das Diktat der ÖVP bereit war.
Das zu erwartende Programm von Blau-Schwarz richtet sich allerdings direkt gegen die sozialen und gesellschaftlichen Interessen des Großteils der Wähler:innen beider Parteien, insbesondere gegen die überwiegende Mehrheit der Wähler:innen der FPÖ, die Lohnabhängigen. Sie stellen letztlich die Mehrheit der Bevölkerung.
Auf dem Spiel stehen die gesamten Reformerrungenschaften seit der Kreisky-Ära. Österreich steht – im Vergleich zu Deutschland – noch relativ gut da. Eine »Agenda 2010« wie unter Schröder, Konterreformen bei Pensionen und im Gesundheitssystem hat es in Österreich noch nicht gegeben, das öffentliche Sozial- und Gesundheitssystem ist noch weitgehend intakt, wenn auch geschwächt. Eisenbahnen und öffentliche Verkehrsbetriebe fahren im wesentlichen pünktlich und decken ein breites Netz ab; staatliche Verwaltung und Infrastruktur funktionieren im internationalen Vergleich noch relativ gut.
Und die Grünen haben auch ein paar – sehr bescheidene - ökologische Reformen erstritten: das Klimaticket, eine CO2-Abgabe in Verbindung mit einem Klimabonus, der an alle ausgezahlt wird, einige Transparenz- und Antikorruptionsbestimmungen, die in die Gesetze eingebaut wurden.

Gegenhalten
All das ist durch die zu erwartenden Angriffe und die Privatisierungswelle v.a. im Sozial- und Gesundheitssystem höchst gefährdet. Gefordert sind deshalb die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie, die etwas erstarkte KPÖ (laut Meinungsumfragen derzeit bei 3 Prozent) und die – allerdings sehr schwache, zersplitterte – Linke. Jetzt muss Widerstand gegen die geplanten massiven Zerstörungen des Sozialstaats und der demokratischen Errungenschaften, gegen rassistische, frauenfeindliche und minderheitenfeindliche Hetze sowie gegen autoritäre Bestrebungen aufgebaut werden.
Das Kämpfen wieder lernen, intelligent und kreativ breite Bündnisse knüpfen – das ist der Schlüssel, um dieser historischen Bedrohung zu widerstehen. Wird es gelingen, Widerstandskonferenzen auf die Beine zu stellen und eine breite Abwehrfront zu entwickeln? Kann aus einer solchen Verteidigung sozialer und demokratischer Errungenschaften ein neuer gesellschaftlicher und politischer Aufbruch erwachsen? Werden sich daran auch kritische Journalist:innen, Wissenschaftler:innen und Künstler:innen beteiligen?
Ohne Überwindung der bürokratischen Behäbigkeit, die die jahrzehntelange Sozialpartnerschaft in Österreich geprägt hat, und vor allem ohne Überwindung der österreichischen Mentalität des »Suderns«, des passiven Lamentierens; ohne Entwicklung einer kreativen, aktiven, internationalistischen, selbstbewussten Widerstandskultur, die auch die neoliberale Ideologie sprengt; ohne Verbindung der unterschiedlichen sozialen, ökologischen, feministischen, emanzipatorischen und antirassistischen Bewegungen sind verheerende Niederlagen und eine düstere reaktionäre Zukunft unausweichlich. Nehmen wir die Herausforderung an!
15.1.2025

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