Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2025

Die drohende Militarisierung des Gesundheitswesens
Gespräch mit Bernhard Winter

»Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein«, erklärte »Verteidigungs«minister Boris Pistorius letztes Jahr im Bundestag, beunruhigend konkret. Karl Lauterbach, der Gesundheitsminister, zog sofort nach. »Wir müssen uns auch für große Katastrophen und eventuelle militärische Konflikte besser aufstellen«, sagte er und forderte »klare Zuständigkeiten, etwa für die Verteilung einer hohen Zahl an Verletzten auf die Kliniken in Deutschland«.

In den Planspielen von Bundeswehr und NATO spielte das deutsche Gesundheitswesen immer schon eine bedeutende Rolle. Nun werden die Vorbereitungen für den Kriegsfall konkreter. Organisationen wie Ärztinnen und Ärzte zur Verhütung eines Atomkriegs (IPPNW) oder der Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdää*) fordern stattdessen Frieden, Deeskalation und Abrüstung.
Bernhard Winter ist seit vielen Jahren Vorstandsmitglied des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte und beschäftigt sich insbesondere mit der ambulanten Versorgung und der Militarisierung des Gesundheitswesens. Mit ihm sprach Matthias Becker.

Was würde ein Krieg für das Gesundheitswesen bedeuten?

Das vorherrschende Szenario geht davon aus, dass die Ostflanke der NATO von Russland angegriffen wird. Die Bundesrepublik soll dann als Drehscheibe dienen, über die etwa 750.000 Soldaten an die Front gebracht werden sollen. Andererseits müssten ungefähr eintausend Verwundete pro Tag zurückgeholt und medizinisch behandelt werden, davon 300 Beatmete. Diese Zahlen wurden angeblich aus den Erfahrungen im Ukrainekrieg abgeleitet. Ob sie realistisch sind, lässt sich kaum beurteilen.

Auf dem letzten Chirurgie-Kongress in Leipzig hieß es, es seien viele Schuss- und Explosionsverletzungen zu erwarten. Diese Verwundeten müssten in erster Linie in zivilen Krankenhäusern behandelt werden, weil die Bundeswehrkrankenhäuser insgesamt nur 1850 Betten zur Verfügung haben. Dietmar Pennig, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU), glaubt, die Kapazität wäre innerhalb von 48 Stunden ausgeschöpft.

Das ist durchaus möglich. Im erwähnten Szenario wären zehntausend Akutbetten notwendig. Zweitausend stehen in den berufsgenossenschaftlichen Krankenhäusern, die schon lange eng mit der Bundeswehr zusammenarbeiten. Sie haben z.B. umfängliche Kooperationsverträge, die auch kriegsrelevante Fortbildungen organisieren, Die Bundeswehr erwartet, dass noch einmal zweitausend Betten von den Unikliniken gestellt werden. Dann blieben immer noch viertausend Verwundete, die in normalen Krankenhäusern untergebracht werden müssten.
Weil die Krise der stationären Versorgung unübersehbar ist, wenden sich übrigens auch Vertreter der Bundeswehr gegen die Kommerzialisierung und Profitorientierung der Krankenhäuser. Sie müssten der Daseinsfürsorge dienen, argumentieren sie. Die Bundeswehr will allerdings dann auch bei der Krankenhausbedarfsplanung mitreden. Krankenhausbetten sollen nämlich in der Nähe von krankentransportfähigen Bahnhöfen stehen, damit sie von der Front schnell zu erreichen sind.

Wie sehen das die Beschäftigten im Gesundheitswesen?

In den militärischen Veröffentlichungen ist viel die Rede von der skeptischen bis ablehnenden Haltung großer Teile der Bevölkerung zum Militär. Zivile und militärische Akteure fordern daher ein »mindset« gerade auch der im Gesundheitswesen Beschäftigten. Nach 75 Jahren Frieden müssten die Menschen sich wieder an den Gedanken gewöhnen, dass kriegerische Maßnahmen notwendig und normal seien. Zynischerweise wird Krieg als Normalfall dargestellt und der Friedenswunsch als Luxushaltung denunziert. Das ist sozusagen der ideologische Frontverlauf.
In den 80er Jahren gab es heftige Auseinandersetzungen um ein Gesetz, das unter anderem verpflichtende Fortbildungen in Kriegsmedizin vorsah. So sollten die medizinisch Tätigen bspw. die Triage einüben [Priorisierung nach Schweregrad der Verletzung und Aussicht auf erfolgreiche Behandlung]. Die Friedensbewegung und auch viele im Gesundheitswesen Beschäftigte protestierten dagegen.
Damals war unsere Parole »Wir werden euch nicht helfen können!« sehr wirksam, sie verdeutlichte der Bevölkerung, dass ein wirksamer Schutz im Fall eines Atomkriegs unmöglich ist. Es bestand damals die Gefahr, dass die Regierung Zugriff auf das Gesundheitspersonal bekommen hätte, um es unter militärischen Gesichtspunkten einzusetzen. Dieses Gesundheitssicherungsgesetz scheiterte aber.

Anfang Januar sagte der Kommandeur des Landeskommandos Baden-Württemberg, Michael Giss, in einem Zeitungsinterview, die Bevölkerung müsse darauf vorbereitet werden, dass in den Krankenhäusern »der schwer verwundete Soldat zuerst behandelt wird, der Blinddarmpatient später«.

Die Bundeswehr bemüht sich aktuell verstärkt darum, die Meinungsbildung in der Ärzteschaft und allgemein beim medizinischen Personal zu beeinflussen, bspw. mit öffentlichen Veranstaltungen, Symposien und Kooperationen mit Landesärztekammern, Berufsverbänden oder Rettungsdiensten. Im Hintergrund geht es erneut um den Zugriff auf die Beschäftigten im zivilen Gesundheitssektor.
Die letzten NATO-Manöver haben gezeigt, dass für die Drehscheibe nach vorne Logistiker notwendig sind. Das Militär kann die Transporte nicht allein durchführen. Deshalb soll es möglich werden, dass auch Beschäftigte im Transportsektor dienstverpflichtet werden. Die Drehscheibe zurück muss verletzte Soldaten, aber auch geflohene Zivilisten transportieren.
Gesundheitsminister Lauterbach hatte eigentlich ein neues Gesundheitssicherstellungsgesetz angekündigt, als Vorbereitung auf Katastrophen und militärische Konflikte, das Regeln für den Kriegsfall enthalten hätte. Durch das Ende der Ampelregierung hat sich das vorerst erledigt.

Wird die nächste Bundesregierung das wieder versuchen?

Mit Sicherheit, egal, welche Parteien die Regierung stellen werden! Die Grenze zwischen dem zivilen Gesundheitswesen und dem Militär wird aber auch abseits dieses Bundesgesetzes verwischt. Schon 2008 wurde das Rote Kreuz im Kriegsfall dem Sanitätswesen der Bundeswehr unterstellt. Ich bezweifle, ob vielen Krankenschwestern beim DRK bewusst ist, dass sie im Kriegsfall militärischen Strukturen unterstehen. Die Leitungen der Malteser und der Johanniter drängen darauf, ebenfalls so eingebunden zu werden, weil sie sich davon materielle Vorteile versprechen.

Seit 2023 gibt es eine Nationale Sicherheitsstrategie mit einem »integriertem Sicherheitsansatz«. Darin werden folgende Ereignisse aufgeführt: »Umwelt- und Naturkatastrophen, chemische und nukleare Unfälle, Epidemien und Pandemien, Terrorismus und militärische Konflikte«. Ist der vdää* dagegen, sich auf solche Ereignisse vorzubereiten? Dass sie eintreten werden, ist schließlich nicht unrealistisch.

Natürlich muss sich das Versorgungssystem nach den Erfahrungen mit Covid 19 auf kommende Pandemien vorbereiten, keine Frage, auch auf Umweltkatastrophen und Anschläge. Wir haben nichts dagegen, dass die Einrichtungen das Verhalten in solchen Situationen üben. Medizin im Krieg ist aber etwas gänzlich anderes. In der Medizin lautet die Leitfrage: Was nützt dem Patienten im Moment am meisten? Kriegsmedizin dient dazu, verwundete Soldaten möglichst schnell wieder fit zu machen und zurück an die Front zu schicken. Dies gilt gerade für die Armeen reicher Länder mit großen medizinischen Kapazitäten und hochqualifizierten Militärs.

Ihr kritisiert auch die verstärkte Kooperation ziviler und militärischer Einrichtungen – warum?

Ein Krankenhaus anzugreifen, gilt völkerrechtlich immer als Kriegsverbrechen. Die Realität ist eine andere: Medizinische Einrichtungen werden immer häufiger zum militärischen Ziel. Wenn wir Ziviles und Militärisches vermengen, ist es auch für einen militärischen Gegner kaum möglich, beides auseinander zu halten.

In den 80er Jahren gelang es der Friedensbewegung, den Einfluss des Militärs auf die Medizin zurückzudrängen. Die politischen Verhältnisse haben sich seitdem stark verändert. Wird es Widerstand geben, wenn die nächste Regierung mit einem neuen Gesundheitssicherstellungsgesetz das medizinische Personal im Kriegsfall der Bundeswehr unterstellt?

Sicher wird es Auseinandersetzungen und Proteste geben, wenn auch vielleicht nicht so starke wie damals. Unser Verein bekommt zunehmend Anfragen zu diesem Thema. Die Situation ist nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine ja auch nicht dieselbe. Junge Leute waren von der drohenden Kriegsgefahr überfordert. Nun beginnen sie allmählich, sich damit auseinanderzusetzen, die Passivität zu überwinden und auch über Ängste zu reden.

Die »Rahmenrichtlinie Gesamtverteidigung« von 2023 erwähnt auch »temporäre Behandlungseinrichtungen« für den Fall, dass chemische, biologische, radiologische oder nukleare Kampfstoffe eingesetzt werden.

Das scheint ein wichtiger Punkt zu sein. In den 80er Jahren spielte die Gefahr eines Atomkriegs ein wichtige, mobilisierende Rolle. Diese Gefahr besteht immer noch, aber sie spielt in der Debatte fast keine Rolle mehr. Aber warum sollte eigentlich der Krieg an der sog. Ostflanke nur mit Panzern ausgetragen werden? Im Moment gelingt es der Regierung und dem Militär, diese Frage zu unterdrücken.

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