Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2025


Warum liberale Demokraten rechtsextreme Forderungen übernehmen
Interview mit Agnieszka Holland

Der polnische Regierungschef ­Donald Tusk ist der erste Regierungschef in der EU, der offen die Abschaffung des Asylrechts gefordert hat. Darin geht er weiter als sein Amtsvorgänger Kaczynski.
Das polnische Onlineportal Oko.press hat am 6.Oktober 2024 die polnische Regisseurin und Filmautorin Agnieszka Holland zu dem Thema interviewt. Für ihren jüngsten Film, Green Border, hatte Holland beim Filmfestival von Gdynia den Goldenen Löwen bekommen.

Die Auszeichnung mit dem Goldene Löwen hat einen bitteren Beigeschmack: Der Regierungskoalition um den Liberalen Donald Tusk ist es nicht nur nicht gelungen, die Pushbacks abzuschaffen, die Sie in Ihrem Film in allen drastischen Details darstellen. Sie hat auch mit Unterstützung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ein umstrittenes Gesetz erlassen, das die Sicherheitskräfte von der Haftung für den unsachgemäßen Gebrauch von Waffen an der Grenze befreit.

Der Begriff »umstrittenes Gesetz« ist ein Euphemismus, für mich schafft es einen Präzedenzfall. Eine solche Regelung ist bisher in keinem Land der EU eingeführt worden, obwohl sie in der Praxis bereits geduldet wird. Verschiedene nationale Grenzschützer töten de facto Flüchtlinge oder Einwanderer, aber niemand hat dies bisher legalisiert. Da bildet die Regierung Tusk sozusagen die Vorhut.
Gleichzeitig wirft die Bürgerkoalition (KO) der PiS vor, im Rahmen des Skandals um die Visaerteilung 300.000 Migranten aus Afrika und Asien nach Polen gelassen zu haben. Warum übernimmt die liberale Regierung die Rhetorik der Rechten?
Heutzutage wird die Migration für alle Probleme der Demokratie verantwortlich gemacht. Die Politiker denken weder über ihre Ursachen nach noch darüber, wie sie die europäischen Gesellschaften weniger belasten können. Es wird nichts getan, um der Migrationskrise auf eine Weise zu begegnen, die mit den elementaren Menschenrechten vereinbar ist.
Stattdessen wird die Figur des Feindes – des Fremden, der uns bedroht – konstruiert. Und das ist sehr wirkungsvoll. Denn damit lassen sich alle gesellschaftlichen Ängste auf einen Nenner bringen: Migranten sind schuld an unseren Problemen, die gegenwärtigen wie die zukünftigen.
Die Figur des Sündenbocks ist so alt wie die Welt, aber es waren die Totalitarismen des 20.Jahrhunderts, die diese Idee zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausweiteten. Die Erfahrung des Holocausts hat Europa eine Zeit lang geimpft, aber der Impfstoff wirkt nicht mehr.

Es ist nicht das erste Mal, dass Sie Ihre Enttäuschung über die Politik von Donald Tusk zum Ausdruck bringen.

Enttäuschung? Ich empfinde Bestürzung. Ich habe nicht erwartet, dass Tusk sich idealistisch für Flüchtlinge einsetzt. Schon während der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 hat er in seiner Eigenschaft als Präsident des Europäischen Rats mit dem türkischen Präsidenten Erdogan ein Abkommen zur Auslagerung des Problems ausgehandelt.

Dann verkündete Tusk, dass »die Tage der illegalen Einwanderung nach Europa vorbei« seien. Hatte er Unrecht?

Das Abkommen hat bis zu einem gewissen Grad gewirkt, was die Türkei betrifft, spätere Abkommen nach diesem Vorbild mit gescheiterten Staaten wie Libyen oder Diktaturen wie Tunesien haben nicht funktioniert. Das heißt, sie haben so gewirkt, dass die Menschen doppelt gelitten haben.
Auf jeden Fall war Tusk nicht mit Angela Merkels herzlichem Reflex einverstanden, Deutschland für Migranten zu öffnen, auf diese Art von Empathie kann man in Zukunft nicht zählen. Im Wahlkampf 2023 hat er natürlich anders gesprochen als jetzt. In diesem Sinne ist er eine Enttäuschung.

Der Film Grüne Grenze wurde sowohl als Spielfilm als auch als politisches Plädoyer für eine Änderung der Migrationspolitik verstanden. Das hat aber nicht funktioniert.

Grüne Grenze ist für mich mehr als ein Film. Wir haben versucht, ihn so ausgewogen und fair wie möglich zu gestalten und vor allem eine menschliche Perspektive einzunehmen.
Ich habe keine revolutionäre Veränderung erwartet, aber ich dachte, es werde eine Lockerung der Regeln geben, zumindest für Menschen aus schwachen Gruppen wie Kinder, Frauen, ältere Menschen, Kranke. Und so sah es in den ersten Monaten auch aus. Sogar der Grenzschutz wurde gelockert, ich denke vor allem aus Angst vor der Reaktion der neuen Führung.
Alles änderte sich vor den Europawahlen, als die Regierung Tusk mangels anderer Wahlargumente begann, das Thema Migration in ähnlicher Weise zu nutzen wie die PiS. Bei ihr ist es sogar noch gefährlicher, denn diese Rhetorik ist von Zynismus und Heuchelei durchzogen, es werden Worte des Mitleids gesprochen und Krokodilstränen vergossen, während gleichzeitig die Sicherheitsbehörden zur Gewaltanwendung aufgefordert werden.

Kann die KO wirklich der extremen Rechten die Stirn bieten, indem sie die PiS noch überbietet?

Ich denke, sie glaubt tatsächlich, wie andere europäische Eliten auch, dass man sich mit der Migration befassen müsse, weil sie die Ursache für den Anstieg der Unterstützung für die extreme Rechte und die daraus resultierende Bedrohung der europäischen Demokratie sei. Es gibt aber auch andere Gründe für diesen Anstieg, etwa die Hilflosigkeit der demokratischen Eliten gegenüber wirtschaftlichen, sozialen und Klimaproblemen.
Die Tatsache, dass die Liberalen jetzt die faschistische Agenda übernehmen, bedeutet nicht, dass sie die Faschisten besiegen werden. Im Gegenteil, sie bringen die Faschisten mit ihrer Agenda in den politischen Mainstream.
Ich empfinde ihre Haltung daher als Zynismus und als Konzentration auf kurzfristige Gewinne. Tusk ist schließlich Historiker, er sollte sich die 1930er Jahre anschauen und sehen, wo diese Art von Strategie für die sog. Demokraten und für die Welt endete.

Ich habe mir drei Ihrer Filme, die das Thema »Konfrontation des Menschen mit der Grausamkeit der Geschichte« behandeln, erneut angesehen. Das ist Europa, Europa, die Geschichte eines jungen jüdischen Mannes, der den Krieg überlebt, indem er sich zunächst als sowjetischer Kommunist und dann als deutscher Nazi ausgibt. Dann Darkness, die Geschichte von Lemberger Juden, die während der Besatzung von einem polnischen Kleinkriminellen gerettet werden. Schließlich Grüne Grenze. Die Filme wirken, als spielten sie alle heute. Was ist es, das den Menschen dazu bringt, immer wieder in denselben Trott zurückzufallen: andere zu verleumden, zu töten?

Das ist eine philosophische Frage über die menschliche Natur, auf die ich keine Antwort habe. Ich betrachte sie eher pragmatisch. Ich habe den Eindruck, dass der Mensch sowohl zum Bösen als auch zum Guten fähig ist. Und dass dies weitgehend durch die Umstände und vor allem durch das Verhalten der Autoritätspersonen bestimmt wird. Vieles hängt von deren Einstellung ab.
Das zeigt sich sehr deutlich in dem zweibändigen Werk von Barbara Engelking und Jan Grabowski, Dalej jest noc (Es ist weiterhin Nacht). Es beschreibt das Schicksal der Juden in ausgewählten Bezirken des besetzten Polen in der dritten Phase des Holocausts, als die Ghettos aufgelöst wurden und die Juden bei ihren Nachbarn Schutz suchten. Ich interessierte mich besonders für Ungarn, da der größte Teil der Familie meines Vaters dort starb.
Nach den Erkenntnissen von Engelking und Grabowski starben zwei von drei Juden, die im Rahmen der Operation Reinhard gerettet wurden, durch die Hand von Polen oder unter deren Mitwirkung. Es gibt dabei einen interessanten Unterschied: In einigen Bezirken überlebte einer von zwanzig, in anderen einer von zwölfhundert. Es stellte sich heraus, dass es dort, wo mehr gerettet wurden, einen Priester oder einen Lehrer gab, der den Leuten sagte, das dürfen sie nicht tun. Also jemand, der als lokale Autorität fungierte. Und das hat funktioniert.
Dasselbe Phänomen, nur umgekehrt, haben wir 2015 erlebt. Kaczynski sprach über die Parasiten, die Migranten angeblich mitbringen. Innerhalb weniger Monate sank die Unterstützung für die Aufnahme von Flüchtlingen [Quelle: Centre for the Study of Prejudice], die Unterstützung für die Anwendung verschiedener Formen von Gewalt gegen sie stieg.
Etwas ähnliches geschah auch mit Donald Tusk, als er im Juni 2024, während der Europawahlen, nach dem Tod eines an der Grenze verwundeten polnischen Soldaten die Propagandamaschine in Gang setzte. Plötzlich wurde ein Gesetz, das den Sicherheitsorganen eine Lizenz zum Töten gibt, von mehr als 85 Prozent der Polen unterstützt.

Auch die Unterstützung für Pushbacks ist gestiegen: von 52 Prozent im Herbst 2022 auf 67 Prozent im Juni 2024. Sind die Demokraten gescheitert?

Die Menschen wollen glauben, dass die Abkehr der demokratischen Machthaber von den Werten, die sie predigen, einen ernsthaften Grund haben muss. Daher die ständigen Verweise auf die Bedrohung ihrer Sicherheit. In einer solchen Situation nehmen die Menschen bereitwillig Meinungen an, die sie vorher nicht teilten. Dies umso mehr, als es für sie bequem ist und sie von Verantwortung, Schuld und kognitiver Dissonanz befreit.

Die faschistischen Banden, die Flüchtlinge angreifen, werden aber nicht von Tusk, sondern von anderen Kräften angetrieben.

Ja, natürlich. Wenn ihre aggressiven, offen rassistischen Aktivitäten mit der Regierungsrhetorik zusammenfallen, haben rechtsextreme Kreise einen Freibrief für rassistische Gewalt. Wie Marek Edelman sagte, gibt es in der menschlichen Natur zwar ein mehr oder weniger symmetrisches Potenzial für Gut und Böse, aber es ist viel schwieriger, das Potenzial für das Gute zu aktivieren als das Potenzial für das Böse.
Europa befindet sich in einer Situation, in der es seine Bequemlichkeit verteidigt. Ein großer Zustrom kultureller und sozialer Fremder kann für viele unangenehm sein, er bedeutet, dass sie ihr Leben ändern müssen, etwas aufgeben müssen, um Platz für andere zu schaffen. Wir verteidigen also eigentlich unsere Bequemlichkeit.
Konformismus, Angst vor der eigenen Meinung – all das ist zu einem immanenten Merkmal unserer Gesellschaft geworden. Es fällt schwer, das allein der Justiz anzulasten, auch wenn sie es in gewisser Weise in Gang gesetzt hat. Heute sind Opportunismus und Klientelismus alltäglich geworden. Das gilt nicht nur für Politiker, sondern auch für die Filmwelt. Wäre die menschliche Qualität der demokratischen Politiker größer, wäre es möglich, dass wir heute nicht in einem solchen Schlamassel stecken. Aber, offen gesagt, das passiert in ganz Europa. Das Böse muss seine Zeit haben.

Sehen Sie denn keine Kraft, die sich dem entgegenstellen könnte? Um sich eine andere Agenda, eine andere politische Realität vorzustellen?

Abgesehen von anarchistischen Individuen wie meinen Helden von Grüne Grenze oder– ich weiß nicht – den frühen Christen aus den Höhlen sehe ich niemanden, der so ist.

Übersetzung: Norbert Kollenda

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