von Ale Schmitz
Die Linken haben keine Zeit, Revolution zu machen. So gesehen sind sie tatsächlich der bewussteste Teil der Bewegung – denn die meisten Menschen klagen darüber, dass sie zu wenig Zeit haben. Aber die Revolution soll man ja auch nicht in der Freizeit machen, sondern in den Betrieben, oder? Seit den 70er Jahren wird darüber eher weniger nachgedacht.
Und weil die Revolutionäre keine Zeit oder keine Lust oder keine Gelegenheit für die Befreiung der Gesellschaft haben, haben sie ab Mitte der 70er Jahre regalweise Entschuldigungsliteratur angehäuft. Da wurden die Ansprüche und Maßstäbe verkleinert (Leopold Kohr), es wurde sich vom Proletariat verabschiedet (Andé Gorz), Diskursethik gepredigt (Jürgen Habermas) und für die Ökologie waren sowieso alle. Von den Psychokisten und vom Poststrukturalismus einmal ganz zu schweigen.
Und heute haben die Linken oder sagen wir besser das linksliberale Milieu, das Gefühl, dass alles viel zu schnell geht. In seinem Essay Beschleunigung und Entfremdung* schreibt der Soziologe Hartmut Rosa: «Wir sind schlicht niemals in der Lage, unsere To-do-Listen vollständig abzuarbeiten», so dass sich die Individuen am Ende eines Tages auf gewisse Weise schuldig fühlen, sie sind zu langsam. Deshalb empfehlen laut Rosa Psychologen und andere Optimierungsprofis, diesen Zustand der Überforderung als normal zu begreifen. Die E-Mails, die man lesen soll, werden niemals alle, es gibt stetig neue Deadlines und überfordernde Verdichtungen von Arbeit – aber in der säkularen Gesellschaft fehlt dem einzelnen «jegliche Aussicht auf Nachsicht oder Vergebung». Das nennt Rosa die «stumme zeitliche Kraft», der er einen «geradezu totalitären Charakter» zuspricht.
Durch technologische Innovation scheint sich der Raum «dank der Geschwindigkeit von Transport und Kommunikation geradezu ‹zusammenzuziehen›.» In die banalste Alltagserfahrung hinein herrschen Beschleunigung und Zeitmangel. Man muss sich nur einmal die ständige Veränderung der Tarife von Versicherungen und Kommunikationsunternehmen betrachten. Und wer liest schon das Handbuch beim neu erworbenen Elektrogerät? Wer die Geschäftsbedingungen, mit denen man sich im Internet per einfachen Mausklick ruckzuck «einverstanden» erklärt? Von dieser «Gegenwartschrumpfung» (Hermann Lübbe) lenkt man sich ab durch neue Kaufakte: «Wir finden oder nehmen uns nicht die Zeit, die Brüder Karamasow zu lesen – und kaufen uns stattdessen auch noch Der Idiot», schreibt Rosa, anscheinend aus eigenem Erleben.
Das ist sozusagen die Beschleunigung der Kapitalzirkulation im ganz kleinen Maßstab. Über den großen lässt sich Rosa wohlweislich nicht aus, er lässt die Frage offen, «ob die Logik des zeitlichen Wandels (rein) ökonomisch ist oder nicht». Stattdessen fragt er sich, warum der «Fernseher eine seltsame Macht auf uns ausübt». Ist der erst mal angeschaltet, guckt man auch den größten Schwachsinn. Unter dem Strich bleibt rein normativ eine Unterscheidung von Erlebnis (nicht so gut) und Erfahrung (viel besser) im Sinne von Walter Benjamin. Von der Suche nach dem «guten Leben» bleibt bei Rosa die Forderung, dass man gegen die «Rhetorik des Müssens» über eine andere Form nachzusinnen habe, wie man von sich aus der Welt begegnen könne. Nachhaltiger, intensiver, bewusster... so wie es noch in jedem Parteiprogramm der Grünen gestanden hat. Politisch ohne jedes Ergebnis.
Rosa kämpft für eine Weltbetrachtung in Zeitlupe, nur: wo ist die Fernbedienung? Er ist ja von Hause aus auch eher Kommunitarist, gehört also zum Flügel der ahistorischen Schön-dass-wir-mal-drüber-geredet-haben-Philosophie. Die Kritische Theorie führt er nur im Untertitel seines Buches, sie ist reine Behauptung. Verglichen mit Rosa ist der betagte Hans Magnus Enzensberger, der am 1.März in der FAZ gefordert hat, man solle sein Handy wegwerfen, damit endlich mal Ruhe einkehrt, ein radikaler Denker. Wenngleich die an dieser Stelle in SoZ 3/2014 besprochenen Akzelerationisten, die leninistischen Beschleuniger aus dem Merve-Verlag, politisch viel weiter sind. Sie suchen nach der Revolution auf der Höhe der technischen Entwicklung. Dagegen haben die Medienberichte über den Wissenschaftler Hartmut Rosa stets die gleiche Pointe: Es ist schwierig, mit ihm zu reden, weil er nie Zeit hat.
*Hartmut Rosa: Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer Kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Berlin: Suhrkamp, 2013. 156 S., 20 Euro.
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