Rückeroberte Betriebe vernetzen sich europaweit
von Manfred Neugroda
Noch ist er nicht entschieden, doch das Beispiel des Kampfes der Belegschaft um die Rückeroberung ihres Betriebs GKN bei Florenz hat die Gewerkschafts- und Arbeiter:innenbewegung und die Linke in Deutschland und Europa angefeuert. Mit ihm wird die Diskussion um den Kampf gegen Betriebsschließungen über das in Deutschland übliche Niveau von Sozialplan oder Sozialtarif hinausgehoben und auf eine grundlegende Systemtransformation orientiert. Mit dabei bedacht wird auch die Verbindung von Ökonomie und Ökologie.
Der ehemalige Autozulieferer GKN reiht sich in erfolgreiche Betriebsrückeroberungen in Italien, Griechenland, Frankreich und Spanien ein, die schon früher diesen Schritt gewagt und nun exGKN in ihre Vernetzung aufgenommen haben.
Da ist RiMaflow in der Nähe von Mailand. 2013 hatten Kolleg:innen die Hallen besetzt, die alte Produktion konnten sie nicht fortsetzen, die Maschinen waren abtransportiert worden. 22 Arbeiter:innen begannen daraufhin zu experimentieren: Sie reparierten und recycelten Computer und Haushaltsgeräte, eröffneten eine Mensa, organisierten Kulturaktivitäten mit der Nachbarschaft, vernetzten sich mit Biobäuer:innen, produzierten Biosoßen und Biolikör, bauten mit dem Ableger Fuori Mercato ein Vertriebssystem für biologisches Obst und Gemüse um Mailand herum auf.
Ihre Produkte stammen aus dem italienischen Süden von Genossenschaften mit fairer Bezahlung der Helfer:innen. Ende 2018 konnten sie eine Vereinbarung mit der Eigentümerbank Unicredit erzielen, die Abfindungen an die Beschäftigten und den Kauf einer benachbarten Halle beinhaltete. Neben ihrer Produktion bieten sie Werkstätten für andere Handwerker:innen an und geben vielfältigen Kultur- und Politveranstaltungen Raum.
In Géménos bei Marseille arbeitet Scop Ti (Société coopérative ouvrière provençale de thés et infusions) seit 2015 als kollektiv verwaltete Teekooperative. Zuvor hatten die Arbeiter:innen über drei Jahre den Betrieb besetzt und den Abtransport der Maschinen verhindert. Der Eigentümerkonzern Unilever musste damals insgesamt 20 Millionen Euro Entgeltnachzahlungen und gesetzlich vorgeschriebene Entschädigungen an die 132 Arbeiter:innen zahlen – das Gründungskapital für eine Genossenschaft. Ihre Teesorten tragen auf dem Etikett die Zahl 1336 für die Anzahl der Besetzungstage. Eine breite Unterstützung sorgte für entsprechenden Absatz.
Heute sind nach Verrentungen 42 Arbeiter:innen bei Scop-Ti tätig, gemäß Branchentarifvertrag verdienen sie monatlich 1600–1700 Euro netto (zwei Einkommensgruppen), der Direktor bekommt 2000 Euro.
Bei uns besser bekannt ist Vio.Me aus Thessaloniki, über das in der SoZ des öfteren berichtet wurde. Nach zwei Jahren Besetzung haben die Kolleg:innen mit der Produktion diverser ökologischer Reinigungsmittel begonnen, die betreiben sie nun seit über elf Jahren. Die Produkte werden hauptsächlich über solidarische Einrichtungen und auf Märkten in ganz Griechenland vertrieben. Die Belegschaft kämpft noch immer um die Inbesitznahme ihres Standortes; der neue Eigentümer des restlichen Geländes hat sie in eine große Halle zurückgedrängt und ihren Zugang eingeengt.
Als Gegenreaktion und auch angesichts der Bedrohung durch die gegenwärtige, reaktionäre Regierung Mitsotakis wollen die Vio.Me-Kolleg:innen sich stärker mit Lieferanten, Händlern und Abnehmern ihrer Produkte in der Region Thessalien zu einer Superkooperative verbinden. Entsprechende Beratungen darüber laufen seit Juni. Als Ziel definieren sie:
»Das Prinzip der Solidarwirtschaft, d.h. der Zusammenarbeit und praktischen Unterstützung für alle Erzeuger und Arbeitnehmer:innen, Gemeinschaften und Kollektive (Genossenschaften) verwirklichen und partizipative Produktions- und Arbeitsbeziehungen entwickeln, die auf der Solidarität zwischen ihren Mitgliedern und der Achtung der natürlichen Umwelt beruhen, insbesondere für diejenigen, die aktiv an den sozialen Kämpfen teilnehmen.« (Aus der Erklärung zur Superkooperative 2024, www.gskk.org.)
Scop-Ti, RiMaflow und Vio.Me, wie nahezu alle rückeroberten Betriebe, haben angefangen mit der Besetzung als erstem Schritt, sie stellt das Privateigentum an Produktionsmitteln in Frage. Aus dem ehemaligen Privateigentum wird ein kollektives, soziales Eigentum. In allen Betrieben läuft die Entscheidungsfindung über demokratische kollektive Selbstverwaltung mittels Versammlungen. Einkommensunterschiede gibt es kaum, sie sind gering und folgen sozialen Aspekten.
Die Produktion ist häufig ökologisch ausgerichtet. Die Betriebe legen großen Wert auf lokale und regionale Vernetzung mit anderen Bewegungen, mit sozialen und politischen Organisationen und anderen Arbeitskämpfen sowie unterstützenden Initiativen. Bei Vio.Me, RiMaflow und exGKN sind führende Kollegen wie Makis Anagnostou, Gigi Malabarba und Dario Salvetti zudem inspiriert vom »Mutualismus«, der gegenseitigen uneigennützige Unterstützung, angelehnt an Proudhon und Bakunin, aktualisiert durch den Linkspopulismus von C.Mouffe und E.Laclau, in Italien aktuell als »mutualismo soccorso« verbreitet.
Die Euromediterranean ›Workers Economy‹
Zur Vernetzung der rückeroberten Betrieben in Europa, auch zur Beratung und Unterstützung durch Aktivist:innen aus Süd- und Mittelamerika, gab es ein erstes Treffen bei Fralib Anfang 2014.
Zu den europäischen Teilnehmenden gehörten neben dem Gastgeber Scop Ti (früher Fralib) auch Pilpa, eine besetzte Eisfabrik aus Carcassone, OfficineZero und RiMaflow aus Rom und Mailand sowie Vio.Me aus Thessaloniki – letztere brachten sowohl den Umweltaspekt als auch die organisierte äußere Unterstützung mit Mitspracherechten ein. Zahlreiche Aktivist:innen aus Südamerika nahmen teil, darunter Andres Ruggeri, der schon 2013 Vio.Me beraten hatte, zusammen mit dem argentinischen Kollegen Raúl Godoy, ein Arbeiter aus der besetzten Fabrik Zanon.
Das zweite Treffen fand 2016 drei Tage lang in Thessaloniki bei Vio.Me statt. Zur Vorbereitungsgruppe zählten auch Vertreter von RiMaflow, Scop Ti, der Waschmittelfabrik Dita aus Tuzla (Bosnien-Herzegowina), der spanischen anarchistischen Gewerkschaft CGT und der andalusischen Landarbeitergewerkschaft SOC/SAT. Erneut nahmen viele Vertreter:innen aus Lateinamerika teil, ebenso Vertreter:innen von Initiativen aus der Landwirtschaft und von sozialen Zentren aus Südeuropa und der Türkei, sowie Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen.
Ziel war neben dem Kennenlernen der Projekte eine organisierte Vernetzung aller interessierten Betriebe zur gegenseitigen Unterstützung. Dazu brachten Vio.Me und RiMaflow den Vorschlag ein, einen europaweiten Kooperativenfonds zu bilden, mit finanziellen und demokratischen Regeln und politischer Ausrichtung.
Die mit dem Vorschlag verbundene Verbindlichkeit ging über die Beschlussfähigkeit der Teilnehmenden hinaus, er wurde deshalb zur Beratung mit zurück in die lokalen Betriebe genommen und die Beschlussfassung auf die nächste Konferenz verschoben.
Die dritte Konferenz fand im April 2019 bei RiMaflow nahe Mailand statt. Sie brachte Teilnehmer:innen aus Italien, Frankreich, Spanien, Belgien, Kroatien, Griechenland, Ungarn, Kurdistan, Deutschland, Russland, Brasilien und Argentinien zusammen.
Auch diesmal waren Vertreter:innen der rückeroberten Betriebe in der Minderzahl, in der Mehrzahl waren Kooperativen aus Landwirtschaft und Vertrieb, Gewerkschaften, soziale Zentren, Politaktivist:innen und unterstützenden Initiativen. Dadurch stand der Informationsaustausch über diese Projekte im Mittelpunkt. Der Kooperationsfonds für rückeroberte Betriebe wurde zwar besprochen, aber nicht beschlossen. Deswegen werden sich die Betriebe nun in direktem Kontakt vernetzen.
Eine Verabredung für ein viertes Treffen wurde zwar für 2021 in Spanien angestrebt, musste aber wegen Corona verschoben werden. Inzwischen laufen Beratungen über einen Termin noch im Herbst dieses Jahres.
Der Autor ist aktiv im Griechenland-Solidaritätskomitee Köln, www.gskk.org/.
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