Zum Bruch der Ampelkoalition
von Ingo Schmidt
Zweimal zeigte Bundeskanzler Olaf Scholz Führungsstärke: Als er nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine eine Zeitenwende zur Aufrüstung verkündete. Und als er Finanzminister Christian Lindner entließ. Wie in den beiden Vorjahren wollte Scholz die Schuldenbremse aussetzen, um Aufrüstung und Subventionen für die Privatwirtschaft ohne drastische Kürzungen bei den Sozialausgaben zu finanzieren. Lindner bestand jedoch auf solchen Kürzungen.
In den frühen 2000er Jahren hat Gerhard Schröder als sozialdemokratischer Kanzler Sozialkürzungen der Art durchgesetzt, wie Lindner sie jetzt fordert. Danach ist seine Partei in Umfragen von Werten zwischen 35 und 40 Prozent auf Werte um 25 Prozent abgestürzt. Die reichten Scholz nach 16 Jahren Merkel, um 2021 den Kanzler zu stellen.
Bei aktuellen Umfragewerten um die 16 Prozent würde eine Neuauflage der Schröderschen Sozialkürzungen die SPD mit ziemlicher Sicherheit in die Einstelligkeit drücken. Lindner aber, dessen FDP in aktuellen Umfragen unter der 5-Prozent-Hürde liegt, entschied sich für den Bruch der Koalition in der Hoffnung, das Image als liberaler Prinzipienwahrer werde seiner Partei wieder ins Parlament verhelfen.
Nach den im Februar 2025 anstehenden Wahlen wird CDU-Chef Friedrich Merz mit ziemlicher Sicherheit ins Kanzleramt einziehen. Er wird aber Schwierigkeiten haben, eine Koalition zusammenzukriegen. Seitdem die AfD in drei Landtagswahlen in Ostdeutschland mit Werten um die 30 Prozent zur stärksten bzw. zweitstärksten Partei geworden ist, versuchen alle anderen Parteien, eine Regierungsbeteiligung der AfD zu verhindern.
Bislang ohne Erfolg. Auch wenn es bei den Bundestagswahlen für die AfD nicht zu 30 Prozent reicht – gegenwärtig liegt die Partei bei 18 Prozent – wird die Regierungsbildung schwierig. Das Gezerre um mögliche Koalitionen, das bereits am Tag nach Lindners Rauswurf begann, wird der AfD sicherlich in die Hände spielen. Zumal es auf der Linken wenig überzeugende Alternativen gibt. Das BSW kommt aus der Linken, distanziert sich auf seinem Weg ins politische Irgendwo aber von seiner Herkunft. Die Linke besteht zwar aufs Linkssein, tut sich aber schwer damit, die politische Selbstverortung mit Inhalt und Leben zu füllen.
Der starke Arm ökonomischer Macht
Weshalb eskaliert der Streit gerade in letzter Zeit? Zu Zeiten Gerhard Schröders waren sich Politiker über Parteigrenzen hinweg einig, dass Privatisierungen, Deregulierung und Freihandel notwendig seien, um Prosperität für alle zu schaffen. Streit gab es nur innerhalb der SPD, deren linker Rand sich dem neoliberalen Einheitsdenken jener Zeit verweigerte und bald darauf mit der PDS zur Linkspartei fusionierte.
Damals wie heute war die deutsche Wirtschaft in einer Rezession. Damals wie heute bezeichnete der Economist Deutschland als kranken Mann Europas und gab damit den Ton vor, wonach Konzernchefs das Lied vom drohenden Untergang anstimmten, der nur durch die drastische Senkung von Löhnen, Sozialausgaben und Steuern verhindert werden könne. Die Politik müsse den Profiten auf die Beine helfen.
Genau genommen ging es damals wie heute um Extraprofite. Trotz Rezession, sprich sinkender Wertschöpfung, stiegen die Gewinne in den frühen 2000er Jahren und sie steigen auch jetzt. Rezessionen mit sinkenden Gewinnen gab es 2008/2009 im Anschluss an die von den USA ausgehende globale Finanzkrise und 2020/2021 infolge der Corona-Lockdowns.
In beiden Fällen forderten, und bekamen, private Unternehmen massive Staatshilfen. Nachdem staatliche Unterstützung, die aus Steuern und Staatsschulden finanziert wurde, sie damals in die Spur steigender Gewinne zurückgeführt hat, wollen sie die aktuelle Rezession nicht verstreichen lassen, ohne sich Steuernachlässe und sinkende Lohnkosten zu sichern.
Für Lindner boten die Forderungen des Unternehmertums die Chance, seine von Wählerschwund geplagte Partei als verlässlicher Repräsentant des Kapitals und sich selbst als ideellen Gesamtkapitalisten anzudienen, in der Hoffnung, er könne in einer CDU-geführten Bundesregierung wieder Finanzminister werden. Es ist aber nicht sicher, dass Merz die FDP wieder an der Regierung beteiligen würde. Die Konflikte, die zum Bruch der Regierung Scholz führten, werden auch die nächste Regierung beschäftigen, wie immer sie aussehen mag.
Kein Zurück zur neoliberalen Einheit
In einem Punkt stimmen alle im Bundestag vertretenen Parteien überein, vielleicht mit Ausnahme der Linken: Die Wirtschaft muss gefördert werden. Doch über das Wie gibt es unterschiedliche Vorstellungen. Lindner repräsentiert das lange dominierende neoliberale Denken. Wirtschaftsminister Robert Habeck trat zunächst für einen Mix aus moderatem Keynesianismus und Industriepolitik mit dem Ziel eines ökologischen Umbaus ein. Seine Pläne zielten allerdings eher auf Ökologie für Besserverdiener als auf eine Sozialökologie für alle.
Seit Scholz die Regierung auf Rüstung und Kriegstüchtigkeit eingeschworen hat und von seiner Außenministerin Annalena Baerbock zu einem immer aggressiveren Kurs in der Außenpolitik gedrängt wird, ist die Ökologie vollends unter die Panzerketten der Aufrüstung und der Energiebeschaffung um jeden Preis geraten. Aber auch Lindners Selbstinszenierung als Haushaltswächter hat durch die Neuausrichtung der Außenpolitik Schaden genommen. Denn für Aufrüstung will auch Lindner Geld locker machen – aber eben durch drastische Einschnitte bei den Sozialhaushalten. Die SPD hingegen möchte Sozialkürzungen nur in homöopathischen Dosen verabreichen.
Das politische Theater beruht auf Interessengegensätzen innerhalb der Bourgeoisie und zwischen Bourgeoisie und Mittelstand. Teile der Bourgeoisie haben Habecks ursprüngliche Pläne offen unterstützt. Eine mit Staatskohle sanierte und ökologisch ausgerichtete Infrastruktur galt ihnen als Standortvorteil. Andere, vor allem die Automobilindustrie, konnten mit der E-Mobilität wenig anfangen. Die Energiebranche möchte Wind- und Solarenergie als weiteres Geschäftsfeld ausbauen, fossile Energien aber nicht aufgeben.
Dem Mittelstand, stärker der Konkurrenz ausgesetzt und mit geringeren finanziellen Reserven zum Durchstehen von Krisen ausgestattet als große Konzerne, ist jede Steuersenkung und jede Subvention recht. Wenn der Haushalt ausgeglichen werden soll, dann bitte schön auf Kosten von Lohnabhängigen und Rentnern. Wenn entsprechende Maßnahmen zu anhaltender Konsumflaute führen – werden halt noch mehr Steuerentlastungen und Subventionen gefordert…
Unstimmigkeiten gibt es auch in Sachen Aufrüstung. Die Rüstungsindustrie ist begeistert, spielt gesamtwirtschaftlich aber keine große Rolle. Im Gegensatz zu den Exportindustrien, die gern am Ost- und Westhandel verdienen. Die seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von den USA eingeleitete Wende zu Sanktionen, Protektionismus und Großmachtkonflikten sorgt freilich schon länger für Unsicherheiten.
Den USA bedingungslos hinterherzulaufen, von Scholz als Zeitenwende verkauft, sollte für politische Stabilität unter den westlichen Verbündeten sorgen, hat aber die ökonomischen Unsicherheiten im Handel mit nichtwestlichen Ländern, allen voran China, verstärkt. Nach der Wiederwahl Donald Trumps in den USA geht die Angst um, trotz aller Vasallentreue möchten die Beziehungen zum großen Bruder weder politisch noch wirtschaftlich stabil sein.
Hier und da werden Stimmen laut, Deutschland müsse dann eben noch mehr aufrüsten und eine selbständige Rolle in der Weltpolitik spielen. Die bislang geschaffenen Marktzugänge würden dadurch allerdings auch nicht gesichert, die Fragmentierung des Weltmarkts würde weiter zunehmen.
Bei so viel realer Uneinigkeit in den Reihen der Besitzenden kann die Politik die Rolle des ideellen Gesamtkapitalisten nicht spielen. Alles, was die dem Kapitalismus verpflichteten Parteien noch tun können, ist, die Rolle des Buhmanns für Probleme zu spielen, die sie nicht mehr verwalten können.
Um dennoch etwas Zustimmung von den unteren Klassen zu erhalten, soll die Mobilität der Arbeitskraft eingeschränkt, sprich die Einwanderung begrenzt werden. In diesem einen Punkt bestand, wiederum mit Ausnahme der Linken, unter den im Bundestag vertretenen Parteien schon vor dem Bruch der Regierungskoalition Einigkeit.
Die Mobilität von Waren und Kapital, und damit die Existenzgrundlage des früheren Exportweltmeisters, wird das nicht retten. Die AfD freut es. Kann sie doch, mit gewissem Recht behaupten, dass die anderen Parteien endlich tun, was sie schon lange zur Rettung Deutschlands gefordert hat.
Ingo Schmidt ist marxistischer Ökonom und lebt in Kanada und Deutschland.
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