Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
Aufmacher 4 1. Juni 2025

›Faschisierung‹ ist für die heutige Entwicklung der falsche Begriff
Daniel Kreutz antwortet auf den Leitartikel von Helmut Dahmer in SoZ 4/25

Trump, Milei, Meloni sind ultrarechts – aber damals waren die Klassenverhältnis andere: Es gab eine starke Arbeiter*innenbewegung und junge Revolutionen. ›Faschisierung‹ ist für die heutige Entwicklung der falsche Begriff. Daniel Kreutz antwortet auf den Leitartikel von Helmut Dahmer in SoZ 4/25

In den langen Jahren meiner politischen Sozialisation als trotzkistischer Kader der 70er und 80er Jahre gehörte es gleichsam zu unserer DNA, die in der damaligen radikalen Linken verbreitete unterschiedslose Etikettierung repressiv-autoritärer Regime (so der Militärdiktaturen in Griechenland, Chile, Türkei) als »faschistisch« zugunsten präziserer, differenzierender Analysen zu kritisieren. Dabei waren wir inspiriert von den klassenpolitisch fundierten Arbeiten Trotzkis, der früher und schärfer als die meisten anderen Köpfe seiner Zeit die mit der Nazipartei her­aufziehende Katastrophe erkannte.*

Seither ist Faschismus für mich nicht bloß eine Partei mit ultrarechter Ideologie, sondern vor allem eine organisierte gewaltförmige Massenbewegung von deklassierungsbedrohten Mittelschichten und sozial verzweifelten, entwurzelten Menschen, die extralegalen Terror vor allem gegen die Arbeiterbewegung richten. Die Bourgeoisie kann sich dieser ihr klassenfremden »Pöbelbewegung« als ultima ratio bedienen, um den Kapitalismus aus einer Krise zu retten, die sie wegen der relativen Stärke der lohnabhängigen Klasse mit anderen Mitteln nicht zu beherrschen vermag.
Die faschistische Herrschaft beginnt mit einer Periode des »institutionalisierten Bürgerkriegs«, die nicht nur auf die Zerschlagung der Arbeiterbewegung und der übrigen Kräfte demokratischer Opposition sowie auf die physische Vernichtung ihrer Vorhutkräfte zielt, sondern auch auf die vollständige Atomisierung der lohnabhängigen Klasse, die so für lange Zeit jeder Fähigkeit zu kollektiver Artikulation beraubt wird. Bei allen konkreten Unterschieden sind damit gemeinsame Wesenszüge des italienischen, deutschen und spanischen Faschismus erfasst.
Trump, Milei, Meloni, Orban, Modi oder Bolsonaro (abgewählt) sowie deren politische Formationen vertreten ultrarechte Ansichten und ihre Regierungen greifen demokratische, soziale und Menschenrechte härter an als solche der liberalen Mitte. Doch nirgends finden sich Szenarien, die denen »meines« Faschismusbegriffs auch nur annähernd vergleichbar wären. Der Begriff passt vorn und hinten nicht. Und von einer theoretisch-analytischen Weiterentwicklung, mit der er in gleichermaßen sinnvoller Weise auf die heutige harte Rechte wie auf Mussolini, Hitler und Franco passen würde, ist nichts bekannt. Das scheint auch kaum möglich, weil die zugrunde liegenden klassenpolitischen Kräfteverhältnisse heute radikal anders sind als in den 1920er und 1930er Jahren.
Damals, in einer von der russischen Oktoberrevolution und der deutschen Novemberrevolution geprägten Periode, fand die Bourgeoisie angesichts wirkmächtiger Gewerkschaften und Arbeiterparteien nicht mehr die Kraft, ihre Systemkrise mit »demokratischen« Mitteln zu beherrschen, und musste gar sozialistische Umwälzungen fürchten. Die Faschisten boten neben der vollständigen Eliminierung der Arbeiterbewegung die Aussicht auf kriegerische Markterweiterungen (»Lebensraum im Osten«, Kolonien in Afrika).
Heute, im Gefolge des Sieges des Kapitalismus über den postkapitalistischen, aber bürokratisch-diktatorischen Nominalsozialismus in der Sowjetunion und China sowie der neoliberalen »Revolution von oben« gegen die Sozialstaatlichkeit, an der auch bedeutende vormalige »Arbeiterparteien« maßgeblich mitwirkten, ist eine politische (sozialistische) Klassenbewegung der Lohnarbeitenden praktisch inexistent, gewerkschaftliches Klassenbewusstsein auf einem historischen Tiefstand. Bei den heutigen Kräfteverhältnissen ist nicht ersichtlich, dass kapitalistische »Lösungen« der multiplen Systemkrise an entschlossener Gegenwehr »von links« scheitern könnten.

Kein Schulterschluss mit der liberalen Mitte!
Unpassend für die Regime der neuen harten Rechten scheint mir auch der Begriff des »Bonapartismus« – einer anderen, zuerst von Marx analysierten Form autoritärer Klassenherrschaft. Diese antwortet auf ein relatives Gleichgewicht der widerstreitenden Klassen, das parlamentarisch-demokratische Krisenlösungen im Sinne der einen oder der anderen blockiert. Das bonapartistische Regime kann sich dann scheinbar über die Klassen erheben und sie gegeneinander ausspielen. Die Nazis ersetzten 1933 übrigens nicht die »Demokratie«, sondern den Bonapartismus von Papen/Schleicher.
Ganz offensichtlich ist der Aufstieg der neuen harten Rechten ein Produkt des Regimes der neoliberalen »extremen Mitte«. Diese hat die politische Repräsentanz des Sozialen, besser: des Sozialökologischen marginalisiert, während der von ihr verantwortete Abbau der Sozialstaatlichkeit die soziale Ungleichheit vergrößert. Das war und ist Demokratieabbau.
Zum Kern der »demokratischen« Form kapitalistischer Herrschaft gehört die Aushandlung politischer Klassenkompromisse, um wirkmächtige (reformistische) Bewegungen der Lohnabhängigen einzubinden. Ohne solche Gegenmacht öffnen sich auf der Rechten neue Räume und die »Demokratie« driftet unvermeidlich selbst nach rechts.
Sind die sozialen (sozialökologischen) Nöte und Interessen der Lohnabhängigen kein Thema mehr, triggern politische »Kulturkämpfe« (wie über Migration, sexuelle Orientierungen, Alltagskonsum usw.) Spaltungslinien im Alltagsbewusstsein der Klasse: Die Mitte demontiert schon seit 1993 das Asylrecht, schuf das Massengrab Mittelmeer und testet jetzt die Grenzen der machbaren Drangsalierung Geflüchteter aus. Sie ist es auch, die seit Jahrzehnten Kriege führt oder befeuert und nun unverhohlen auf Militarismus setzt.
Die neue harte Rechte ist das widerwärtige Symptom einer Krankheit, deren Herd in der Mitte liegt.
Manche Analyst:innen sehen in den Wahlerfolgen der harten Rechten eine »Rebellion« von Globalisierungsverlierern, die sich hierzulande auch in überproportionalen AfD-Wahlergebnissen unter Gewerkschaftsmitgliedern niederschlägt. Trumps Wiederwahl war bekanntlich das Ergebnis verbreiteter Ablehnung der »demokratischen« Alternative. Wenn sonst nichts mehr geht, lassen sich die liberalen Eliten wenigstens noch per Stimmabgabe für die harte Rechte erschrecken.
Die bürgerliche »Demokratie« ist politisch flexibel. Sie kann je nach den gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnissen als »progressiver Aufbruch« auftreten (Willy Brandts »Mehr Demokratie wagen«; indes gab’s auch Berufsverbote für Linke und ein Einreiseverbot für Ernest Mandel) oder mit starken autoritären Zügen zur »illiberalen Demokratie« werden – ein Begriff, der bei aller Unschärfe weit passender ist als »Faschismus«.
Wird der – notwendige – Kampf gegen Rechtsaußen zur Abwehr eines »neuen 1933« überhöht, kommt dies vor allem dem rot-grünen Mitte-Flügel gelegen, der sich – ungeachtet seiner aktiven Mitwirkung an Menschenrechtsverachtung, autoritärer Formierung und Kriegsvorbereitung – dem moralisierten Massenbewusstsein als »die Guten« anbietet, die gegen »das Böse« stünden.
Unter dem herrschenden Narrativ, Weimar sei an der »Uneinigkeit der Demokraten« gescheitert, legt »Nie wieder ist jetzt!« nahe, es gebe nichts Dringlicheres als den Schulterschluss mit der liberalen »Demokratie«. Dabei ist die Fortsetzung des Mitte-Regimes die Grundlage weiterer Stärkung der harten Rechten. Tatsächlich müsste es eher darum gehen, aus dem Kampf gegen Rechtsaußen auch Perspektiven eines neuen Klassenkampfs für sozialökologische und basisdemokratische Auswege aus der multiplen Systemkrise zu eröffnen. Mangels entsprechend wirkmächtiger Kräfte bleiben die Aussichten indes denkbar düster.
Daniel Kreutz

*Eine gute Zusammenfassung fand sich damals in: Georg Jungclas: Die Formen des kapitalistischen Staates. Hamburg 1972.

Teile diesen Beitrag:
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Folgende HTML-Tags sind erlaubt:
<a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>



Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.


Kommentare als RSS Feed abonnieren