Zurück in eine düstere Vergangenheit
von Ingar Solty
Demokratie, Bürgersinn, Liberalität und Sozialstaat werden nicht von äußeren Feinden bedroht, sondern von innen. Das liberale Establishment betreibt schon heute das Geschäft der extremen Rechten.
Die am 27.Februar 2022 ohne vorherige parlamentarische, geschweige denn breite gesellschaftliche Debatte von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verkündete »Zeitenwende« – schon der Form nach ein demokratiepolitischer Skandal – ist in der Tat eine Zeitenwende auch dem Inhalt nach. Sie wendet die Zeit, aber nicht in eine goldene Zukunft; sie dreht die Uhr zurück in die düstere deutsche Vergangenheit.
Bei der inneren Zeitenwende geht es zurück in eine Zeit der Soldatendenkmäler, damit eine »glückssüchtige Gesellschaft« (Joachim Gauck, damals Bundespräsident) wieder lerne, die im Kampf fürs Vaterland am Hindukush Gefallenen als Helden zu verehren. Es geht zurück in die Zeit der »Pflichtjahre«, mit der dieselben Leute, die im Rahmen der »Agenda 2010« und der Hartz-Gesetze einst Sprengsätze am sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft legten, heute wieder »Gemeinsinn stärken« wollen und vergessen, dass es das »Pflichtjahr« in der deutschen Geschichte schon einmal gab. Auch damals hatte es den Zweck, ideologisch zu kitten, was wirtschafts- und sozialpolitisch zerbrochen wurde.
Bei der inneren Zeitenwende geht es weiter um den Wiedereinbruch des Militärischen in die Schulen. Kinder sollen nach Ansicht von Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) im Sinne eines »unverkrampften Verhältnisses zur Bundeswehr« und für »unsere Widerstandsfähigkeit« zusammen mit Soldaten den Kriegsfall üben. Jugendoffiziere und Karriereberater der Bundeswehr werden auf die Schüler:innen losgelassen, um die allgemeinen Rekrutierungsprobleme der Truppe zu lösen. Mittlerweile ist jeder zehnte Rekrut minderjährig, ein rasanter Anstieg um 61 Prozent seit 2021. Das ist zweifellos ein Bruch der UN-Kinderrechtskonvention, und er findet auch im Freizeitbereich statt, etwa auf dem »Hessentag« 2024: Dort entstand am »Platz der Bundeswehr« ein ganz besonderer Abenteuerspielplatz, bei dem Kinder schon heute in Kampfflugzeuge klettern, Panzer bewundern und durch Zielvisiere von Gewehren blicken dürfen.
Aber klar, in Zeiten angespannter Arbeitsmärkte reicht die reine Wehrpflicht nicht mehr aus, um bis 2031 das erklärte Ziel eines 203.000 Soldaten starken Heeres zu erreichen. An die Stelle der »Bürger in Uniform« rückten schon während des Afghanistankriegs die »Prekarier in Uniform« und eine »Unterschichtenarmee« (Michael Wolffsohn). Ostdeutschland stellte damals zwar keine Generäle, aber fast zwei Drittel der Soldaten im Kriegseinsatz.
Neues Heldentum
Auch die angeworbenen EU-Ausländer sind bislang ausgeblieben, weil die südeuropäische Jugendarbeitslosigkeit eben nicht mehr 50 Prozent oder mehr beträgt wie noch vor einigen Jahren zu Eurokrisenzeiten. Hinzu kommt die Abbrecherquote bei der Grundausbildung. Sie ist eklatant hoch, weil die Realität beim Kommiss nun einmal herzlich wenig mit dem Bild zu tun hat, das die jährlich 35 Millionen verschlingende Armeewerbung an Straßenbahnen, Bushaltestellen und auf Youtube verspricht.
Übertroffen wird dies nur noch von den Anhängern der Grünen, die zwar stabil Waffen und Kriegsdienst für die Ukrainer u.a. fordern, aber von denen nach einer Forsa-Umfrage nur 9 Prozent bereit wären, Deutschland auch persönlich mit der Waffe zu verteidigen – so wenig wie die Anhänger keiner anderen Partei.
Die innere Zeitenwende bringt indes das Militärische nicht nur in die Schulen zurück, sondern auch an die Universitäten, wo Regierung und Opposition unter dem Jubel linksliberaler Medien gegen das verpflichtende Friedensgebot im Grundgesetz verstoßen und die Zivilklauseln aushebeln wollen, die bislang verboten haben, Forschung und Wissenschaft in den Dienst profitorientierter Rüstungskonzerne zu stellen. In Nordrhein-Westfalen ist das mit den Stimmen von CDU und FDP längst geschehen.
In Bayern beschloss der Landtag im Juli das »Gesetz zur Förderung der Bundeswehr«, das massiv in die Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre eingreift: Nicht nur Schulen sind seither verpflichtet, mit der Bundeswehr zu kooperieren. Das Gesetz verbietet sogar Zivilklauseln an Hochschulen und Universitäten und ermächtigt den Staat, im »Interesse der nationalen Sicherheit« die Institutionen der Wissenschaft zu einer Kooperation mit der Bundeswehr und zu Rüstungsforschung zu zwingen.
Das Böse und das Gute
Innere Zeitenwende meint auch die Rückkehr der Unterscheidung von »Gut« (wir, na klar!) und »Böse« (die anderen, was sonst?), von (westlicher) »Zivilisation« und (östlicher) »Barbarei«, bloß dass die Grenze weiter nach Osten verschoben wurde und die Barbarei heute nicht mehr schon an der Grenze zu Polen beginnt.
Es ist die Rückkehr der »Erbfeinde« (einst Frankreich, heute Russland und China) und der »Bürde des weißen Mannes« (Rudyard Kipling) zur Zivilisierung der Barbaren, die wieder am deutschen Wesen genesen sollen.
Die innere Zeitenwende ist die Rückkehr des ostentativen Unwillens, in geschichtlichen Kontexten und Kausalzusammenhängen zu denken und dabei auch die Perspektive der »Feinde« einzunehmen (um wenigstens der womöglich atomaren Kriegseskalation vorzubeugen); ja, es ist die Rückkehr der medialen Ächtung bis hin zur Unterstrafestellung des bloßen Versuchs, das zu tun.
Innere Zeitenwende bedeutet die Rückkehr der »vaterlandslosen Gesellen«, die heute schon wieder als »fünfte Kolonne« des Feindes bezeichnet und vom Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit mit Justiz und Polizeigewalt abgehalten werden, während den Feinden von außen Einreise- und Sprechverbote erteilt werden, wie für die renommierte Philosophin Nancy Fraser und den früheren griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis.
Der innere Feind ist wieder da
Innere Zeitenwende ist, wenn eine Wissenschaftsministerin massivste Polizeigewalt gegen friedlich protestierende Studentinnen und Studenten rechtfertigt.
Innere Zeitenwende ist, wenn ein autoritärer Liberalismus, statt den Dialog zu suchen, seine Kritiker und die, die bloß ihre Bürgerrechte wahrnehmen, pauschal unter den Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit stellt und jede Kritik an der herrschenden Politik in den Ruch feindlichen Agententums und Hochverrats rückt. Wenn der Bundestag über Nacht Gesetze erlässt, die in erheblichem Maße die Freiheit und den Fortschritt der wissenschaftlichen Forschung einschränken und durch Kriminalisierung Gesinnungskonformismus produzieren.
Innere Zeitenwende ist, wenn das Bundesbildungsministerium Listen von Wissenschaftlern führt, die die Unterstützung der Kriegsverbrechen einer rechtsextremen Regierung in Israel durch die Bundesregierung kritisieren und wenn diese Regierung Pläne ausheckt, den unliebsamen Kritikern die Fördermittel zu streichen.
Längst gelten wieder Berufsverbote für die »inneren Feinde«, die man durch Gesinnungsprüfungen vom öffentlichen Dienst fernhält, wie beim neuen »Radikalenerlass« in Brandenburg.
Migranten sollen, sofern sie sich nicht zur »freiheitlich-demokratischen Grundordnung« und zur bedingungslosen Unterstützung des israelischen Staates bekennen, nicht nur keine Staatsbürgerschaft erhalten, wie dies der Bundestag Anfang 2024 mit den Stimmen der Ampel beschlossen hat, man will sie ihnen sogar bis zu zehn Jahre rückwirkend entziehen.
Dass dieselben Akteure dann wenig später – nach Bekanntwerden der sog. »Wannseekonferenz 2.0« der AfD – vor den Vertreibungsplänen von Rechtsaußen warnten, bekam dadurch ein Geschmäckle. Der Entzug der Staatsbürgerschaft war schließlich das Mittel der Nazis gewesen, ihre Gegner zu vertreiben.
Die Empörung über die »Remigrations«träume der AfD wurde noch unglaubwürdiger dadurch, dass nur wenige Wochen zuvor die Ampelkoalition das europäische Asylrecht geschliffen und Scholz im Rahmen der vom Spiegel begrüßten »neuen Härte in der Flüchtlingspolitik« »Abschiebungen im großen Stil« gefordert hatte.
Die innere Zeitenwende beinhaltet weiter die Schaffung eines inneren Kollektivs mit nationalen Mythen und einer »Leitkultur«, die ein in sozialer Ungleichheit auseinanderlaufendes Land zusammenhalten sollen, sowie eine allgemeine Renationalisierung und Militarisierung der Sprache und Beförderung emotionaler Verhärtung.
Bleibt es bei diesem Tempo, dürfte im Rahmen von Initiativen wie dem von CDU und CSU geforderten »Bundesprogramm für Patriotismus« unweigerlich auch der »Sedan-Tag« fröhliche Urständ feiern, mit dem man im Kaiserreich den Sieg über den damaligen Erbfeind feierte.
Waffen, Helden und das Militär
Das liberale Bürgertum will Krieg
Die »innere Zeitwende« rehabilitiert in einer Weise Begriffe, Sprache, Politikstile und Mittel der nationalistischen und autoritären Rechten des späten 19. und frühen 20.Jahrhunderts, für die es einer AfD gar nicht bedarf.
Zurück ist die »nationale Sicherheit«, in deren Namen internationales (Investitions- und Handels-)Recht und das Völkerrecht, auf das man sich sonst gelegentlich beruft, gebrochen wird. Wieder da sind »Staatsräson«, »Autarkie« (das heißt heute »De-Risking«), Hochrüstung und die Aufforderung zur »Kriegstüchtigkeit«, denn sonst steht, na klar, »in fünf bis acht Jahren« der Russe bei dir im Keller. Wieder wird vor »Kriegsmüdigkeit« im Volk gewarnt, finden öffentliche Gelöbnisse und Militärparaden vor Landesparlamenten statt.
Schüler, die aus Protest gegen Anwerbeversuche der Bundeswehr ein von der Schülerschaft getragenes »Die-in« veranstalten, sollen wegen »Störung des Schulfriedens« von der Schule verwiesen werden – so geschehen an der Humboldt-Schule in Leipzig.
Die »neue Lust auf Helden« bezeichnet die Rückkehr des »heroischen Denkens«, das über den Stellungs- und Abnutzungskrieg in der Ukraine wie ehemals in Verdun im Ersten Weltkrieg sagt: »Das Gemetzel ist notwendig«. Entstanden ist ein neuer Gewaltkult, der nach innen nie zuvor gesehene Ausmaße der Gewalt von Jugendlichen mit Silvesterböllern beklagt, während er nach außen selbst nur noch die Sprache der Gewalt vorlebt und ausschließlich die Logik des Militärischen, aber keine Sprache der Deeskalation mehr kennt.
Auf einmal ist eine politische Kultur des »Wer nicht hören will, muss fühlen« wieder da, deren Losung »Waffen, Waffen und nochmals Waffen« lautet und in der liberale Journalisten und ein grüner Wirtschaftsminister wie einst die Pimpfe vom Deutschen Jungvolk für die technischen Daten der allerneuesten Waffensysteme der Rüstungskonzerne schwärmen. Das alles kehrt in Worten und Taten des »liberalen« Bürgertums zurück, dafür braucht es keine Nazis.
Die Muster der Vergangenheit
Es braucht sie nicht, um »Veteranentag« und Heldendenkmäler für Gefallene einzuführen oder die »Wehrkunde im Schulunterricht«. Oder um Holocaust-Mittäter wie Stepan Bandera zu Freiheitskämpfern umzudeklarieren. Und es bedurfte auch keiner Faschisten für den beispiellosen Geschichtsrevisionismus und die monströse Holocaust-Relativierung, die Wladimir Putin mit Hitler und den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands in der Ukraine mit dem Vernichtungskrieg Nazideutschlands im Osten gleichsetzt. Dessen Ziel war im Rahmen des »Generalplans Ost« bekanntlich die Versklavung der Ostvölker und Vernichtung ihrer gesamten gesellschaftlichen Elite.
Wenigstens 30 Millionen Menschen kamen durch systematische Massaker an Unbewaffneten und systematisches Verhungern lassen (etwa während der Blockade von Leningrad mit mehr als einer Million Ziviltoten) ums Leben. Aus diesem Plan ergab sich auch der Plan zur systematischen Ermordung des europäischen Judentums.
Liberale lieben es, auf X vom »Putler« zu sprechen, und Berthold Kohler, ein FAZ-Herausgeber, benutzte noch vor Bekanntwerden des russischen Kriegsverbrechens von Butscha den Begriff »Vernichtungskrieg« für den Ukrainekrieg. Nach UN-Angaben bezahlten diesen in mehr als zweieinhalb Jahren mindestens 11.743 Zivilisten mit dem Leben. Kohler aber setzte ihn gleich mit dem »Russlandfeldzug« der Nazis, der in weniger als vier Jahren 27 Millionen Sowjetbürger:innen aus der Ukraine, Belarus und Russland tötete, etwa die Hälfte davon Zivilist:innen.
Das Europäische Parlament gab schon vor vier Jahren mit den Stimmen der Liberalen und im Geist der NPD und des Geschichtsrevisionismus von Ernst Nolte der Sowjetunion die (Mit-)Schuld für den Zweiten Weltkrieg, während die Taz und die Münchner Grüne Jugend Höckes »erinnerungspolitische Wende um 180 Grad« gleich in Eigenregie vollzogen, als die Berliner Tageszeitung unter dem Titel »Putin ist der neue Stalin« ihrer grün-alternativen Leserschaft erklärte, »die tatsächliche Geschichte des Zweiten Weltkrieges« sei, »dass Stalin diesen Krieg geplant hatte … lange bevor Hitler an die Macht kam«. Die Grüne Jugend erklärte das »Unternehmen Barbarossa« zum Höhepunkt der »Siedlungseroberung« eines russischen »Kolonialstaats« und erteilte damit den Nazis und ihrer für sich reklamierten »europäischen Sendung« zur Befreiung der »Ostvölker« rückwirkend Legitimation.
Im übrigen bedarf es auch für einen antifeministischen Rollback keiner rechtsextremen Incel- und »Männerbewegung«. Als Björn Höcke vor acht Jahren bei Pegida in Dresden eine unverweichlichte »Männlichkeit« als Voraussetzung von »Wehrhaftigkeit« forderte, wurde er als ewiggestrig gescholten. Im Zuge der inneren Zeitenwende kommen dieselben Forderungen aus der sog. bürgerlichen Mitte, wenn z.B. der Literaturwissenschaftler, SZ-Redakteur und Theodor-Wolff-Preisträger Tobias Haberl (»Der gekränkte Mann«) im Spiegel aufklärt, der »deutsche Großstadtmann«, der »kochen kann«, sei mit seinen »gepunkteten Socken« »zu weich für die neue Wirklichkeit«, weswegen ein Zurück zur »nötigen Härte« und der »Streitkultur seiner Väter« fällig sei, denen regelmäßig die Hand ausrutschte, weil sie eben noch wussten, dass sich »nicht jedes Problem wegdiskutieren lässt«.
Es sind Liberale, für die es zur neuen Normalität gehört, ihre Gegner wie Kritiker von (einseitigen) Waffenlieferungen als »Lumpenpazifisten«, »gewissenlose« »Unterwerfungspazifisten«, »Friedensschwurbler«, »Putins willige Helfer« oder gleich als »Totengräberinnen der Ukraine« und »Secondhand-Kriegsverbrecher« zu bezeichnen.
Es sind Liberale, die jetzt schon für die Zeit nach dem Ukrainekrieg rüsten und fordern, der »Pazifismus darf nicht wieder auferstehen«. Es war die liberale Zeit, die am 80.Jahrestag der »Wollt ihr den totalen Krieg?«-Rede von Joseph Goebbels das Interview einer linken Liberalen, Eva Illouz, betitelte mit: »Ich wünsche mir einen totalen Sieg«, um diese dann ausführen zu lassen, dass sie sich diesen »totalen und vernichtenden Sieg für die Ukraine« wünsche, »weil die Russen täglich Verbrechen gegen die Menschlichkeit verüben, die nicht ungesühnt bleiben dürfen«, und »weil Putin die ideellen Werte Europas bedroht«.
Kurz, für all das braucht es keine extreme Rechte. Dieselben Leute, die heute die Konservativen davor warnen, als Lehre aus der Geschichte von 1933 ja nicht die »Brandmauer« einzureißen, während sie, wie Ursula von der Leyen, in Europa die »Postfaschistin« Meloni küssen und liebedienerisch auf den Wahlsieg von Donald Trump reagieren, bemerken gar nicht den Flammenwerfer in der eigenen Hand, mit dem sie das Land längst angezündet haben.
Liberaler Extremismus
Dabei muss auffallen, dass es eben nicht nur ewiggestrige Konservative von der »Stahlhelm-Fraktion« sind, sondern gerade der »linke« Flügel des Bürgertums, der sich in Sachen innere Zeitenwende besonders ins Zeug legt.
Sicher: Es war der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Thorsten Frei, der es als ein »starkes Signal« lobte, dass die CDU-geführte Landesregierung in Sachsen dem dänischen Vorbild folgen wollte, zur Finanzierung der Aufrüstung einen Feiertag zu opfern und die Beschäftigten einen Tag mehr arbeiten zu lassen.
Es war der CDU-Außenpolitiker im Bundestag, Roderich Kiesewetter, der angesichts der wachsenden Kriegsmüdigkeit in der Ukraine forderte, den 200.000 »kriegsverwendungsfähigen« ukrainischen Männern in Deutschland das »Bürgergeld« zu streichen und dem ukrainischen Staat »bei der Erfassung und Zustellung von [Wehrdienst-]Bescheiden [zu] helfen«.
Es war wiederum Kiesewetter, der im Februar 2024 forderte, dass der »Krieg nach Russland getragen werden« müsse und man »alles tun« sollte, dort nicht nur »russische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere« oder »Ölraffinerien«, sondern auch »Ministerien« »zu zerstören«.
Und es war der CDU-Bundeskanzler in spe, Friedrich Merz, der schon unmittelbar nach Kriegsbeginn seine Bereitschaft erklärte, deutsche Truppen in einen Krieg mit der Atommacht Russland zu führen und der für den Fall seines Wahlsiegs der Ukraine »Taurus«-Mittelstreckenraketen versprochen hat, die von Bundeswehrsoldaten gelenkt werden müssten und in kurzer Zeit Moskau und St.Petersburg treffen könnten.
Dennoch: Der liberale Extremismus, der sich dadurch auszeichnet, dass er keine Rücksicht auf reale Gegebenheiten, Risiken und realistische Ziele nimmt, sondern in seinem auf selbstgerechtem Moralismus fußenden Fanatismus gegen den »Totalitarismus« selber totalitäre Züge an den Tag legt und keine Mittelbeschränkung zur Erreichung seiner Ziele erkennen lässt, ist kein Alleinstellungsmerkmal von Konservativen.
Im Gegenteil, er ist der Wesenskern insbesondere der Außenpolitik der Grünen, wo seine Ursprünge letztlich in einem bis heute ungebrochenen Avantgardismus der Ex-Maoisten und ihrer Zöglinge zu finden sind. Er richtet sich längst gegen China, und sein Transatlantizismus reicht soweit, dass der von den letzten entspannungspolitischen Sozialdemokraten erwartete »Gang nach Canossa« bei der Entschuldigung für die Absage an George W. Bushs völkerrechtswidrigen Krieg im Irak endet, obwohl dieser nicht nur eine Million Tote forderte, sondern eine ganze Region destabilisierte und den »Islamischen Staat« hervorbrachte.
Es sind die einst aus der Friedensbewegung hervorgegangenen Grünen, die für die Europawahl 2024 ihre Corporate-Identity-Farbe auf die Strich-Tarn-Optik des Militärs umstellten und den seit 2015 von der Bundeswehr genutzten Rekrutierungsslogan »Mach, was wirklich zählt!« kopierten: »Machen, was zählt!« Es ist ein sozialdemokratischer »Verteidigungs«minister, der Deutschland bis 2029 »kriegstüchtig« machen will und pauschal weitere 100, 200, 300 Milliarden Euro für die Bundeswehr fordert – bei gleichzeitigen Kürzungen im Sozial- und Kulturhaushalt und an der maroden Infrastruktur.
Operationsplan Deutschland
Kiesewetter war bloß das Echo von Scholz, der Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestags Eva Högl und Pistorius. Und es war Pistorius, der 2023 trotz der dramatisch gestiegenen Preise für Mieten, Energie, Lebensmittel usw. die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst zu Lohnzurückhaltung aufforderte, weil ein akzeptabler Tarifabschluss gegen die laufende Verarmung breiter Bevölkerungsteile ein »Risiko für Deutschlands Sicherheit« sei.
Die in dieser Zeit von der FDP vorgelegten Pläne für eine Einschränkung des Streikrechts im Bereich »kritische Infrastruktur« – »Bahn, Flugverkehr, Pflege, Kitas und Feuerwehr« – fanden dafür bei keiner Partei so viel Unterstützung wie bei den Grünen, deren Spitzenpolitiker vor »Lohndruck im öffentlichen Dienst« warnten.
Es ist eine sozialdemokratisch geführte Regierung, die 2024 im Namen eines »sichtbare(n) Wille(ns) zur Verteidigung der Bündnispartner und einer glaubwürdigen Abschreckung zum Erhalt von Freiheit und Frieden« den »Operationsplan Deutschland« – ein »geheimes Dokument« – entwickelt hat, dessen erklärtes Ziel es ist, »Deutschland und seine Bevölkerung … wehrhafter und resilienter« zu machen und dafür »Bund, Länder und Kommunen, [die] sogenannten Blaulichtorganisationen und [die] Wirtschaft den militärischen Anteil einer gesamtstaatlichen Verteidigungsplanung« entwickeln zu lassen.
So würden »die zentralen militärischen Anteile der Landes- und Bündnisverteidigung in Deutschland mit den dafür erforderlichen zivilen Unterstützungsleistungen in einem operativ ausführbaren Plan zusammen(geführt)«, der dann »die schnelle Handlungsfähigkeit über alle Ressort- und Ländergrenzen hinweg« erlaube.
Es ist ein sozialdemokratisch geführtes Gesundheitsministerium, das im Namen der »Kriegstüchtigkeit« und einer angestrebten »Zeitenwende für das Gesundheitssystem« (Karl Lauterbach) die Gesellschaft nach innen auf Krieg einstellt – etwa, wenn Deutsches Rotes Kreuz, Technisches Hilfswerk und andere Institutionen des Zivil- und Katastrophenschutzes systematisch auf einen kommenden Krieg vorbereitet werden, ukrainische Kriegsverletzte gezielt und überwiegend nicht in Bundeswehr-, sondern in zivilen Krankenhäusern behandelt werden. Denn, so heißt es von Militärärzten, »zivile Kliniken in Deutschland müssen auch Kriegschirurgie können«.
Vor »Kriegsmüdigkeit« wiederum warnte eine grüne Außenministerin, die sich zu Karneval gerne als »Leopard«-Panzer verkleidet hätte und sich im Ergebnis eines tief blicken lassenden Freudschen Versprechers längst »im Krieg mit Russland« sieht. Es war der grüne Wirtschaftsminister, der bei Maybrit Illner über die Panzerhaubitze 2000 ins Schwärmen geriet: »Die kann richtig was!«
Und die Forderung »Waffen, Waffen und nochmals Waffen« stammt ebenfalls von einem grünen Bundespolitiker, in diesem Fall Anton Hofreiter, der auch systematisches Aushungern wieder zum Prinzip deutscher Machtpolitik machen will.
Als Beispiel für eine von ihm markig geforderte Außenpolitik, die endlich wieder »mit dem Colt auf dem Tisch verhandel(t)«, schlug er im Dezember 2022 im Interview mit der Berliner Zeitung vor, mit der europäischen Kornkammer Ukraine am Wickel zukünftig 1,4 Milliarden Chinesen offen den Hungertod anzudrohen – denn womöglich »wagt« es mal wieder einer von ihnen, uns Deutsche »scheel anzusehen«: »Wenn uns ein Land Seltene Erden vorenthalten würde, könnten wir entgegnen: ›Was wollt ihr eigentlich essen?‹«
Rechts wirkt – auch bei den Grünen
Das linksliberale Bürgertum korrigiert heute öffentlichkeitswirksam seine Geisteshaltung und beweist durch symbolische Gelübde seine Loyalität zum Vaterland, als wäre noch einmal August 1914. Die Liste derer, die es für nötig hielten, symbolisch ihre Wehrdienstverweigerung zurückzuziehen und den Fahneneid auf die Nation in Waffen zu schwören, ist lang.
Sie reicht von Scholz und dem »grünalternativen« Wirtschaftsminister Robert Habeck über gealterte Intellektuelle, Journalisten und Schriftsteller wie Ralf Bönt (»Das entehrte Geschlecht«), Stern-Redakteur Thomas Krause und Taz-Redakteur Tobias Rapp bis zu anderen Personen des öffentlichen Lebens wie dem evangelischen Bischof Ernst-Wilhelm Gohl, dem Komiker Wigald Boning und dem »ewigen Hofnarr« Campino von der bekannten Schlagerband Die Toten Hosen.
Vor diesem Hintergrund war es nur folgerichtig, dass Rapp als ehemaliger Redakteur und bis heute Mitherausgeber der »linksradikalen« Jungle World jüngst im Spiegel den »Veteranentag« als einen »großen Schritt weg von alten Lebenslügen« begrüßte: »Eine Gesellschaft« könne nun »sagen: Wir können die Last nicht von euren Schultern nehmen, die da heißt, gekämpft und möglicherweise getötet zu haben. Aber wir können euch einmal im Jahr eine Bühne geben und an diese Last erinnern. Es war nicht sinnlos.«
Es war Theodor W. Adorno, der darüber nachdachte, dass die Angst vor der extremen Rechten mindestens genauso begründet ist, wie die vor der rechten Radikalisierung der »Mitte«, vor der Rückkehr des Nationalistischen, Autoritären und Faschistischen in der Sprache der Demokratie. Wer heute glaubt, die Rechte am besten mit ihren eigenen Waffen schlagen zu können, ihre Migrationspolitik, ihren Kulturkampf und ihre Begriffe und Politikmittel aus dem »Zeitalter der Katastrophen« (Eric Hobsbawm) zu übernehmen, der betreibt ihr eigentliches Geschäft.
Kurzfristig mögen die Umfragewerte und Wahlergebnisse der AfD in Folge der Skandalisierung der Machenschaften einiger Spitzenkandidaten und der bremsenden Wirkung des BSW heruntergehen. Langfristig mag man sich in der AfD zurücklehnen, weil man weiß: »Rechts wirkt«. Das Land rast mit atemberaubendem Tempo in eine rechte Vergangenheit; aber im Führerstand stehen nicht Björn Höcke und Maximilian Krah, sondern die liberalen Eliten selbst.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.
Kommentare als RSS Feed abonnieren