Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2016

Gelungenes Beispiel für eine andere Politik?
von Johanna Scheringer-Wright

Zu Beginn der Regierungszeit von Rot-Rot-Grün (r2g) 2014 machte Thüringen Schlagzeilen mit einer menschlicheren und weltoffenen Flüchtlingspolitik. Ministerpräsident Bodo Ramelow demonstrierte persönlich und medienwirksam die Weltoffenheit und Hilfsbereitschaft Thüringens beim Empfang von Geflüchteten. Jetzt bröckelt diese Weltoffenheit. Thüringen wurde vom Rechtsruck der Bundesregierung und in der Gesellschaft und von einer bedingungslosen Rechtskonformität eingeholt. Um soziale und christliche Demokraten zu erreichen, wird eine weitere Verschiebung der Wählerbasis durchaus in Kauf genommen, dabei gehen nicht nur abgelehnte Asylbewerber verloren, sondern auch Teile der traditionellen linken Wählerbasis.

Signal Winterabschiebestopp
Eine der ersten Amtshandlungen von «r2g» war im Dezember 2014 ein Winterabschiebestopp, wie ihn SPD, LINKE und Grüne in den Jahren zuvor aus der Opposition heraus gefordert hatten. Dieser Abschiebestopp 2014/2015 kam zwar nur etwa 120 Geflüchteten aus den Balkanstaaten zugute, setzte aber deutschlandweit ein Signal für eine andere Flüchtlingspolitik (ähnliches gab es nur noch in Schleswig-Holstein). Für dieses Signal wurde die Landesregierung von vielen Gruppen, die sich für eine humane Flüchtlingspolitik einsetzen, gelobt, auch der eigenen linksorientierten Wählerschaft gab die Regierung damit ein Zeichen, dass sie umsetzt, was im Wahlkampf versprochen wurde.

Natürlich gab es massiven Protest seitens der bürgerlichen Presse, von CDU und AfD. Auch die SPD sprach sich spätestens in der Bundestagsdebatte zur Asylrechtsverschärfung und zur Erklärung der Balkanstaaten als sichere Herkunftsländer, vehement gegen einen weiteren Winterabschiebestopp aus. Die AfD brachte den Winterabschiebestopp sogar vor den Thüringer Verfassungsgerichtshof. Dieser wies die Klage der AfD jedoch ab – aus nachvollziehbaren Gründen, handelte es sich bei diesem Winterabschiebestopp doch um eine zeitlich begrenzte Anordnung, die Bleiberecht, Rückführung oder Abschiebung zu einem anderen Zeitpunkt nicht berührte.

Fluchtursachen und Kapazitäten
Die Fluchtursachen liegen im kapitalistischen System. Auch in Deutschland und in Thüringen profitieren Firmen und Exporteure von Maßnahmen, die Menschen in die Flucht treiben. So gibt es in Thüringen eine kleine, aber feine Rüstungsindustrie, die vom Export von Waffen und Rüstungsgütern profitiert. Damit befeuert auch Thüringen die vielen großen und kleinen Kriege in der Welt, in deren Folge ganze Staaten zerstört werden und in bürgerkriegsähnlicher Gewalt versinken. Thüringen trägt durch den Ausstoß klimaschädlicher Gase immer noch zum Klimawandel bei und forciert auch damit Migration. Und nicht zuletzt ist die Wirtschaft in Thüringen an der Erzeugung der Handelsbilanzüberschüsse beteiligt, die andere Länder wirtschaftlich förmlich aussaugen und in den Ruin treiben. Das gilt auch für Nahrungsmittel, die im Einklang mit der europäischen Agrarpolitik hier erzeugt und von hier aus exportiert werden. Wenn Menschen dann als Flüchtlinge nach Thüringen kommen, ist es also nicht nur humanitärer Anspruch, sie aufzunehmen und ihnen zu helfen, sondern auch ein Gebot der Übernahme von Verantwortung.

Dieser Aufgabe haben sich sowohl die Thüringer Landesregierung als auch Tausende Einwohnerinnen und Einwohner gestellt. Eine außerordentliche Hilfsbereitschaft hat dazu geführt, dass sich Hunderte Menschen ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe engagieren und die Behörden und die Geflüchteten in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß unterstützen.

Thüringen hat seit dem Beitritt der DDR zur BRD rund 450000 Einwohner durch Abwanderung verloren. Sie zeigt sich in den Städten in vermehrtem Leerstand von Wohnungen und in den Dörfern in verwaisten Häusern und Gehöften. Trotz massivem Abriss von Wohnblöcken war auch 2015 immer noch genug Leerstand an Wohnungen und ehemaligen Einrichtungen der öffentlichen und privaten Infrastruktur (auch von Militäranlagen) vorhanden, um Flüchtlinge warm und trocken unterzubringen. Zelte für die Unterbringung mussten in keinem Landkreis aufgestellt werden, überall waren ausreichend Kapazitäten vorhanden, auch wenn dies zum Teil Massenunterkünfte, etwa leerstehende Markthallen, waren.

In den Thüringer Erstaufnahmeeinrichtungen wurden im Jahr 2014 insgesamt 6135 Flüchtlinge, 2015 insgesamt 29622 Flüchtlinge registriert. Im neuen Jahr wurden bis zum 31.Januar 2358 Flüchtlinge erfasst. Jetzt geht die Zahl der neu ankommenden Geflüchteten gegen Null.

Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass Thüringen etwa 22000 Geflüchtete aufgenommen hat, die in Thüringen geblieben sind bzw. bleiben. Genaue Aussagen dazu sind schwierig, weil Geflüchtete versuchen, Familienangehörige, Freunde und Bekannte wiederzufinden, und sobald sie wissen, wo diese sind, oftmals mit oder ohne vorherige Registrierung dorthin reisen.

Die Unterkunft
Für die Erstaufnahme konnte das Land nach anfänglicher Überbelegung von Suhl und Eisenberg leerstehende Kasernen in Ohrdruf und Mühlhausen und das nicht mehr genutzte, frühere Krankenhaus der Wismut nutzen. Zeitweise kam es in diesen Erstaufnahmestellen zu Problemen: Die Mitarbeiter vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) waren heillos damit überfordert, Erstgespräche zu führen und für eine reibungslose Versorgung zu sorgen. In einigen Aufnahmestellen, z.B. in Ohrdruf, erhielten die Geflüchteten über Wochen keine finanzielle Unterstützung.

Bei der Verteilung nach der Erstaufnahme auf die Kommunen zeigten sich Unterschiede in den Herangehensweisen der Landräte. Während einzelne Kreise die Unterbringung selbst organisierten, gaben andere diese Aufgabe an Trägergesellschaften ab. Unterschiedlich war auch die Unterbringung in öffentlichen Einrichtungen. Da Landräte die Hoheit über die Schulbauten haben, wurden in vielen Kreisen erst einmal Turnhallen und Förderschulen belegt, was bedeutete, dass Kinder keinen Sportunterricht in Hallen mehr hatten oder weitere Wege für ihren Unterricht in Kauf nehmen mussten. An manchen Orten, so in der Kreisstadt Heiligenstadt im Eichsfeld und in Waltershausen, waren das Steilvorlagen für die NPD und andere rechtsgerichtete Organisationen, um gegen die Unterbringung der Flüchtlinge zu demonstrieren und demagogisch von einer «Überschwemmung mit Flüchtlingen» zu fabulieren.

Auch in Thüringen gab es Angriffe auf Geflüchtete, auf Helfer und Unterkünfte. Offiziell bekannt sind für die ersten zehn Monate des Jahres 2015 37 Straftaten gegen Flüchtlings- bzw. Asylbewerberunterkünfte und 152 fremdenfeindliche Straftaten. Von den registrierten 37 Straftaten wurden 23 Fälle der «politisch motivierten Kriminalität/rechts» zugeordnet. Von den registrierten 152 fremdenfeindlichen Straftaten wurden ihr 150 Fälle zugeordnet. Wie hoch die Dunkelziffer ist, lässt sich nur schwer einschätzen. Die Erfassung und Aufklärung wird erschwert, weil einerseits bei den Opfern ihr Status nicht erfasst wird, andererseits aber auch bei der Polizei selbst Vorurteile und Befindlichkeiten bestehen, die eine Aufnahme von Straftaten, ein schnelles Eingreifen oder die Aufklärung behindern.

Die Crux mit den Abschiebungen
«Die Landesregierung hält sich an Recht und Gesetz – einen ‹Abschiebestopp für abgelehnte Asylbewerber› gibt es nicht. Die Landesregierung setzt, wie schon die Vorgängerregierung, bestehendes Bundesrecht um. Sind die Voraussetzungen für einen Aufenthalt in Thüringen nicht erfüllt, beispielsweise aufgrund eines abgelehnten Asylantrages, wird der betreffende ausländische Staatsbürger zur Ausreise aufgefordert. Er hat – in Thüringen wie überall in Deutschland – einen Monat Zeit, dieser Ausreiseaufforderung nachzukommen. Wird der freiwilligen Ausreise nicht nachgekommen, sind die Ausländerbehörden – selbstverständlich auch die Thüringer – dazu verpflichtet, den Aufenthalt in Deutschland zwangsweise zu beenden.» So kann man es auf der Webseite der Thüringer Staatskanzlei lesen. Ende 2015 waren 461 Menschen abgeschoben worden, mehr als im Jahr davor. Dieses Jahr, nach dreieinhalb Monaten, sind es schon 200. Damit bedient die Landesregierung inzwischen faktisch diejenigen, die in unterschiedlicher Deutlichkeit, aber geistiger Einigkeit erklären: «Das Boot ist voll».

Dagegen hat DIE LINKE in ihrem derzeit gültigen Programm festgelegt, dass Menschen, die vor Menschenrechtsverletzungen geflohen sind, nicht abgewiesen oder abgeschoben werden dürfen, und fordert offene Grenzen für alle.

Die Flüchtlingspolitik in Thüringen ist ein Beispiel dafür, wie nach anfänglicher Euphorie eine stetige Anpassung stattfindet, so dass sich der Eindruck verfestigt, dass die «andere Flüchtlingspolitik» sich in einer relativ kurzen Zeit in Wirklichkeit in einer anderen Rhetorik erschöpft. Vor dem Hintergrund, dass Tausende von Mitgliedern und Sympathisanten der LNIKEN über Jahrzehnte darauf hingearbeitet haben, linke Politik und Überzeugungen in praktische Politik umzusetzen, macht sich unter ihnen Enttäuschung breit. Für viele verhält sich DIE LINKE an der Regierung genauso, wie man es von SPD und Grünen schon kannte: versprochen – gebrochen. Ob das nur dem Erfüllungswillen des linken Führungspersonals gegenüber den Koalitionspartnern SPD und Grünen geschuldet ist, oder ob die linke Regierungsspitze die Wählerbasis der Partei noch weiter in die Mitte der Gesellschaft rücken will, muss weiter analysiert werden. Fakt ist, das linke Profil ist verwaschen, auch in der Flüchtlingsfrage, und zumindest Teile der Stammwählerschaft werden dies nicht goutieren.

* Johanna Scheringer-Wright ist Abgeordnete der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag und Mitglied im Bundesparteivorstand.

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