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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2013
Öcalans Friedensappell und die Reaktionen unter den Kurden
von Nick Brauns

In einem Friedensappell hat der gefangene Vorsitzende der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, anlässlich des kurdischen Newroz-Fests am 21.März zu einem Rückzug der Guerilla aus der Türkei aufgerufen. Vor zwei Millionen Menschen wurde in Diyarbakir die Erklärung verlesen, in der Öcalan zur Freiheit und Geschwisterlichkeit der bislang durch imperialistische Interventionskriege und künstliche Grenzen gegeneinander aufgehetzten und unterdrückten Völker im Mittleren Osten aufruft: «Eine Tür öffnet sich von der Phase des bewaffneten Widerstands zur Phase der demokratischen Politik.»

Öcalans Aufruf ist das Ergebnis eines seit mehreren Jahren geführten und nach mehrmaligem Abbruch durch die Regierung im vergangenen Jahr wieder aufgenommenen Dialogs mit Vertretern des türkischen Geheimdienstes. Angesichts einer Guerillaoffensive in der Türkei und der Übernahme der Kontrolle über weite Teile der kurdischen Siedlungsgebiete in Syrien entlang der türkischen Grenze durch eine Schwesterpartei der PKK im Sommer letzten Jahres, war die türkische Regierung zur Erkenntnis gelangt, der kurdischen Frage nicht mehr allein mit militärisch-polizeilichen Mitteln beikommen zu können. Es versteht sich, dass das primäre Interesse der neoliberal-islamischen AKP-Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der sich bei seinen Ambitionen auf das Amt des Staatspräsidenten auch kurdischer Unterstützung zu versichern sucht, nicht in einer demokratischen Lösung, sondern lediglich in der Eindämmung des kurdischen Aufstands besteht.

Waffenstillstand
Die PKK hat im Anschluss an Öcalans Newroz-Aufruf einen Waffenstillstand erklärt. Dabei behält sich die Guerilla das Recht zur Selbstverteidigung vor. Schließlich werden türkische Militäroperationen ja fortgesetzt, wenn auch auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau. Als vertrauensbildende Maßnahme hat die PKK acht in ihrer Gewalt befindliche Staatsbeamte freigelassen, während einige wenige der rund 9000 kurdischen politischen Gefangenen, wie der Bürgermeister der Großstadt Van, Bekir Kaya, aus türkischer Untersuchungshaft entlassen wurden.
Es sei ein schwerer Fehler des Staates gewesen, seine nichttürkischen Bürger gewaltsam zu Türken gestempelt zu haben, gestand Staatspräsident Abdullah Gül (AKP) ein. Eine neue Verfassung könne auch ohne eine Definition aller Staatsbürger als «Türken» auskommen, griff der Präsident eine zentrale Forderung Öcalans auf. Eine auf Antrag der AKP gebildete Parlamentskommission «zur Begutachtung des Lösungsprozesses», deren Einrichtung von der kemalistischen und faschistischen Opposition boykottiert wird, ist allerdings von einer Wahrheits- und Versöhnungskommission noch weit entfernt.
Bei der PKK-Führung herrscht Skepsis: «Wir sind uns bewusst, dass die Türkei in der Krise ist und den Frieden dringend braucht, aber andererseits wissen wir auch, dass die AKP als Regierungspartei den Friedensprozess und die Waffenruhe in die Länge ziehen wird, ohne eine echte Lösung für den Frieden anzubieten», erklärte PKK-Führungskader Murat Karayilan Anfang April gegenüber dem Sender Al Jazeera. «Zur Zeit befinden wir uns in einer Situation der Stärke und sind bereit für einen Krieg, aber wir wollen den Frieden.» Als Gegenleistung für einen Rückzug ihrer bewaffneten Kräfte fordert die PKK Rechtsgarantien des Parlaments, um nicht, wie bei einem Rückzug im Jahre 1999, von der Armee angegriffen zu werden. Dagegen fordert Erdogan die Niederlegung der Waffen als Voraussetzung für freies Geleit. Erst wenn die Existenz, Freiheit und Sicherheit der Kurden gesetzlich und in der Verfassung garantiert seien, könnten die Waffen niedergelegt werden, stellte dagegen Öcalan im April in einem Brief an die PKK-Führung klar.

Zwiespältige Reaktionen
Zwar zeigen sich Abgeordnete der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), die als «Briefträger» zwischen der Gefängnisinsel Imrali und dem Kandil-Gebirge pendeln, zuversichtlich über einen baldigen Beginn des Abzugs. Doch die weiterbestehende Insolationshaft Öcalans, der keinen direkten Kontakt zur PKK-Führung aufnehmen kann, ist ein Hindernis für den Friedensprozess.

Ein von Erdogan handverlesener 63-köpfiger Weisenrat, dem neben AKP-nahen Journalisten und Wirtschaftsvertretern auch Künstler, Akademiker sowie einige linke Oppositionelle – wie der selber unter Terrorismusanklage stehende Gewerkschaftspräsident Lami angehören, soll die türkische Öffentlichkeit für die Unterstützung des Friedensprozesses gewinnen. Denn in Teilen der Bevölkerung gibt es massive Vorbehalte gegen Verhandlungen mit dem jahrzehntelang nur als «Terroristenchef» titulierten Öcalan. 90-jährige Verleugnungspolitik gegenüber den Kurden, nationalistische und militaristische Verhetzung durch Politik, Schule, Armee und Medien haben tiefe Spuren hinterlassen.
Die Passagen von Öcalans Newroz-Aufruf, in denen er das jahrtausendlange geschwisterliche Zusammenleben von Türken und Kurden unter dem Banner des Islam ebenso wie den gemeinsamen Kampf im Ersten Weltkrieg und im Befreiungskrieg betont, richten sich daher an die türkische Öffentlichkeit. Öcalan habe sich vom Marxisten zum «islamischen Demokraten» entwickelt, jubelte ein Kolumnist der regierungsnahen Tageszeitung Zaman. Obwohl Öcalan, ebenso wie die BDP, sich immer gegen einen Missbrauch der Religion zu politischen Zwecken gewandt hat und für die rechtliche Gleichstellung aller ethnischen und religiösen Minderheiten eintritt, lösen derartige Äußerungen unter der alevitischen Religionsgemeinschaft Befürchtungen aus, einem türkisch-kurdischem Bündnis im Namen des sunnitischen Islam zum Opfer zu fallen. Dagegen wirft der türkischstämmige Soziologe Ismail Besikci, der für seine Forschungen zur kurdischen Frage 17 Jahre in Haft verbrachte, Öcalan «Verrat an der kurdischen Sache» vor: «Wenn Öcalan sich an diese Parolen klammert, mag er vielleicht den türkischen Staat beruhigen, aber damit bringt er den Kurden weder Rechte noch Freiheit.»
Bei der legalen sozialistischen Linken, die teilweise mit der BDP in der gemeinsamen Dachpartei «Demokratischer Kongress der Völker» (HDK) zusammengeschlossen ist, war das Echo auf Öcalans Aufruf überwiegend positiv. «Was betrügt ihr euch selbst? Von was für einem ‹Abkommen›, was für einem ‹Frieden› sprecht ihr in einem Land, in dem die Menschen jeden Tag von Polizeioperationen aufgeweckt werden?», heißt es dagegen in einem Schreiben, mit dem sich die antiimperialistische Revolutionäre Volksbefreiungsfront-Partei DHKP-C zu Anschlägen auf das Justizministerium und AKP-Büros in Ankara bekannte.

Tatsächlich ist es noch verfrüht, von einem Friedensabkommen zu sprechen. Wir erleben vielmehr den Beginn einer Dialogphase, in der es um die Herstellung gegenseitigen Vertrauens der Verhandlungspartner und der Gewinnung der Öffentlichkeit geht. Dass die Regierung mit der offiziellen Anerkennung Öcalans und damit indirekt auch der PKK als Verhandlungspartner eines der stärksten Tabus in gebrochen hat, ist der bislang wichtigste psychologische Erfolg in diesem Prozess.
Noch ist ungewiss, ob es wirklich zu einem Lösungsprozess kommen wird. Ob eine solche Lösung weitergehende emanzipatorische Perspektiven für die Türkei eröffnet, hängt nicht zuletzt davon ab, inwieweit sich sozialistische, laizistische und gewerkschaftliche Kräfte sowie unterdrückte Minderheiten wie die Aleviten mit ihren Forderungen und ihrem Potenzial in den Friedensprozess einbringen. «Diejenigen, denen es an Selbstvertrauen mangelt, beurteilen die gegenwärtige Phase nur in Bezug auf die AKP-Regierung und ihre Politik», erklärt der BDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas gegenüber Kräften, die in einer Blockadehaltung verharren, weil sie befürchten, dass die AKP gestärkt aus diesem Prozess herausgeht. «Sie manövrieren die Angelegenheit in eine Sackgasse, weil sie nicht über die Diskussion um das Vertrauen in die AKP und ihre Unzuverlässigkeit hinausgehen. Es geht hier aber um Selbstvertrauen und das Vertrauen in den eigenen Kampf, nicht um das Vertrauen in die AKP.

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