Das dritte Working-Class-Literaturfestival – Campi Bisenzio, 4.–6.April 2025
von Eva Gaßen und Riccardo Schreck
Die Sonne scheint heiß auf die Via Fratelli Cervi, die zur Ex-GKN-Fabrik in Campi Bisenzio führt. Ebenso wie die namensgebenden Cervi-Brüder – allesamt Partisanen, die von den Faschisten getötet wurden – ist der Kampf des Fabrikkollektivs Ex-GKN gegen den Investmentfonds Melrose bereits heute in die Geschichte der italienischen Arbeiter:innenbewegung eingegangen.
Seit dem ersten Kündigungsversuch am 9.Juli 2021 leisten sie mit breiter Unterstützung aus der Zivilgesellschaft Widerstand, denn sie kämpfen nicht nur um ihre Arbeitsplätze, sondern um eine ökosoziale, demokratische Re-Industrialisierung einer ganzen Region. Dieser selbstbewusste Protest des Fabrikkollektivs Ex-GKN entfesselt eine Kraft, die seit den 80er Jahren in Italien nicht mehr spürbar war und auch international begeistert.
Eine der zahlreichen kulturellen Blüten, die dieser Arbeitskampf hervorbrachte, ist das dritte Working-Class-Literaturfestival, das Anfang April unter dem Motto »Wir werden alles sein« 7000 Teilnehmer:innen anzog. Der »endlosen Gegenwart des nach Krieg, Umweltzerstörung, Faschismus und Ausbeutung stinkenden kapitalistischen Realismus« (Einladungstext) will das Festival eine solidarische und demokratische Zukunft entgegensetzen.
Diese Zukunft scheint auf dem Gelände des kostenfreien, durch Crowdfunding und mit Hilfe vieler Ehrenamtlicher organisierten Festivals immer wieder auf. Die gesamte Reihe von Zeltständen mit Büchern, T-Shirts und Essen wird von besetzten Bauernhöfen, linken Verlagen und sogar einem organisierten Stadtviertel Roms betrieben. Es geht den Festivalorganisator:innen darum, Kämpfe zu verbinden und zu gewinnen. Dafür kann die Erzählung und das Erkennen der geteilten Klassenlage Kraft geben. Die Podien beweisen, dass die Arbeiterklasse auch heute noch viel zu erzählen hat.
Wenn Arbeiter:innen Geschichte(n) schreiben
Luigi Chiarella verarbeitet seine zehnjährige Tätigkeit als Kellner in Wien in einer Art Tagebuch Risto Reich. Il lavoro del cameriere (»Risto Reich. Die Arbeit des Kellners«). Chiarella serviert geistreich und ironisch seine Erfahrungen in unzähligen Gängen, von denen manche im Halse stecken bleiben und uns einen neuen Blick auf Menschen werfen lassen, die oft unsichtbar bleiben, obwohl sie neben uns im Raum stehen. Er beschreibt z.B., wie ein Mann in seinem Beisein (als Kellner) wiederholt die Partnerin schlägt und ihn vollständig ignoriert. Es ist seine Unsichtbarkeit trotz Anwesenheit und die prekäre Abhängigkeit von dubiosen Gastro-Betreibern, die ihn resümieren lassen: »Wenn arbeiten zu müssen so eine schöne Sache wäre, würden die Reichen sie für sich behalten.«
Auch die Graphic Novel Wage Slaves (deutsche Ausgabe: Von unten) von Daria Bogdanska zeichnet ein düsteres Bild von der Ausbeutung in der Gastronomie. Nach ihrer Ankunft in Malmö sieht sich die polnische Studentin einem bürokratischen Paradox gegenüber: Sie darf nur mit einer Steuernummer arbeiten, aber um diese zu bekommen, braucht sie eine Arbeit. Folglich schlägt sie sich mit Schwarzarbeit durch. Die Graphic Novel illustriert, was es heißt, den Tag mit harter, abhängiger Arbeit zu verbringen, um dann empört festzustellen, dass die Kolleg:innen aus Ostasien noch weiter unten in der Hackordnung stehen. Sie fängt an, sich gewerkschaftlich zu organisieren, um einen Weg aus der Ausbeutung zu finden.
Raffaele Cataldi, ehemaliger FIOM-Vertrauensmann des größten Stahlwerks Europas, beschreibt in seinem Buch Malesangue. Storia di un operaio dell’Ilva di Taranto (»Böses Blut. Die Geschichte eines Arbeiters der Ilva von Taranto«), wie er sich von der eigenen Gewerkschaft verraten fühlt, die die Produktion 2012 weiter vorantrieb, obwohl ein Gericht aufgrund der Umwelt- und Gesundheitsschäden die Einstellung angeordnet hatte. Er erzählt, wie er – von Politik und Gewerkschaft allein gelassen – mit einigen Kollegen das »Komitee der freien und nachdenkenden Bürger und Arbeiter« gründete, um sich für eine sozialökologische Transformation des Werks einzusetzen.
Auch in den Erzählungen über ostasiatische Wanderarbeiter:innen in China oder Arbeiterklassenfamilien in Frankreich hören wir die persönlichen Erfahrungen einer geteilten Lage. Diese ehrlichen Erzählungen machen Unsichtbares sichtbar und Ausbeutungsverhältnisse spürbar. Sie zeigen die entmenschlichende Qualität entfremdeter, prekärer Arbeit.
Schreiben wird zum Akt des Widerstands, dem man sich anschließen kann. Alberto Prunetti – künstlerischer Leiter des Literaturfestivals – bezeichnet dieses Schreiben als einen Kampf für »poetische Gerechtigkeit« für diejenigen, denen aufgrund bestehender Machtverhältnisse weder politisch noch juristisch Gerechtigkeit widerfährt. Der tosende Beifall des Publikums bestätigt, dass sie mit ihrem Ruf nach Gerechtigkeit nicht alleine sind.
Die Elefanten im Raum
Dass es hier um mehr als nur eine Repräsentation der Arbeiterklasse im kulturellen Raum geht, zeigt die enge Verbindung zwischen Literatur und sozialen Kämpfen. Fast alle Teilnehmer:innen schlossen sich am Samstagabend der Demonstration »Wir sind gemeinnützig« an, um den produktiven Wert der »öffentlichen und sozial-integrierten Fabrik« auszurufen, in der die Arbeiter:innen demokratisch und im Austausch mit der Bevölkerung über die Produktion bestimmen wollen. Und nicht nur das: Nach jedem Literatur-Panel traten die »Elefanten im Raum« auf die Bühne – Initiativen aus ganz Italien stellten ihre Kämpfe vor. Sie verkörperten die Verbindung der literarisch ausgeloteten Klassenlage mit konkreten Kämpfen – unter anderem von Basisgewerkschaften, feministischen Gruppen, Klimaaktivist:innen, Stadtteilorganisationen und Palästina-Solidarischen. Sie forderten die Zuhörenden auf, die Passivität zu überwinden und mutig für eine Alternative einzustehen.
Der Traum von einer Fabrik
Dario Salvetti, Sprecher des Fabrikkollektivs Ex-GKN, dem wie seinen Kolleg:innen zum 1. April 2025 gekündigt wurde, ruft bei der Demonstration dazu auf, nicht das Träumen aufzugeben – denn »wir können nur das gewinnen, was wir uns erträumen und wofür wir kämpfen!« Trotz Kündigung, 15 Monaten ohne Lohn und Ungewissheit über den Standort halten die Arbeiter:innen am Traum von der »öffentlichen, sozialintegrierten Fabrik« fest.
Zum Träumen ermutigt nicht zuletzt das Arbeiterklassen-Literaturfestival, das im nächsten Jahr unter dem Motto des »Gewinnens« stehen soll.
Eva und Riccardo sind Teil des deutschen GKN-Supportnetzwerks (@insorgiamo.de) und darüber hinaus in der Friedens- und Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv.
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