Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 01/2018
Massenprozess gegen über tausend Wissenschaftler wegen «Terrorismus»
von Hasan Bozkaya

Bei der Parlamentswahlen am 7.Juni 2015 verlor Erdogans Partei AKP ihre Mehrheit im türkischen Parlament. Die AKP konnte alleine keine Regierung bilden. Auf diese Niederlage reagierten Erdogan und seine Kumpanen mit einer zweigleisigen Strategie. Einerseits verhinderten sie mit allen Mitteln Koalitionsgespräche, andererseits starteten sie massive militärische Operationen gegen kurdische Städte. Schon nach zwei Monaten sah es in den kurdischen Städten Cizre, Nusaybin und in den historischen Stadtteilen von Diyarbakir aus wie im Kriegsgebiet von Syrien. Berichte aus unabhängigen Quellen belegen, dass durch die Militäroperationen innerhalb eines Jahres 1552 Personen getötet wurden, 1683 Personen wurden verwundet und etwa 400000 Menschen wurden gezwungen, ihre Städte und Dörfer zu verlassen.

Eine Gruppe AkademikerInnen, die diese Entwicklung nicht widerstandslos hinnehmen wollten, veröffentlichten im Januar 2016 einen Aufruf mit 1128 Unterschriften. Er trägt die Überschrift: «Wir werden nicht an diesem Verbrechen beteiligt sein.» Darin forderten sie die Regierung auf, «die Ausgangssperre aufzuheben, diejenigen zu bestrafen, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, und jene Bürger zu entschädigen, die materielle und psychologische Schäden erlitten haben». Der Aufruf fand in der Bevölkerung breite Zustimmung. In kürzeste Zeit stieg die Zahl der Unterzeichneten auf über 2200. Das war zu viel für Erdogan! Er beschuldigte sie des Landesverrats und des Terrorismus.

Der hörigen türkischen Judikative und den Universitätsrektoren waren Erdogans Äußerungen Befehl. Die Akademiker, die den Aufruf unterzeichnet hatten, wurden von ihren Universitätsposten suspendiert, ihre Arbeitsverträge gekündigt und alle wurden von den fleißigen Staatsanwälten angeklagt. In der Anklageschrift wird ihnen die «Propaganda einer terroristischen Vereinigung» nach Artikel 7/2 des Antiterrorgesetzes Nr.3713 vorgeworfen. Obwohl alle 1128 Unterzeichneten angeklagt wurden, traut sich die Staatsanwaltschaft nicht, einen Massenprozess durchzuführen. Die Angeklagten wurden in kleine Gruppen geteilt. Die ersten Gerichtsverhandlungen begangen am 5.Dezember 2017, dabei wurden 148 Akademiker aus 15 Universitäten vor Gericht gestellt. J.Butler von der University of California und B.Ertür von der University of London berichteten darüber: «Diese von den Obersten Strafgerichten in Istanbul durchgeführten Prozesse konzentrieren sich jeweils auf eine einzelne Person. Derzeit sind 148 Verfahren bis Mai 2018 geplant, wobei neue Anhörungen in den kommenden Wochen und Monaten angekündigt werden sollen. Aber die Anklage ist für alle gleich. Jedem Unterzeichner wird vorgeworfen, ‹Propaganda für eine terroristische Vereinigung zu machen›, und wenn er für schuldig befunden wird, droht ihm eine Gefängnisstrafe bis zu siebeneinhalb Jahren.»

 

Wissen sucht Gesellschaft

Der erwähnte Aufruf ist nicht die erste und nicht die einzige Aktion der sogenannten «Akademiker für Frieden». Sie beschreiben ihre Aktivitäten selber folgendermaßen: «‹Akademiker für Frieden› wurde im November 2012 nach einer Erklärung gegründet, die die Forderung von hungerstreikenden kurdischen Gefangenen nach Frieden in der Türkei unterstützte. Diese Erklärung wurde von 264 Akademikern aus über 50 Universitäten unterzeichnet. In ihrer ersten Sitzung im Dezember 2012 beschlossen die AkademikerInnen für Frieden, sich für einen Friedensprozess in der Türkei einzusetzen und dazu beizutragen, indem sie Wissen und Informationen zu Themen wie Friedens- und Konfliktprozesse, Praktiken der Friedensschaffung, die Rolle der Frau im Friedensprozess, die Erziehung in der Muttersprache und die Zerstörung der Umwelt durch Krieg bereitstellen. Zwischen den Jahren 2013 und 2016 unterzeichneten die Akademiker Petitionen und organisierten verschiedene öffentliche Treffen.»

Unter dem Druck der Verfolgungsatmosphäre und der Arbeitslosigkeit haben manche Unterzeichneten die Türkei inzwischen verlassen. Die überwiegende Zahl aber blieb und versucht, den Widerstand gegen das autoritäre Regime fortzusetzen. Sie organisieren Lesungen im Rahmen von Solidaritätsakademien. Ziel ist es, die teilnehmenden Studierenden für gesellschaftspolitische Themen zu sensibilisieren. Inzwischen sind solche «Akademien» in zehn Städten entstanden, darunter Ankara, Istanbul, Izmir, Dersim. Die Beteiligten erklären ihre Arbeit folgendermaßen:

«Als  Akademiker, die aus den universitären Strukturen vertrieben wurden, weil wir von unserem Aufruf zum Frieden nicht zurückgetreten sind, halten wir unsere Verbindung zu den akademischen Wissensprozessen durch alternative lokale akademische Organisationen aufrecht. Die ersten Schritte zu Solidaritätsakademien haben Solidaritätsklassen aus Eskisehir unternommen, gefolgt von den ‹With NO-Campus Academics› aus Istanbul. Unser Ziel ist es, die akademische Wissensproduktion mit dem Schwerpunkt auf Frieden, Gewaltfreiheit und Gerechtigkeit mit gesellschaftspolitischen Bereichen in Verbindung zu bringen. Wir wollen solche Wissensproduktionsprozesse in außeruniversitären Bereichen fortsetzen.»

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