Pflegenotstand in der Altenpflege
von Daniel Kreutz
Schon in den 90er Jahren, als die gewerkschaftliche Organisierung in der Altenpflege noch deutlich marginaler war als heute, rebellierten Altenpflegekräfte mit selbstorganisierten Protestaktionen gegen den Pflegenotstand.
Seither gab es zahlreiche wissenschaftliche Studien, die die mangelhafte Personalausstattung der Pflegeeinrichtungen, die verbreitete Flucht von Pflegekräften vor schlechten Arbeitsbedingungen in Teilzeit und Berufsaufgabe sowie die übermäßige Belastung pflegender Angehöriger darlegten. Doch die Pflege ist gefangen in einem Teufelskreis von chronischer Unterfinanzierung, unzureichender Personalausstattung und schlechten Arbeitsbedingungen, der nicht leicht zu durchbrechen ist.
Der mit dem Pflegeversicherungsgesetz (1995) eröffnete Markt bringt die Beschäftigten von zwei Seiten unter Druck: Die großen Kostenträger (Pflegeversicherungen und kommunale Sozialhilfeträger, letztere unter dem Druck chronisch defizitärer Kommunalhaushalte) wollen die Kosten möglichst drücken, und die Träger der Einrichtungen wollen Renditen sehen.
Das sind keine moralischen Vorwürfe, sondern schlicht Marktüblichkeiten. Doch Pflege ist eine Beziehung zwischen Pflegenden und Gepflegten, und gute Pflege kann nur gelingen, wenn die Bedingungen für beide Seiten der Beziehung stimmen.
Eine bedeutende Ursache des seit vielen Jahren herrschenden Mangels an Pflegefachkräften (wir schrieben darüber schon in SoZ 6/2013) ist die übermäßige Teilzeitquote. Lag der Anteil der Teilzeitbeschäftigten in der Gesamtwirtschaft 2019 bei 29 Prozent (Frauen: 48 Prozent), waren es in der Altenpflege 65 Prozent (Frauen: 68 Prozent).
Oft werden Pflegestellen auch nur in Teilzeit ausgeschrieben. Dass zur Bewältigung eines gegebenen Arbeitsvolumens mit Teilzeitkräften erheblich mehr ausgebildete Kräfte benötigt werden als bei Vollzeit, liegt auf der Hand.
Wegen des Fachkräftemangels, letztlich eine Folge der chronischen Unterfinanzierung, kam es schon Jahre »vor Corona« zu regionalen Kapazitätsengpässen bei Pflegeangeboten. Zunehmend sind Leistungsansprüche an die Pflegeversicherung trotz Beitragszahlung nicht mehr einlösbar. Viele ambulante Dienste müssen Anfragen ablehnen, Heime können vorhandene Plätze nicht belegen.
Dabei spielt auch der hohe Krankenstand von Pflegekräften – eine Folge der belastenden Arbeitsbedingungen – eine Rolle; er erreichte 2023 ein neues Rekordniveau.
Um Lücken zu stopfen, entwickelte sich ein Leiharbeitsmarkt mit zehntausenden Fachkräften, der diesen günstigere (!) Arbeitsbedingungen bietet. Auch darunter leidet allerdings die Pflegequalität, denn personelle Kontinuität ist bedeutsam – vor allem für Demenzkranke. Auch die Wohlfahrtsverbände sehen mittlerweile die Versorgungssicherheit gefährdet.
Fast 40 Prozent der heute aktiven Pflegekräfte sind 50 plus, und es fehlt an Nachwuchs, der sie ersetzen kann, wenn sie in Rente gehen. Seit Einführung der »generalistischen« Pflegeausbildung (2020; Zusammenlegung der vormaligen Ausbildungsberufe der Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege) konkurrieren zudem Krankenhäuser und Altenpflegeeinrichtungen verstärkt um Fachkräfte, wobei die Krankenhäuser die Nase vorn haben.
Eine gute Personalausstattung ist Voraussetzung für eine substanzielle Verbesserung der Arbeitsbedingungen wie für eine gute Pflegequalität. Die positive Bewegung der vergangenen Jahre bei den Pflegelöhnen (was die Inflation davon übrig lässt, weiß ich nicht) reicht allein nicht, um Teilzeitkräfte zu Vollzeit zu machen, Berufsaussteiger:innen zur Rückkehr zu bewegen und die Altenpflege als Berufsperspektive hinreichend attraktiv zu machen, solange die Arbeitsbedingungen wegen Personalmangels eher abschrecken und dem Berufsethos widersprechen.
Entprofessionalisierung
Vor diesem Hintergrund ist eine Entprofessionalisierung der Pflege im Gange. Wurden 2009 knapp 54 Prozent der 2,3 Millionen Pflegebedürftigen von professioneller Pflege (ambulant oder stationär) erreicht, waren es 2021 nur noch gut 42 Prozent von rund 4,3 Millionen.
Dabei ist der Pflegegrad 1 (ohne Leistungsanspruch für professionelle Pflege und Betreuung) bereits herausgerechnet, um die Daten ab 2017, nach dem Umstieg von den drei Pflegestufen auf die fünf Pflegegrade, womit endlich auch körperlich fitte Demenzkranke einbezogen wurden, annähernd vergleichbar zu machen mit denen zuvor.
Auch jeder dritte schwerstpflegebedürftige Mensch (Pflegegrad 5) wird allein von Angehörigen auf Basis des Pflegegelds versorgt.
Auch die stetigen Steigerungen der privat zu tragenden Heimkosten und die Minderungen des von der Pflegekasse finanzierten ambulanten Leistungsumfangs tragen zu dieser Entwicklung bei. Insbesondere für Pflegehaushalte mit geringeren Einkommen hat die finanzielle Attraktivität einer häuslichen Versorgung mit Pflegegeld zugenommen.
Die Zeche zahlen vor allem Frauen in den Pflegefamilien, die zulasten ihrer eigenen Einkommen und sozialen Sicherung ihre Erwerbstätigkeit zugunsten der Pflege einschränken oder aufgeben müssen und sich teils durch Überlastung eigene Gesundheitsschäden einhandeln. Wohlhabende mit ausreichend großer Wohnung können sich dagegen häusliche Versorgung durch Frauen aus Osteuropa leisten, die oft unter entrechteten Bedingungen beschäftigt werden.
Pflegefachkräfte aus dem Ausland sind keine Lösung, selbst wenn dies nicht mit »brain drain« und der Verschiebung von Ausbildungskosten auf andere Länder verbunden wäre. Als Zielland für migrationswillige Pflegekräfte ist Deutschland unattraktiv.
Auch um die sozialen Grundlagen einer Tätigkeit in Deutschland – bezahlbares Wohnen und praktikable Mobilität – ist es nicht gut bestellt. Zudem müsste eine verlustfreie sprachliche Verständigung mit den Pflegebedürftigen gewährleistet sein.
Die Aussichten bleiben düster. Das Statistische Bundesamt geht von einem stetig weiter zunehmenden Mangel an Pflegefachkräften aus. Strukturelle Verbesserungen der Personalausstattung der Einrichtungen sowie der von der UN-Behindertenrechtskonvention geforderte Strukturwandel zugunsten einer durchgreifenden Stärkung der professionellen Versorgung in den eigenen vier Wänden sind dabei noch nicht berücksichtigt.
Zudem hat die Politik die »soziale« Pflegeversicherung mit milliardenschweren Belastungen während Corona und weiteren versicherungsfremden Ausgaben in eine Finanzkrise getrieben.
Notwendige – nicht hinreichende – Bedingung für einen tragfähigen Ausweg aus dem Pflegenotstand wäre eine bedarfsgerechte Finanzierung. Dazu müsste eine Pflegevollversicherung als paritätisch finanzierte Bürgerversicherung ohne Beitragsbemessungsgrenze, aber mit einem angemessenen strukturellen Bundeszuschuss geschaffen werden, die alle pflegebedingten Kosten trägt.
Zugleich müsste die Pflege (wie auch die Krankenhäuser) vom Markt befreit und als Non-Profit-Sektor in den Schutzbereich öffentlicher Daseinsvorsorge überführt werden, mit bedarfsgerechter öffentlicher Finanzierung von Investitionen, präventiven und pflegeergänzenden Angebote.
Eine Regierung, die dergleichen ins Werk setzen würde, ist indes außer Sicht. Denn dazu wäre – wie bei den enormen sozialökologischen Herausforderungen überhaupt – eine grundlegende Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit, privatisiertem Reichtum und öffentlicher Armut die entscheidende Voraussetzung.
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