Wenn Widerstand in Kunst eingeht, entstehen kraftgebende Bilder an der Wand oder im Kopf
von Ayse Tekin
Zwei Orte, zwei Ausstellungen dokumentieren in München, wie Widerstand und Kunst sich treffen. Beide in ungewöhnlichen Ausstellungsräumen.
Für die Ausstellung »Aber hier leben? Nein danke – Surrealismus und Antifaschismus« müssen Besuchende sich in eine U-Bahn-Station begeben, oder direkt aus der U-Bahn ins Museum gehen. Die Ausstellung hat in einem unterirdischen Zwischengeschoss der U-Bahn-Station Königsplatz Platz gefunden, das ungenutzt war und leer stand. Sie zeigt faszinierende Bilder, die einen Ausschnitt aus über fünf Jahrzehnten surrealistischer Bewegung präsentieren, ergänzt durch Texte zu deren antifaschistischer und antikolonialistischer Haltung sowie zu ihren weltweiten Aktionen. Die Besuchenden erhalten damit einen tiefen Einblick in das Thema.
Am Ende vermittelt die kuratorische Gestaltung Empowerment-Momente und lädt zum Weiterkämpfen ein – gerade in unserer Zeit!
Velvet Terrorism
Der andere Ort, an dem sich die Ausstellung mit dem Titel »Velvet Terrorism« befindet, ist nicht mal umgebaut. Es ist der ehemalige Luftschutzbunker des Gebäudes, in dem sich das Haus der Kunst befindet.
Punk, Humor und Farben. Mit diesen Mitteln kämpft das russische feministische Politkunstkollektiv Pussy Riots gegen die Unterdrückung in Russland. Der Bunker ist entsprechend mit grellen Farben gestrichen, handschriftlichen Texten versehen, mit schriller Musik aus Videowänden gefüllt und vielen humorvollen, aber auch grässlichen Fotos von den Aktionen der Künstlergruppe bestückt. Dennoch erinnern die niedrige Decke, die engen Räume und die Stahltüren an ein Gefängnis, wo einige der Künstlerinnen und viele Oppositionelle in Russland saßen oder noch sitzen.
Wenn Besuchende die Ausstellung bis zum Ende »aushalten«, ist auch die Hoffnung da, dass es weitergeht, obwohl die Künstlerinnen viel Unterdrückung erlitten haben, Russland verlassen mussten und es dort jetzt viel leiser geworden ist.
Im letzten Raum mit riesigen Platten am Boden, wie Grabplatten, mit den Namen ukrainischer Städte und dem Titel »Mutter schaut nicht TV« befindet sich die letzte politische Aktion der Künstlergruppe – sie ist hier zum ersten Mal öffentlich dargestellt. Man erträgt es, weil die erlebte Gewalt der Künstlerinnen eindrücklich dokumentiert ist und den Besuchenden bewusst wird, dass sich solche Szenen überall auf der Welt jederzeit wiederholen. Besonders eindringlich zeigt dies das Bild der zarten Maria Aljochina, die in der Ausstellung zwischen zwei Riesen, als »Sicherheitskräfte« bezeichneten Männern abgeführt wird.
Vieles trennt die beiden Künstlergruppen, von der Art ihrer Kunst bis zur Aufnahme bzw. Anerkennung in der Gesellschaft. Was sie eint, ist ihre Haltung: Widerstand leisten.
Surrealismus als Haltung
Der Surrealismus, eine der einflussreichsten künstlerischen und literarischen Bewegungen des 20.Jahrhunderts, entstand in den 1920er Jahren als Reaktion auf die rationalistische und bürgerliche Kultur, die viele Künstler und Intellektuelle als beengend und unterdrückend empfanden. Er war eine politisierte Bewegung von internationaler Reichweite und internationalistischer Überzeugung.
Die Wirklichkeit war fu?r die Surrealist:innen ungenü?gend. Sie wollten die Gesellschaft radikal verändern und das Leben neu denken. Unter der Führung von André Breton entwickelte sich der Surrealismus nicht nur zu einer ästhetischen Strömung, sondern auch zu einer aktiven politischen Bewegung, die sich gegen Faschismus und Totalitarismus einsetzte. Die Verbindung zwischen Surrealismus und Antifaschismus ist ein faszinierendes Kapitel in der Geschichte der modernen Kunst und des politischen Engagements.
In den 30er Jahren, als der Faschismus in Europa aufstieg, wurde der Surrealismus zu einer wichtigen Stimme des Widerstands. Die Surrealist:innen nutzten ihre Werke, um die Absurdität und Grausamkeit des faschistischen Regimes zu entlarven. In einem Jahrhundert voller Kriege, Massaker, Revolutionen und Konterrevolutionen, also in einer Zeit, in der Politik in ihren radikalsten Formen praktiziert wurde, begann die Kunst gerade erst, sich ihrer Kraft bewusst zu werden.
Die Verbindung zwischen Politik und Kultur – zusammen mit der schwindelerregenden Entwicklung der Massenkommunikationsmittel – wurde als wesentliches Element zum Aufbau einer Hegemonie betrachtet. Während Staaten darüber nachdachten, wie man Kultur und Kunst am effektivsten für den Aufbau und Erhalt des Regimes einsetzen kann, beschäftigten sich Künstler damit, wie sie sich gegen diese Politik in Stellung bringen können – in Form, in Wort und im Auftreten.
Die Surrealist:innen betrachteten die Beziehung der Kunst zur Politik und zur Revolution sowie zur revolutionären Bewegung als ihre zentralen Themen. Dem fühlten sich auch die Ausstellungsmachenden verpflichtet und haben geschrieben: »Unsere Ausstellung sieht sich als Bündelung von Versuchen, einen immer noch eng definierten und politisch verharmlosten surrealistischen Kanon zu revidieren.« Das ist ihnen so weit gelungen, dass die Ausstellung auch als eine Dokumentation des politischen Handelns der Bewegung gesehen werden kann.
Der bedeutendste Text zur Beziehung zwischen Kunst, Künstler:innen und revolutionärer Politik im 20.Jahrhundert ist das Manifest Für eine unabhängige revolutionäre Kunst (1938). Es wurde gemeinsam verfasst von André Breton und Leo Trotzki, dem Mitorganisator der Oktoberaufstands von 1917 und Gründer der Roten Armee, der später im mexikanischen Exil lebte. Sie waren sich über die Bedeutung der Kunst für die Befreiung der Menschheit und insbesondere für die Befreiung von Kapitalismus, Faschismus und Stalinismus einig.
So entstand das Manifest, das die Notwendigkeit einer wirklich unabhängigen revolutionären Kunst verteidigt. Überlieferungen zufolge verfasste Breton einen Textentwurf, und Trotzki, der schon seine Einstellung zum künstlerischen Schaffen in seinem Buch Literatur und Revolution (1924) ausgedrückt hatte, nahm in dem Entwurf Ergänzungen und Streichungen vor. Das Manifest, das aus »taktischen Gründen« mit der Unterschrift Bretons und des Malers Diego Rivera veröffentlicht wurde, beginnt mit der Feststellung, dass die menschliche Zivilisation einer beispiellosen Bedrohung »reaktionärer, mit der ganzen modernen Technik bewaffneter Kräfte« ausgesetzt ist. Unter diesen Bedingungen sei »die Situation der Wissenschaft und der Kunst absolut unerträglich geworden«.
Über die Beziehung zwischen Kunst und Revolution heißt es im Manifest: »Echte Kunst, d.h. Kunst, die sich nicht mit der Variation überkommener Modelle zufrieden gibt, sondern darum bemüht ist, den inneren Anliegen des Menschen und der Menschheit von heute Ausdruck zu verleihen, ist notwenigerweise revolutionär…«
Jahrzehnte später…
Was das Manifest über »echte Kunst« schreibt, wird von der Gruppe Pussy Riots gelebt. Wenn man die Wirkungsmacht der autoritären Staaten und die rasante Entwicklung der Kommunikationsmittel heute betrachtet, sind die Aktionsformen der Künstlergruppe Pussy Riots mehr als angemessen. Da sie bei ihren Aktionen um ihr Leben fürchten müssen, muss ihre Kunst schrill, schnell und laut sein. Im Haus der Kunst in München haben sie dies dokumentiert. Sie betonen in ihren Guerillaeinsätzen Themen wie Feminismus, LGBTQ-Rechte und die politische Unterdrückung von Oppositionellen.
Der Einsatz in öffentlichen Räumen unterstreicht die Dringlichkeit ihrer Performances. Es beschert aber auch klammheimliche Freude, wenn die Moskauer:innen – nach erfolgreicher Aktion – aufwachen, und wichtige staatliche Gebäude mit LGBTQ-Fahnen bestückt sind. Diese Kunst entfaltet eine kraftvolle Wirkung, indem sie zu spontanen Aktionen inspiriert, die kurzfristig entstehen, aber nachhaltig stören.
Die Ausstellungswände sind von der Künstlerin, Autorin und politischen Aktivistin Maria Aljochina eigenhändig beschriftet. Sie hat für ihre Kunst mit einem Aufenthalt in einer russischen Strafkolonie nach einem Schauprozess im Jahr 2012 bezahlt. Die Aktivitäten der Gruppe sind jetzt nicht mehr auf Russland beschränkt, sondern finden in der ganzen Welt statt. Die Aktivistinnen treten zusammen in der Show Riot Days auf. Der von der Gruppe erzeugte Geist des Widerstands durch Musik, Literatur, Tanz und andere Kunstformen ist einmalig.
Die beiden Ausstellungen zeigen, wie verschiedene Arten von Kunst verschiedene Generationen im Widerstand einen.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.