Die Wurzeln des Korruptionssystems
von Tobias Lambert
Venezuela steckt in der schwersten Krise seiner Geschichte. Der ungeheure ökonomische, soziale und politische Niedergang folgte auf den Verfall der Erdölpreise 2014, auf wirtschaftspolitische Fehler der Regierung, einen destruktiven Machtkampf und die US-Sanktionen. Die Wurzeln der Krise reichen zurück bis in die Präsidentschaft von Hugo Chávez. Die hohen Erdölpreise haben strukturelle Probleme verdeckt, die sich unter Nachfolger Maduro verschärft haben.
Der angestrebte »Sozialismus des 21.Jahrhunderts« während Chávez’ zweiter Amtszeit (ab 2006) bewegte sich zwischen autoritären Ansätzen von oben und demokratisierenden von unten. Diskutiert wurde an der Basis reichlich, die inhaltliche Agenda der Regierung hing aber maßgeblich von Chávez ab. Er traf letzten Endes die wichtigen Entscheidungen, galt den Basisbewegungen aber stets als verlässlichster Verbündeter innerhalb des Staatsapparats. Mit zunehmender staatlicher Kontrolle über den eingeschlagenen Transformationsprozess spielten Bewegungen zwischen 2006 und 2009 eine immer geringere Rolle.
Vor allem in sozialen Bereichen verzeichnete die Chávez-Regierung vorübergehend beeindruckende Ergebnisse. So war bereits 2004 der Analphabetismus weitgehend überwunden und der Zugang zu Gesundheit und Bildung flächendeckend ausgeweitet. Strukturell nachhaltige Veränderungen blieben allerdings meist aus. Im Bildungssystem etwa gelang es der Regierung nicht, die klassische Zweiteilung zwischen staatlichen und (wesentlich besser ausgestatteten) privaten Schulen zu überwinden.
Das gleiche gilt für das Hochschulsystem. Zwar verbesserte sich der Zugang für den ärmeren Teil der Bevölkerung deutlich. Doch verstärkten die neu geschaffenen staatlichen Abschlüsse im Rahmen der Sozialprogramme oder der Bolivarianischen Universität die vorhandene Fragmentierung teilweise sogar. In der allgemeinen Wahrnehmung genoss dieser »chavistische Bildungsweg« nicht den gleichen Stellenwert wie das traditionelle Bildungssystem. Die Angst vor politischer Indoktrinierung stärkte in den Mittel- und Oberschichten die Nachfrage nach privaten Bildungseinrichtungen.
Zudem war der »Sozialismus des 21.Jahrhunderts« mit mehreren Widersprüchen konfrontiert: Aufgrund des Erdölbooms verfügte der Staat über scheinbar unbegrenzte Finanzmittel, mit denen er Sozialpolitik, Infrastrukturprojekte und einen hemmungslosen Konsum finanzierte. Aufgrund künstlich niedrig gehaltener Wechselkurse zwischen Bolívar und US-Dollar fluteten Importe das Land, was der heimischen Produktion schadete.
Fehlende Fehleranalyse
Statt auf gewachsene Strukturen setzte die Regierung auf schnelle Erfolge, die häufig nicht nachhaltig waren und die sie nicht evaluierte. Dies gilt für die Experimente solidarischer Wirtschaft und Arbeiterselbstverwaltung wie für die Agrarreform oder die Sozialpolitik: Es fehlen Analysen, um aus den Fehlern lernen zu können.
Die Devisenschwemme förderte Korruption und Missmanagement. Effektive Kontrollmechanismen gab es nicht. Der Chavismus kontrollierte sämtliche staatliche Gewalten und Institutionen. Die basis- und direktdemokratischen sozialen Kontrollmechanismen spielten wegen der scharfen politischen Polarisierung kaum eine Rolle. Bei Wahlen und Abstimmungen standen nicht Sachfragen im Vordergrund, sondern stets das Überleben des gesamten politischen Prozesses. Dies verleitete die Regierung zu undemokratischen Schritten, sobald ihre Macht in Gefahr zu geraten drohte. Dadurch begann die demokratische Legitimation zu erodieren, was sich aber erst unter Maduro vollends offenbarte.
Eine kritische interne Debatte, die zu Kurskorrekturen hätte führen können, war in diesem politischen Ambiente kaum möglich. Gerade die Erfahrung des Putsches 2002 ließ begründete Ängste vor oppositionellem Revanchismus aufkommen. Dies führte zu einer teilweise toxischen Debattenkultur, in der kritische Stimmen schnell des Verrats bezichtigt wurden. Die ständigen Angriffe seitens privater Medien führten dazu, dass Kritik häufig als Versuch wahrgenommen wurde, das politische Projekt an sich zu diskreditieren.
Sich als Chavist gegenüber privaten Medien kritisch zu äußern, war verpönt und spielte vermeintlich der Opposition in die Hände. Doch die staatlichen Sender übten sich überwiegend in Propaganda beziehungsweise stellten lediglich vermeintliche Erfolge der Regierung dar, anstatt Raum für kritische Debatten zu bieten. Dass auch gerechtfertigte Kritik meist nur in oppositionellen Sendern vorkam, nutzte am Ende mehr der Opposition als der Regierung. Auch wenn Chávez selbst immer wieder betonte, wie wichtig (Selbst-)Kritik sei, reichte dies kaum aus, um ein fruchtbares Diskussionsklima zu erzeugen.
Politische Loyalität wurde für Regierungsämter oft als wichtiger erachtet als politische Performance. Chávez hob Militärs und Vertrauensleute auf wichtige Posten, die uneingeschränkt hinter ihm standen, häufig aber kaum Erfahrung für ihr Amt mitbrachten. In den meisten Fällen rotierte das immergleiche Personal, was Chávez’ Führungsposition verstärkte. Das an der Basis verbreitete Gefühl, er sei der einzige Politiker, der Dinge anpacke, hatte auch damit zu tun. So gab es zwischen 1999 und 2013 sechs unterschiedliche Bildungsminister:innen, acht Wohnungsminister:innen, zehn Finanz-, zwölf Innen- und zwölf Kommunikationsminister:innen.
Devisensystem als Selbstbedienungsladen
In dem mehrstufigen Devisensystem florierten Korruption und Veruntreuung. Im Jahr 2003 eingeführt, um Kapitalflucht zu unterbinden und Importe nach politisch festgelegten Kriterien zu subventionieren, blieb das System auch in Kraft, als sich die Wirtschaft erholt hatte. Die im Vergleich zu den 1980ern deutlich größeren Deviseneinnahmen und fehlende Kontrollen trieben die illegalen Wechselkursgeschäfte in bis dato unvorstellbare Sphären. Sie demokratisierten gewissermaßen die Korruption.
Unternehmen, die größere Summen für Importe benötigten, mussten diese zwischen 2003 und 2014 bei der Devisenzuteilungsbehörde Cadivi beantragen. Wer nicht die gewünschte Menge an Dollar erhielt, hatte keine andere Möglichkeit, als Devisen auf dem Schwarzmarkt zu deutlich höheren Kosten dazu zu kaufen. Ab Anfang 2010 galten offiziell zwei unterschiedliche Kurse: Für als vorrangig eingestufte Güter wie Lebensmittel, Medikamente, Maschinen oder Bücher sowie alle Regierungsimporte wurde der Bolívar von 2,15 auf 2,60 abgewertet.
Für private Importe »nicht essentieller« Güter wie elektronische Geräte, Autos oder Tabakwaren galt hingegen ein Kurs von 4,30 Boliváres pro US-Dollar. Von dem System profitierten Unternehmer:innen sowie Funktionär:innen in den zuständigen Behörden, da sie den Devisentausch gegen die ein oder andere Zahlung ermöglichen oder beschleunigen konnten. Wer nicht ausreichend Dollar zugeteilt bekam, musste sich zu deutlich höheren Kursen auf dem Schwarzmarkt eindecken.
Während der Wirtschaftskrise ab 2014 erhöhte sich die Spanne zwischen den Wechselkursen auf mehrere zehntausend Prozent. Internetseiten wie das von Miami aus betriebene Portal Dolar Today legten den Schwarzmarktkurs für US-Dollar, der in Venezuela selbst nicht veröffentlicht werden durfte, nach politischen Erwägungen fest. Eine neue Schicht regierungsnaher Unternehmer:innen und chavistischer Funktionär:innen, die als Bolibourgeoisie (boliburguesía) bekannt wurde, bereicherte sich auf diese Weise unter der linken Regierung in kaum vorstellbarem Ausmaß.
Doch auch internationale Konzerne profitierten von den billigen Devisen. Autoimporteure, Fluglinien oder Pharmakonzerne erhielten große Summen subventionierter US-Dollar. Selbst Einzelpersonen, die gar keine Unternehmer:innen waren, konnten über das Devisensystem auf sehr einfache Art und Weise illegal Geld verdienen. Dies galt auch für Tourist:innen, die Devisen mitbrachten und extrem billig Urlaub machten, wenn sie nicht in den offiziellen Wechselstuben, sondern auf dem Schwarzmarkt tauschten.
Für Reisen oder Importkäufe standen allen Venezolaner:innen bis zu 5000 US-Dollar jährlich zu einem günstigen Dollarkurs zur Verfügung. Wer eine Auslandsreise buchte, erhielt dafür eine bestimmte Menge an US-Dollar zu einem niedrigen Kurs. Wer nun aber den Flug kurzfristig stornierte oder einfach nicht antrat, bekam abhängig von der geplanten Reisedauer dennoch die Dollar und konnte diese dann auf dem Schwarzmarkt verkaufen.
Zwischenzeitlich existierte in den Nachbarländern Venezuelas eine feste Infrastruktur, um die Dollarkontingente von vermeintlich Reisenden über deren Kreditkarten abzugreifen und abzüglich einer »Gebühr« zurückzuzahlen. Offiziell ausgebuchte Flugzeuge mit zahlreichen leeren Plätzen zeugten davon, wie verbreitet die Masche war.
Darüber hinaus gab es zahlreiche weitere Tricks, um an Dollar zu gelangen. Innerhalb der Regierung bestand weder gegenüber großen Importeuren noch gewöhnlichen Bürger:innen ein sichtbares Interesse, dagegen vorzugehen. Meist waren es nur einige exemplarische Fälle, die häufig Personen betrafen, die mit der Regierung gebrochen hatten. Über die während des Erdölbooms insgesamt veruntreute Summe kann nur gemutmaßt werden, eine seriöse juristische Aufarbeitung hat bislang nicht stattgefunden. Selbst zurückhaltende Schätzungen, etwa von heute regierungskritischen, ehemaligen Regierungsmitgliedern gehen von 300 Milliarden US-Dollar aus.
Der Autor ist Journalist und Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Lateinamerika. Der obige Text ist ein gekürzter Auszug aus seinem gerade veröffentlichten Buch Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez. Wien: Mandelbaum, 2024, 238 S., 23 Euro.
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