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Verkehr 1. Juni 2025

Ohne soziale Gerechtigkeit ist die Verkehrswende nicht zu haben
von Christine Poupin

Immer wieder wird Frankreich für seine zahlreichen Maßnahmen gepriesen, den Verkehr zu entschleunigen und auf öffentliche Verkehrsmittel umzuleiten. Dabei wurden natürlich einige Fortschritte gemacht; in der Zusammenschau zeigt sich aber auch, wo die Verkehrswende steckenbleibt, weil sie sich an den privaten Profitinteressen bricht.

Positiv ist vor allem zu nennen, dass sich eine echte Bewegung für kostenlose öffentliche Verkehrsmittel entwickelt.
47 Verkehrsnetze sind völlig kostenlos, das betrifft fast 2,8 Millionen Menschen. Neun dieser Netze gibt es in Städten bzw. Gemeinden mit mehr als 100.000 Einwohnern (Dunkerque, Niort, Aubagne, Calais, Arcueil, Douai, Bourges, Montpellier, Hénin-Carvin), zwölf in Städten und Gemeinden mit 50.000 bis 100.000 Einwohnern. Ein Dutzend Städte haben einen teilweisen Gratisfahrschein eingeführt (an Wochenenden, für Jugendliche…) In allen Fällen führte der Gratisfahrschein in Verbindung mit einer Verbesserung des Netzes zu einem Anstieg der Fahrgastzahlen im öffentlichen Nahverkehr. Getragen wird die Bewegung maßgeblich von der Union pour la Gratuité et le Développement des Transports publics, sie umfasst rund zwanzig lokale Kollektive und wird von den verschiedenen linken Kräften aus Gewerkschaften, Verbänden und Politik unterstützt.
Die Forderung nach kostenlosen Verkehrsmitteln richtet sich in der Regel an die Gebietskörperschaften, die für Mobilitätsfragen zuständig sind. Die Erhöhung des Mobilitätszuschlags hingegen ist eine Forderung, die sich an die Zentralregierung richtet.
Den Mobilitätszuschlag muss jedes Unternehmen mit mehr als zehn Beschäftigten bezahlen, er dient der Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs und ist je nach Stadt, Größe und vorhandenem öffentlichen Nahverkehr unterschiedlich hoch. Das ist eine wichtige Errungenschaft, die verteidigt und ausgeweitet werden muss. Es ist ein wichtiger landesweiter politischer Kampf, dass die Regierung gezwungen wird, den Zuschlag anzuheben, um einen kostenlosen Zugang zum öffentlichen Nahverkehr zu finanzieren.

Die negativen Seiten überwiegen
Trotz dieser Maßnahmen werden in Frankreich immer noch laut einer Studie vom 17.April 2025 fast 80 Prozent der gefahrenen Kilometer mit dem eigenen Auto zurückgelegt; 83 Prozent der Haushalte besitzen mindestens ein Auto. Die Reduzierung des Autoverkehrs ist eine absolute Notwendigkeit, aber die Kriterien, die den Privat-Pkw aus den Umweltzonen aussperren und die Art ihrer Umsetzung stoßen in der Bevölkerung auf tiefe Ablehnung.
Beispielsweise werden ausschließlich das Alter und die Antriebsart des Fahrzeugs berücksichtigt, nicht sein Gewicht. Die Umsetzung läuft äußerst schleppend und die Regierung kann den Zeitplan jederzeit aufheben.
Die Umweltzonen sind ein gutes Beispiel dafür, dass eine umweltfreundliche Politik ohne soziale Gerechtigkeit nicht möglich ist. In vielen Städten werden zwar Maßnahmen zur Begrünung, zur Einschränkung oder gar zum Verbot des Autoverkehrs, zur Geschwindigkeitsreduzierung, zur Senkung und Verteuerung der Parkgebühren usw. ergriffen, doch betreffen diese Maßnahmen vor allem die Stadtzentren, in denen die wohlhabenderen Bevölkerungsgruppen wohnen. Die Ärmsten sind gezwungen, die ältesten Fahrzeuge zu nutzen, ein neues Auto können sie sich oft nicht leisten, pendeln aber von weit her in die Städte ein. Die schweren SUVs der Reichen hingegen bleiben verschont.
Auch Fahrgemeinschaften sind eine gute Idee, die in die Irre geführt wird. Es ist positiv, den Besetzungsgrad von Fahrzeugen zu erhöhen, wenn dies tatsächlich zu einer Verringerung des Verkehrsaufkommens führt. Das ist aber nicht unbedingt der Fall. Die Betreiber sind Privatunternehmen, die damit vor allem Energiesparzertifikate erwirtschaften wollen – sodass der Staatsrat im vergangenen Jahr das Dekret zur Finanzierung der 100-Euro-Prämie für neue Fahrgemeinschaften annulliert hat.
Ganz problematisch ist die Situation im Bahnverkehr. Die SNCF, ein Unternehmen, dessen Hauptaktionär der Staat ist, ist von einem sicheren und effizienten Transportdienstleister zu einem kommerziellen Unternehmen wie jedes andere geworden. Die Nutzer:innen sind zu Kund:innen geworden, die Preise steigen unaufhörlich (allein 2023 um 8,2 Prozent), und der Service wird ausgedünnt: Verbindungen, die als unrentabel galten, wurden eingestellt, Schalter an den Bahnhöfen oder gar die Bahnhöfe selbst geschlossen.
Laut einer Umfrage des deutschen Verbands Allianz pro Schiene ist Frankreich im europäischen Vergleich Schlusslicht bei den öffentlichen Investitionen pro Kopf in die Schieneninfrastruktur – es gibt dafür zehnmal weniger aus als Luxemburg. Der Bahn wird eine Rentabilitätslogik aufgezwungen, die das Management dazu veranlasst, Hochgeschwindigkeitszüge zu bevorzugen – auf Kosten der regionalen Strecken.
Der Staat reduziert die öffentlichen Investitionen, die für den Erhalt und die Entwicklung eines veralteten Netzes notwendig sind, und verlangt von der SNCF, die Mittel für die Instandhaltung selber aufzubringen (6,5 Mrd. Euro). Die Instandhaltung der regionalen Strecken wird auf die Regionen abgewälzt. Die Folge ist eine allgemeine Desorganisierung des Bahnnetzes.

Eine Bewegung gegen den Autobahnausbau
Ein Bericht aus dem Jahr 2023 fordert 100 Milliarden Euro bis 2030 für die Verbindung der Ballungsräume mit ihren periurbanen und peripheren Räumen. Macron hat 2022 zehn Projekte für metropolitane regionale Expressdienste, eine Art metropolitane S-Bahn angekündigt; heute gibt es 26 Projekte mit Gütesiegel, aber die Finanzierung lässt auf sich warten.
Selbst der französische Premierminister Bayrou sagt: »Mehrere Dutzend Milliarden Euro sind notwendig, um unser Schienennetz sowie unsere nicht konzessionierten Straßen und Autobahnen auf Stand zu bringen und zu modernisieren.« Richtig! Aber unvereinbar mit den für den Haushalt 2026 angekündigten Einsparungen von 40 Milliarden und der Ablehnung jeder gerechten Steuerpolitik.
Die Einnahmen aus den Autobahngebühren könnten dauerhaft in sinnvolle Verkehrsprojekte umgeleitet werden, aber es ist unwahrscheinlich, dass die Regierung in die Konfrontation mit den Konzessionen geht.
La Déroute des routes, ein Zusammenschluss von 50 Kollektiven, die gegen umstrittene Straßenprojekte kämpfen, verlangt die Verstaatlichung der 4,5 Milliarden Euro, die die Autobahngesellschaften jedes Jahr an Gewinnen einfahren, um den Bedarf an Zügen, öffentlichen Verkehrsmitteln und Fahrrädern zu finanzieren. Zahlreiche Kollektive, auch die Neue Volksfront (NFP), fordern ein Moratorium für Straßenbauprojekte.
Das Autobahnprojekt »A69 Toulouse–Castres« konnte verhindert werden. Das ist nur ein Baustein für eine Bewegung, die das endlose Wachstum der Straßeninfrastruktur insgesamt in Frage stellt. Die zunehmende Versiegelung der Böden und die damit einhergehende weitere Urbanisierung bedrohen die Wasserressourcen und die Artenvielfalt und tragen massiv zu den Treibhausgasemissionen bei. Das produktivistische kapitalistische Modell führt in die Katastrophe.

Umbau des Verkehrs bedeutet auch Umbau der Gesellschaft
Private Transportkonzerne mit ihrer Logik des Wettbewerbs können nicht die Lösung sein. Sie müssen in öffentliche Hand überführt werden, damit die Organisation des Verkehrs einer anderen Logik folgen kann – einer der öffentlichen Dienstleistung, mit guten Arbeitsbedingungen und verbrauchernahen Leistungen. Dann kann die Nutzung des Autos drastisch reduziert oder sogar ganz aufgegeben werden.
Kostenlose und zugängliche öffentliche Verkehrsmittel für den täglichen Bedarf in Verbindung mit einer umfassenden Entwicklung der Netze und Frequenzen unter der Kontrolle und Beteiligung der Nutzer:innen und Beschäftigten sind ein Garant für Gleichheit und soziale und territoriale Gerechtigkeit.
Um ein Leben ohne Auto zu organisieren, müssen die Wege zur Arbeit und zu öffentlichen Einrichtungen verkürzt und der Bau von Einkaufszentren sowie das Wachstum der Metropolen gestoppt werden. Die Befreiung des öffentlichen Raums von Autos und Lastwagen schafft Platz für Fahrräder und das Gehen, für eine geselligere und gesündere Nutzung. Für mittlere und lange Strecken muss der Bahn Vorrang eingeräumt werden, durch erschwingliche und transparente Preise, regelmäßige Taktungen, die Wiedereinführung von Nachtzügen und die Wiedereröffnung von aufgegebenen Bahnhöfen und Strecken.
Es ist auch dringend notwendig, weniger Güter zu transportieren und den Güterverkehr von der Straße zu holen. Alle Produktions- und Vertriebsketten müssen auf den Prüfstand gestellt werden. In städtischen Gebieten sollte die Lieferung über die letzten Kilometer mit umweltfreundlichen Transportmitteln über multimodale Plattformen organisiert werden.

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