Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2015
Solidarität im Umgang mit Flüchtlingen gefordert
von Angela Klein

Ein Mitte September in Panorama ausgestrahlter Beitrag ging der Frage nach, weshalb es in diesem Jahr 61 Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte gegeben hat, aber nur 10 davon aufgeklärt wurden. Der dazu befragte Ermittlungsleiter beim polizeilichen Staatsschutz in Sachsen erklärte dazu, die Täter kämen nicht mehr nur aus dem rechtsextremen Rand, sondern mehr und mehr aus der «Mitte der Gesellschaft». Gezeigt wurde ein Finanzbeamter, der sich nach Aussagen der Präsidentin des Landesverfassungsschutzes als «Vollstrecker einer Mehrheitsmeinung» wähnte, die von der Politik nicht mehr gehört würde. Pegida eben.
Dieser braunen Strömung, die sich schon bei den Pegida-Aufmärschen Anfang des Jahres eines großen Verständnisses am rechten Rand der Union erfreuen durfte, wird jetzt erneut von oberster Stelle, nämlich vom Bundesinnenminister, der Hof gemacht. Sein Gesetzentwurf für eine Reform der Asylverfahren spuckt allen ins Gesicht, die sich in den letzten Jahren für einen menschlicheren Umgang mit Flüchtlingen eingesetzt haben – und in vorderster Front den Zehntausenden freiwilligen Helferinnen und Helfern, die sich bis an den Rand der Erschöpfung dafür stark gemacht haben, der Welt mal ein anderes Bild von Deutschland zu vermitteln als das eines egoistischen Herrenvolks. Er macht sich den Umstand zunutze, dass die EU sich lange nicht auf eine Quotenregelung einigen konnte, um eine Gegenoffensive gegen Frau Merkels Ansatz zu fahren, die das Dublin-Abkommen zurecht für tot erklärt hat und das «gesamte System neu gestalten» wollte.
Was de Maizière vorschlägt, ist nichts weniger als die Liquidierung der letzten Schlupflöcher, die im Asylgesetz noch geblieben sind. Wer keine Rechte mehr hat, nicht einmal mehr das auf Nahrung und Unterkunft, ist vogelfrei, er darf gejagt werden. So darf die Bundespolizei künftig an der Grenze jeden Flüchtling pauschal verhaften und zurückschicken mit der Behauptung, Deutschland sei nicht zuständig. Und im Landesinneren jeden aufgreifen, der sich außerhalb der vorgesehenen Lager aufhält. Dieses Vorgehen findet seine Entsprechung in einem Beschluss der EU, auf dem Mittelmeer sieben Kriegsschiffe, einen Flugzeugträger, U-Boote und Drohnen, um Schleuserboote aufzuspüren und zu zerstören. Die Bundesregierung will sich daran beteiligen, der Bundestag soll das demnächst beschließen.
Wer aber zulässt, dass Menschengruppen in unserem Land gejagt werden, und sei es von oberster Stelle, nämlich von den Behörden, von den staatlichen Organen selbst, der kündigt den bislang immer noch bestehenden, wenn auch prekären, Konsens in dieser Gesellschaft, dass Rassismus zumindest keine offene Option sein darf. Der leistet den Rechtsextremen, die immer schon gesagt haben, dass «die da nicht zu uns gehören», gewaltigen Vorschub. Der spricht geradezu eine Einladung an sie aus, die Fremdenfeindlichkeit im Land ordentlich zu schüren, damit der Staat noch mehr Verständnis für sie zeige. Der ist ein geistiger Brandstifter. «Das ist dann nicht mein Land», sagt die Kanzlerin dazu, und man möchte ihr danken für solche Worte, selbst wenn man weiß, dass sie mit dem Satz von der «Notsituation», in der man hätte handeln müssen, das «freundliche Gesicht», das Deutschland der Welt gezeigt hat, zur Hälfte wieder zurücknimmt.
In den letzten Jahren und Monaten hat es eine Flut von Stellungnahmen – von Unternehmern, Gewerkschaften, Kirchen, Verbänden, Nichtregierungsorganisationen, wissenschaftlichen Instituten usw. – gegeben, die alle haarklein nachweisen, dass Deutschland die finanziellen Mittel und die sozialen Voraussetzungen hat, nicht nur die 200.000 Menschen aufzunehmen, die in diesem Jahr schon hierhergekommen sein sollen (so genau weiß das niemand), sondern weitaus mehr. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) rechnet vor, dass jährlich im Durchschnitt 533.000 Menschen mehr zu- als abwandern müssen, um den Rückgang der Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter auszugleichen. Vorausgesetzt, sie werden in jeder Beziehung schnell und unbürokratisch integriert. Aber sie werden nicht integriert und sollen es künftig weniger denn je. Sie bekommen den Stempel von Aussätzigen aufgedrückt. Wie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung eindrucksvoll aufzeigt, ist es gerade dieser Stempel, der einen so fruchtbaren Nährboden für Rechtsextremismus bietet.
An dieser Stelle hört man dann stereotyp: Es können aber nicht alle zu uns kommen, irgendwo muss es eine Grenze geben. Wenn wir an der gegenwärtigen Politik nichts ändern, wird das so kommen. Wenn Kriege im Nahen Osten weiterhin für Großmachtinteressen geführt werden und die Bundesregierung das mit Waffenlieferungen und guten Wirtschaftsbeziehungen zu gewalttätigen und menschenverachtenden Regimen unterstützt, produzieren wir weiter Flüchtlingsströme, von denen der gegenwärtige nur ein leiser Vorgeschmack ist. Wenn sich die bundesdeutsche Politik nicht schleunigst aus der Kohle verabschiedet und eine klimaneutrale Produktionweise ansteuert, produzieren wir noch viel größere Ströme an Klimaflüchtlingen. Und wenn wir daran festhalten, dass die globale Wirtschaftsordnung per Freihandelsabkommen so auszusehen hat, dass sie vorwiegend die Interessen einiger Großkonzerne bedient, produzieren wir Armut und Staaten, die nicht mehr selbständig existieren können.
Wir sind noch lange nicht «an unsere Grenze gestoßen». Noch haben wir ein Zeitfenster, das uns erlaubt, eine Umkehr der Politik zu bewirken. Die Rechten und Konservativen setzen darauf, dass es in einem Meer von Ertrinkenden eine Insel der Seligen geben kann. Und weil eine solche Insel mit Zähnen und Klauen verteidigt werden muss, steuern die Vorschläge de Maizières und seinesgleichen auf einen unerträglichen Sicherheitsdiskurs und letztlich auf eine «Orbanisierung» der Gesellschaft zu, wie es Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung bezeichnete. Militarisierung und Krieg ist das Ende dieser Fahnenstange.
Die Alternative dazu fängt mit einer fundamentalen Umkehr in unserem Denken an: Nicht die Suche nach Vorteilen, sondern die gleichberechtigte und solidarische Kooperation wird uns Auswege eröffnen. Wir haben keine zweite Erde, wir können auch nirgendwohin mehr auswandern, es gibt kein Niemandsland mehr. Wir können nur die Ressourcen, die uns gemeinsam zur Verfügung stehen, weltweit gerecht teilen. Und gemeinsam dafür sorgen, dass es uns allen gut geht.
Die erste Pflicht ist es deshalb, die geforderte Integrationsleistung zu erbringen, und zwar auch dann, wenn andere EU-Länder zunächst nicht mitziehen. Wir haben kein Recht, und es wäre äußerst kurzsichtig, uns hinter den reaktionärsten Regierungen der EU zu verstecken, um bei uns die gesellschaftlichen und humanitären Standards herunterzuschrauben. Wir brauchen einseitige Schritte in Richtung einer offenen, solidarischen Gesellschaft. Einer muss vorangehen, warum nicht Deutschland, das es sich noch am ehesten leisten kann?
Daran, wie wir mit den Flüchtlingen umgehen, entscheidet sich die weitere Entwicklung unserer Gesellschaft. Antifaarbeit ist heute Willkommensarbeit und umgekehrt, schreiben die Initiatoren der großen Anti-Hogesa-Demonstration in Köln, die sich am 25.Oktober wieder einem angekündigten Naziaufmarsch entgegenstellt. Die massenhafte praktische Solidarität mit den Flüchtlingen ist die notwendige Ergänzung zu den Protesten gegen den zunehmenden Druck nach rechts. Sie schafft ein solidarisches gesellschaftliches Klima, und dies noch in den hinterletzten Winkeln des Landes.

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