Der Westen in der Sackgasse
von Rainer Fischbach
2022 präsentierte das US-Unternehmen OpenAI ChatGPT, den »Chatbot« (zusammengesetzt aus den Wörtern Roboter und Gespräch). Die Technik dahinter ist ein sog. LLM (Large Language Model). Dieses Programm wurde darauf »trainiert«, Ausgaben zu produzieren, die wie Antwortsätze auf Benutzereingaben aussehen. Dafür werden hunderte Milliarden Parameter durch Probieren und wiederholte Korrektur bestimmt.
Für das »Maschinenlernen« kommen zigtausende GPU (Graphics Processing Units) zum Einsatz, das sind ursprünglich für Grafikkarten entwickelten Prozessoren, die mehrere Datensequenzen gleichzeitig verarbeiten können. Der Vorgang frisst gigantische Mengen Energie und kostet jeweils zig Millionen US-Dollar.
Ende Januar erregte eine Nachricht aus China großes Aufsehen. Es sei gelungen, für das System DeepSeek den Trainingsaufwand um den Faktor 10–20 zu verkleinern. Manche Kommentatoren glauben, damit sei die US-amerikanische Vorherrschaft im Hightech-Sektor an ihr Ende gekommen. Diese Auffassung ist verfrüht. Aber der chinesische Erfolg fügt den Anzeichen für eine fortschreitende Schwächung des Westens ein weiteres hinzu.
China holt auf
Zunächst muss einiges richtig gestellt werden. Das LLM aus China wurde nicht mit »handelsüblichen billigen Halbleitern« gebaut, wie behauptet wurde, sondern mit 2048-GPU des Typs H800 von Nvidia. Diese Hardware ist zwar nicht das neuste Modell, darf aber seit Oktober 2023 nicht mehr nach China ausgeführt werden. Der Preis pro Einheit liegt beim Hundertfachen dessen, was normale Leute für einen Laptop ausgeben.
Solche Prozessoren erledigen die notwendigen Operationen des Maschinenlernens ungefähr zehntausend mal schneller als ein herkömmlicher Universalprozessor. Daher sind sie trotz des höheren Preises effizienter, auch die Energieaufnahme ist deutlich geringer.
Der US-amerikanische Hersteller Nvidia hat sich auf diesem Markt eine unangefochtene Dominanz erarbeitet und stieg zum Unternehmen mit der weltweit höchsten Börsenkapitalisierung auf. Nun entwickelt China solche Technik offenbar eigenständig. Die Kosten für DeepSeek werden mit lediglich fünf Millionen US-Dollar beziffert, auch wenn die wirklichen Ausgaben höher gelegen haben dürften.
Das westliche Konsortium Stargate – ein KI-Bündnis von SoftBank, OpenAI, Oracle und MGX, ein Staatsfonds der Arabischen Emirate – will in den kommenden vier Jahren insgesamt 400 Milliarden Dollar für Rechenzentren ausgeben, um die »Künstliche Intelligenz« weiterzutreiben. Aber DeepSeek bietet die gleiche Leistung wie die bekannten LLM aus den USA bei weniger Aufwand und ist obendrein frei verfügbar.
Liang Wenfeng, der Mann hinter diesem Coup, hat seine Ausbildung in China absolviert und Erfahrung in Informatik und Elektrotechnik gesammelt. Mittels KI machte er im Wertpapierhandel Milliarden. DeepSeek und andere Systeme entwickelte er mit einem handverlesenen Team »just for fun«, ohne erkennbare kommerzielle Ziele. Zunächst wurde er auch in China als exzentrischer Bastler belächelt.
Ein entscheidender Antrieb bestand in dem Willen, die Beschränkungen durch die US-Sanktionen zu umgehen. Der Trainingsaufwand wurde unter anderem dadurch gesenkt, dass der Prozess in Teilschritte aufgeteilt wurde, die jeweils weniger Rechenaufwand verursachen. Die höheren Stufen des Trainings, bei denen die Korrektheit verbessert werden soll, wurden auf einfache, klar entscheidbare Aufgaben beschränkt, die keine menschliche Bewertung erfordern. Wie weit dieser Ansatz im praktischen Einsatz trägt, ist jedoch unklar.
Verheerungen an der Börse
Die Nachricht von DeepSeeks Erfolg schlug an den Kapitalmärkten ein wie eine Bombe.
Der Nasdaq-Index mit vielen Hightech-Aktien gab am 27. Januar um 3,7 Prozent nach. Nvidia verlor 18 Prozent (nur um am nächsten Tag 10 Prozent zurückzugewinnen). Auch europäische Unternehmen waren betroffen. Die niederländische AMSL, der führende Maschinenhersteller für die Produktion hochintegrierter Halbleiterschaltkreise, verlor 8 Prozent seines Wertes.
Der Kurs von Siemens Energy ging sogar um 20 Prozent zurück, weil im Zuge des KI-Booms ein wachsender Bedarf an Infrastruktur für elektrische Energie erwartet wird. Daher litten auch Kraftwerksbetreiber unter dem Abschwung.
Völlig überraschend kam der Einschlag nicht. An der Wall Street geht seit über einem Jahr die Angst um, dass der Boom von KI und entsprechender Hardware sich als Blase herausstellen könnte. Doch was bedeutet dieses Börsenereignis für die Beteiligten am globalen Hightech-Spiel?
Schon vor DeepSeek stellte sich die Frage, ob es für die im Bau befindlichen und projektierten Superrechenzentren genügend Bedarf geben würde. Das Stargate-Projekt ist zwar das größte, doch nicht das einzige dieser Art. Die Investitionen der führenden Hightech-Konzerne lagen im Jahr 2024 bei ungefähr 224 Milliarden Dollar, die – kreditfinanzierte – Errichtung von Rechenzentren für KI-Anwendungen hat sich zu einem neuen Geschäftsfeld entwickelt.
Das Geschäftsmodell, das sich OpenAI und Nachahmer ausgedacht hatten, erfuhr durch DeepSeek einen empfindlichen Schlag. Die verwundbare Stelle war lange bekannt, auf diesem Feld kann nichts lange ein Geheimnis bleiben. Die Produzenten von LLM lernen aus den gleichen Kochbüchern und führen, sofern das jemand finanziert, die gleichen Experimente aus. Keiner erlangt einen entscheidenden Geschäftsvorteil, niemand ist in der Lage, die eigene Position hinter einem Burggraben zu verschanzen, den die Konkurrenz nicht überwinden kann (einem sog. moat).
Solange es keine Innovationen gibt, die über die alten Ansätze hinausführen, wird das Wettrennen um die globale KI-Dominanz unentschieden bleiben. Gegenwärtig erschöpfen sich die Aktivitäten darin, die bekannten Rezepte in immer größerem Maßstab anzuwenden. Ob und wie die immensen Ausgaben jemals finanziell rentieren werden, bleibt unklar.
Rechenkapazität sucht Aufgabe
Big Tech, Big Pharma, Big Defense und Big Finance werden alles tun, um die neuen Superrechenzentren nicht brach liegen zu lassen. Ideen für Produkte gibt es reichlich. Notfalls wird die US-Regierung finanziell einspringen und ihre Verluste ausgleichen. Dennoch mehren sich die Anzeichen einer Krise.
Das erste besteht darin, dass der Zauber der LLM verfliegt. Der Grenznutzen weiterer Investitionen in noch mächtigere Modelle und noch mehr Trainingsstunden auf noch mehr GPU schwindet. Dass die Leistung von ChatGPT 4.5, das im Januar veröffentlicht wurde, enttäuscht, belegt diesen Sachverhalt. Auch das chinesische DeepSeek-R1 teilt die Schwächen seiner Konkurrenten. Eine maschinelle Superintelligenz ist so fern wie immer und wird auch nicht näher rücken.
Vor allem trägt diese Technik wenig zur Lösung der drängenden Probleme bei, sogar wahrscheinlich einiges zu ihrer Verschlimmerung. Sinnvolle technische Aufgaben für Maschinenlernen zu erkennen und zu lösen, verlangt Ingenieurskultur. Sie weicht fundamental von der Big-Tech-Kultur ab, die von Profitorientierung, Bürokratie, Konformismus, mangelnder Sorgfalt und Selbstüberschätzung gekennzeichnet ist.
Während die Ingenieurskunst im Westen niedergeht, lebt sie in anderen Teilen der Welt auf – unter anderem in China, Russland, Iran. Dort gleicht man sehr einfallsreich den Mangel aus, der durch westliche Sanktionen verursacht wird.
Der Militäranalytiker Andrei Martyanov vertritt die Meinung, dass es Russland gelang, durch gezielte militärtechnische Anstrengungen die USA mit vergleichsweise bescheidenem Einsatz zu schlagen, während diese immer mehr extrem teures, doch dysfunktionales Hightech-Spielzeug anhäuften. Dazu trug bei, dass die USA im Jahr 2002 den ABM-Vertrag kündigten, der Systeme zur Abwehr ballistischer Raketen beschränkt hatte.
Angewiesen auf Wissenschaftler aus Asien
Das Bruttoinlandsprodukt der westlichen Ländern besteht zunehmend aus Dingen, die für den größten Teil der Bevölkerung nutzlos, wenn nicht gar schädlich sind: einem aufgeblähten Finanzsektor, einem nicht minder aufgeblähten Rechtssystem, einer überdimensionierten Medienwelt, die vor allem Ablenkung durch Scheinwelten und Ideologie hervorbringt. Das Medizinsystem frisst einen wachsenden Teil des Volkseinkommens und geht dennoch mit einer sich verschlechternden Volksgesundheit einher. Das gleiche gilt für Militär und Rüstungsindustrie. Sie geben sich Hightech-Spielzeugen hin, die keine Sicherheit schaffen. Wenn sie auf einen ernstzunehmenden Gegner treffen wie in der Ukraine, sehen sie schwach aus. Unterdessen sinkt die Lebensqualität der Massen.
Der westliche Niedergang zeigt sich auch im Bildungssystem. Liang Wenfeng, der chinesische Entwickler von DeepSeek, beschäftigt bezeichnenderweise nur Absolventen einheimischer Universitäten. China habe es nicht nötig, seine besten Studenten an US-Hochschulen zu schicken, sagt er. Im eigenen Lande gebe es genug herausfordernde Aufgaben.
Einige US-amerikanische Hochschulen gelten zwar immer noch als die führenden Ausbildungsstätten in Naturwissenschaften, Informatik und Ingenieursdisziplinen. Die Kurse dort füllen aber inzwischen zu mehr als der Hälfte ausländische Studenten, größtenteils aus asiatischen Ländern. Der Ruf dieser Studiengänge hängt zunehmend von Lehrpersonal ab, das selbst aus Zuwanderern besteht. Die US-Schulen und überhaupt die westlichen Gesellschaften und ihre Bildungssysteme entlassen nicht mehr genügend Jugendliche, die zu diesen Studien gewillt und in der Lage wären.
Der Autor ist Informatiker. Eine wesentlich längere Version dieses Artikels ist auf der Webseite www.rainer-fischbach.info zu finden.
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