Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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von Ingo Schmidt

Für ein paar Panzer mehr trägt CDU-Chef Friedrich Merz seine Prinzipien ins Pfandhaus. Vor den Wahlen hat er die Schuldenbremse noch mit Zähnen und Klauen verteidigt. Ebenso Christian Lindner, Merz’ Außenposten in der Ampelregierung. Kanzler Olaf Scholz und sein Kriegsertüchtigungsminister Boris Pistorius konnten deshalb nur im Rahmen eines Sondervermögens von 100 Mrd. Euro aufrüsten. Kaum als designierter Kanzler aus den Bundestagswahlen im Februar hervorgegangen, erklärte Merz die Schuldenbremse in Sachen Rüstung für obsolet.

Mit breiter Mehrheit stimmte der gerade abgewählte Bundestag für grenzenlose Kredite zur Finanzierung des Militärs. Dazu kommt ein Sondervermögen für die Infrastruktur. Auch das ein Beitrag zur Kriegstüchtigkeit, weil marode Schienennetze und Brücken den unfallfreien Transport schwerer Waffen an die Front nicht gewähren können.
Gemeint ist die Ostfront. Die Erklärung von US-Präsident Donald Trump, er erwarte von der Ukraine Rohstofflieferungen zur Bezahlung bereits gelieferter Waffen, habe ansonsten aber kein Interesse an einer Fortführung des Krieges, hat Europas politische Eliten in Panik versetzt. Die Warnung, wenn jetzt nicht massiv aufgerüstet werde, kommt der Russe, wurde zum neuen Elitenkonsens.
Verstärkt wird die Panik noch durch den Handelskrieg, den Trump der Welt erklärt hat. Die Reaktionen darauf sind verhalten: Gegen Trump wird nicht wirtschaftlich aufgerüstet, sondern man bittet um Gespräche. Und verweist immer wieder darauf, dass die militärische Aufrüstung auch die Konjunktur ankurbeln werde.
Das wird auch Zeit. Nach zwei Jahren Rezession und in Erwartung weiterer Rückgänge von Produktion und Beschäftigung infolge des Handelskrieges wollen Unternehmer Maßnahmen zur Kostensenkung sehen. Gern auch eine Ausweitung der staatlichen Nachfrage – sofern sie nicht zu höheren Lohnkosten oder Sozialausgaben führt.

Die Vorgeschichte
Die tonangebenden Kreise des deutschen Unternehmertums hatten schon vor der Bundestagswahl 2020 eine staatlich finanzierte Instandsetzung und den Ausbau der Infrastruktur gefordert. Das BDI-eigene Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hatte mit dem DGB-eigenen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) entsprechende Pläne ausgearbeitet. Die blieben unter dem Schuldenbremser Lindner weitgehend Makulatur. Das wird unter Merz anders. Im Windschatten unbegrenzter Rüstungsgelder stehen auch erhebliche Summen für die Infrastruktur zur Verfügung.
Die Blaupause für das staatliche Ausgabenprogramm Rüstung und Infrastruktur stammt von IW-Chef Michael Hüther, Clemens Fuest, Moritz Schularick und Jens Südekum. Fuest, Chef des IFO-Instituts in München, hatte bis zum Aus­ein­ander­bre­chen der Ampelkoalition die Schuldenbremse unterstützt. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft, das in den 80er Jahren eine Vorreiterrolle bei der Umorientierung von keynesianischer Nachfragesteuerung zu neoliberaler Freihandelspolitik gespielt hatte, wurde unter Schularick auf seine ursprüngliche Linie aus Kaisers Zeiten zurückgeführt: Forschung für Rüstung und Großmachtpolitik. Jens Südekum sollte Mitglied des Sachverständigenrats Wirtschaft werden, das scheiterte am Widerstand Lindners.
Vom neoliberalen Hardliner Fuest bis zum vorsichtigen Keynesianer und IMK-Chef Dullien – auf Schulden fürs Militär konnten sie sich einigen. Alle hoffen, dass steigende Rüstungs- und Infrastrukturausgaben zur Überwindung der Rezession beitragen.

Konsum, Investition und Markterweiterung
In Sachen Infrastruktur mag diese Rechnung aufgehen. Öffentliche Infrastruktur – von der Ausbildung künftiger Arbeitskräfte bis zum Transportwesen – sind für die Produktion und Distribution von Gütern und Dienstleistungen ebenso unerlässlich wie die Rohstoffe, Maschinen und Arbeitskräfte. In beiden Fällen handelt es sich um Investitionen. Können Güter und Dienstleistungen wie geplant verkauft werden, lassen sich auch die zur Finanzierung der notwendigen Investitionen aufgenommenen Kredite zurückzahlen – öffentliche wie private.
Anders bei den Rüstungsausgaben. Diese sind Konsumausgaben. Sie müssen aus bereits erzielten Einkommen bezahlt werden – im Fall des staatlichen Konsums sind das die Steuern. Schuldenfinanzierung erlaubt die Ausweitung des Konsums in der Gegenwart über die laufenden Einnahmen hinaus. Dafür muss der Konsum zwecks Schuldenrückzahlung in der Zukunft eingeschränkt werden.
Wieder und wieder haben Hüther, Fuest und andere Tugendwächter des Neoliberalismus dieses Argument gegen linkskeynesianische Vorschläge eines sozialökologischen Umbaus vorgebracht. Und sorgen sich gegenwärtig, dass der gerade geschaffenen Kreditrahmen für sozialkonsumtive Zwecke missbraucht werden könnte, statt Investitionen in den Krieg zu finanzieren.
In den öffentlichen Debatten wurde die theoretische Einschätzung, dass es sich bei Rüstungsausgaben um Konsum und nicht um Investitionen handelt, aufgegeben. Investition klingt einfach weniger verschwenderisch und Verschwendung ist das Letzte, das »wir« uns mit dem Russen vor der Tür leisten können.
Unter einer Bedingung ließe sich die Behauptung, Rüstungsausgaben seien Investitionen, auch theoretisch begründen. Wenn die damit beschafften Waffen neue Anlagefelder, Rohstoffquellen und Absatzmärkte schaffen würde. Wie es bei den kolonialen Eroberungen vor dem Ersten Weltkrieg der Fall war, auch wenn schon damals die »Eroberungskosten« die tatsächlich erzielten »Kolonialgewinne« mitunter bei weitem überstiegen. Rüstungsausgaben waren deshalb gut für die Gewinne der Waffenhersteller, aber weniger gut für die Akkumulation des Gesamtkapitals.
Das ist heute erst recht der Fall. Geht die Aufrüstung doch mit einem Neoprotektionismus einher, der mit Sanktionen gegen Länder begann, die von den USA als Schurkenstaaten klassifiziert wurden. Mit den Sanktionen gegen Russland nach dessen Einmarsch in die Ukraine erreichte diese Politik eine neue Größenordnung. Hinzu kamen Zölle – erst gegen China, das der frühere US-Präsident Barack Obama wenige Jahre nach der US-Immobilien- und Börsenkrise und der davon ausgelösten weltweiten Rezession 2006–2009 als Gegner der USA einstufte.

Investitionen und Nachfrage
Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert waren Protektionismus und Militarismus Mittel der kolonialen Expansion. Zusammen mit dem Aufbau einer chemischen und elektrotechnischen Industrie und der Entstehung von Kartellen und Konzernen ermöglichten sie einen langen Wirtschaftsaufschwung. Er wurde vom Ersten Weltkrieg beendet, der selbst eine Folge der kolonialen Expansion und der daraus hervorgegangen Rivalitäten war.
Anders im frühen 21. Jahrhundert: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion führte die in Peking herrschende KP China in den kapitalistischen Weltmarkt und schuf damit lange nicht gesehene Anlage- und Absatzmöglichkeiten. Erst als der kombinierte Globalisierungs- und China-Boom unter dem Widerspruch von industriellen Überkapazitäten und übertriebenen, vom Finanzsystem generierten Gewinnansprüchen zusammenbrach und eine Depression nur durch massive Staatsinterventionen verhindert werden konnte, erfolgte die Wende zu Protektionismus und Militarismus.
Wieder einmal bestätigte sich, dass Maßnahmen zur Kostensenkung wie die Produktionsverlagerung in Niedriglohnländer zu einem Mangel an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage führen. Sie kann kurzfristig durch höhere Investitionen verhindert werden, denn sie erhöht nicht nur die Nachfrage nach Investitionsgütern, sondern auch die Lohneinkommen und die damit verbundene Nachfrage nach Konsumgütern, weil zur Herstellung dieser Güter zusätzliche Arbeitskräfte beschäftigt werden.
Sind die neuen Anlagen aber erst einmal installiert, führen Investitionen auch zur Ausweitung der Produktionskapazitäten. Eine ausschließlich von Investitionen getriebene Akkumulation ist langfristig nicht möglich, wie sehr sich dies Unternehmer, die Löhne ausschließlich als Kosten-, und nicht auch als Nachfragefaktor sehen, auch wünschen mögen.
Aus dem Dilemma, einerseits die Löhne zwecks Kostensenkung und Konkurrenzfähigkeit niedrig halten zu müssen, sich andererseits mit Investitionen aber langfristig Überkapazitäten einzuhandeln, bieten Rüstungsausgaben einen Ausweg. Das macht sie auch in der aktuellen Rezession interessant.
Aber auch diesen Ausweg gibt es nicht umsonst. Wer rüstet und die zur Rückzahlung der dafür aufgenommenen Kredite durch Krieg erwirtschaften will, muss zumindest gewinnen. Andernfalls droht der politische und wirtschaftliche Zusammenbruch – wie 1945 in Deutschland und Japan.
Aber auch die Gewinner handeln sich, im wahrsten Sinne des Wortes, langfristig Probleme ein. Nach 1945 haben die USA den Großteil der Militärausgaben des Westens übernommen. Sie haben dabei einen nie gesehenen Aufschwung erlebt. Die Verlierer Deutschland und Japan sind aber noch mehr aufgeschwungen. Für sie hat sich das »Auslagern« der Rüstung in die USA gerechnet. Ein halbes Jahrhundert später präsentiert Trump der Welt die Rechnung.

Ingo Schmidt ist marxistischer ­Ökonom und lebt in Kanada und Deutschland.

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